Dieter Kersten - November / Dezember 1995    
Theater: Spier "Der König des Boulevards"
Oper: Mussorgskij "Boris Godunow"
 
     
 

Ist Ihnen Wolfgang Spier ein Begriff? Auüerhalb von Berlin ist er mit Sicherheit den Fernsehzuschauern bekannt. In dem Programmheft, welches ich für teure DM 5,-- erstand, wird er auf Glanzpapier und eingerahmt von vielen Geschäftsanzeigen, mit Kinderbildern, wie es sich gehört, gefeiert. Der Schauspieler und Regisseur ist im September d.J. 75 Jahre alt geworden. Eine Seite des dicken DIN - A - 4 - Programmes ist überschrieben mit Der König des Boulevards. Und das war's nämlich, ich habe mir im Theater am Kurfürstendamm am 6. November 1995 eine Boulevardstück angesehen, ein Lustspiel von Curth Flatow Faust ohne Gretchen. Aber - leider, es war wieder eine Enttäuschung. Sicher, es wurde diesmal nicht geschