Dieter Kersten - Februar 2000    
Editorial    
     
 

Liebe Mitstreiterinnen, liebe Mitstreiter, sehr geehrte Damen und Herren,

es ist mir nicht nur eine Herrzensangelegenheit, das deutsch-russische oder auch das westeuropäisch-russische Verhältnis: eine gute Zusammenarbeit ist eine Frage von Leben und Tod der in Europa lebenden Menschen. Die Wochenzeitschrift FREITAG veröffentlichte am 28. Januar einen Beitrag von Igor F. Maximytschew unter der Überschrift Ätzende Enttäuschung und unter der Unterüberschrift Rot-Grünes ScherbengerichtÑ Das russischdeutsche Verhältnis steht zwei Schritte vor dem Bruch und versah diesen Beitrag mit folgendem Vorwort.: Vor zwei Wochen erschien in der kremlnahen russischen Tageszeitung Nesawisimaja Gazeta ein Artikel mit dem Titel >Joschka FischerÑTotengräber der russisch-deutschen Beziehung< . Der Autor Igor F. MaximytschewÑjahrelang sowjetischer Spitzendiplomat in Bonn, Berlin und ParisÑ begleitete als sowjetischer Gesandter in Ost-Berlin 1990 die ZweiplusVier-Verhandlungen und ist einer der führenden Deutschlandexperten Rußlands. Seine ganz und gar undiplomatische Sicht, die in mehreren deutschen Tageszeitungen auszugsweise zitiert wurde, hat in den außenpolitischen Zirkeln der Berliner Republik für einigen Wirbel und Unmut gesorgt. Der Freitag bat Herrn Maximytschew, seine Thesen im Lichte der Moskauer Gespräche zwischen Präsident Putin und Außenminister Fischer exklusiv für ein deutsches Auditorium zu formulieren.

Herr Maximytschew weist auf die Verplichtungen hin, die Deutschland seit den Verhandlungen über die Deutsche Einheit gegenüber Rußland hat und schreibt u.a. folgendes: Allzu leicht und allzu oft vergißt man in Deutschland, daß es solche Verpflichtungen gibt und daß sie auch heute gültig bleiben. Im >> Moskauer Vertrag über die abschließende Regelung in bezug auf Deutschland vom 12. September 1990 << (Zwei-plus-Vier-Vertrag) heißt es wörtlich (Artikel 2): > Die Regierungen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik bekräftigen ihre Erklärungen, daß vom deutschen Boden nur Frieden ausgehen wird. Nach der Verfassung des vereinten Deutschland sind Handlungen, die geeignet sind und in der Absicht unternommen werden, das friedliche Zusammenleben der Völker zu stören, insbesondere die Führung eines Angriffskrieges vorzubereiten, verfassungswidrig und strafbar. Die Regierungen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik erklären, daß das vereinte Deutschland keine seiner Waffen jemals einsetzen wird, es sei denn in Übereinstimmung mit seiner Verfassung und der Charta der Vereinten Nationen < .

In den Augen von Herrn Maximytschew, aber auch nach meiner Auffassung, hat die deutsche Regierung durch ihre Teilnahme an dem Angriffskrieg auf den Kosovo (Jugoslawien) gegen diesen Paragraphen 2 des für Deutschland so entscheidenden Vertrages verstoßen. Wenn zwei Staaten sich vertragen, aber ein Staat wendet diesem Vertrag ostentativ den Rücken zu, was wird dann der desavouierte Staat machen? In diesem Fall ist es Rußland nicht möglich, wieder nach Deutschland in die neuen Bundesländer einzumarschieren, um seine vorvertraglichen Positionen einzunehmen. Aber Rußland kann mit der ganzen Wucht seiner eigenen Staatlichkeit, was natürlich auch zu kritisieren wäre, sich jedem Rat, sich jeder diplomatischen Hilfe, versagen. Das geht weit über den grausamen Tschetschenien - Krieg hinaus. Rußlands Erfahrungen, daß die deutsche Regierung des Jahres 1999 und danach Verträge nicht einhält, hat weitreichende Folgen für die außenpolitischen Strategie- Entscheidungen der russischen Regierungen, wie sie auch immer heißen mögen. Die Erfahrungen der russischen Regierung mit Uneinsichtigkeit der vertragsbrüchigen Deutschen haben bei dem jüngsten Moskauer Besuch Fischers eine bittere Bestätigung erhalten. Diese schlechten Erfahrungen wirken sich weit über das Atmosphärische auf die Beziehungen zwischen Rußland und Deutschland aus. Das hat mehr Langzeitwirkung, als der kurze außenpolitische Blick von Fischer, Schröder und Co. überhaupt ermitteln können.

Andere Affären, groß in der deutschen Presse, und vielleicht auch anderswo, aufgemacht, verlieren sich fast in diesem fundamentalen Fehler. Ich meine hier auch die Entschädigung der Zwangsarbeiter, die während des 2. Weltkrieges in Deutschland und den besetzten Gebieten für die Deutschen haben arbeiten müssen und keinen oder nur geringen Lohn erhalten haben. Ich verstehe nicht, weshalb die betroffenen deutschen Firmen, die während des 3. Reiches, aber auch nach dem Krieg, tüchtig Kasse gemacht haben, nicht schon früher auf die Idee gekommen sind, daß eine moralische Schuld vorhanden ist, die, mehr oder minder »gerecht«, eingelöst werden muß. Die deutsche Industrie, zusammen mit den großmäuligen Gewerkschaften, hätten spätestens Mitte der 50iger Jahre des vorigen Jahrhunderts eine großzügige Entschädigungsaktion durchführen müssen, mit der Forderung, daß Akten, die angeblich in Washington unter Verschluß waren, zur Verfügung gestellt werden. Aber die Wirtschafts-, Gewerkschafts- und Partei-Führer der damaligen Zeit waren in Mehrzahl zu sehr in die kriminellen Vorgange vor 1945 verstrickt, daß sie fürchten mußten, daß in den öffentlichen Diskussionen sie höchst persönlich in die Mangel genommen werden würden.

1978, also immerhin schon eine Generation nach dem unrühmlichen Abschluß des 3. Reiches sind Lohngelder ausländischer Zwangsarbeiter, die sich auf extra eingerichteten Lohnkonten bei der Hamburger Landesbank befanden, aufgelöst, der Bundesbank überwiesen, und dort als außergewöhnlicher Gewinn ausgewiesen worden. Keiner der damals beteiligten Banker hat ein Unrechtsbewußtsein gehabt, ein Zeichen, daß der moralische Verfall des 20. Jahrhunderts auch in dieser Sache deutlich wirksam war.

Nun ist das Geschrei groß. Ich weiß zwar nicht warum, aber es ist so. Den Großteil der Milliarden, von den Milliarden, die angeblich von der Industrie kommen, zahlt der Bürger (Steuerzahler) von heute, weil die Firmen abschreiben, dadurch ihr Steueraufkommen niedriger ist und der Staat schließlich das Geld beim »kleiner/n Frau/Mann« holen wird, weil er, »der Staat«, ja die ach so emp.ndliche Industrie (und großen Einkommen) nicht schröpfen will. Bis zu einer Milliarde wandert zu den Anwälten, den ebenfalls späten Kriegsgewinnlern, die am Schweiß und Blut der Geknechteten verdienen. Die Desinformationen über die genaue Höhe dieses Betrages ist übrigens sehr groß.

Verantwortlich sind und bleiben im wesentlichen die Parteien, die Oligarchien, die Diktaturen der Bürokratien, die nach 1945 das Sagen gehabt haben. Der Wähler hat aber zumindesten die Parteien gewählt, und wie es sich zeigt, meistens emotional und unüberlegt, und ist ebenso verantwortlich Der Verantwortungslosigkeit aber muß ein Ende gesetzt werden und diesem Ende dient, so hoffe ich es, wieder dieser Kommentar- und Informationsbrief.

Mit freundlichen Grüßen

Dieter Kersten

abgeschlossen 18. Februar 2000

 
     
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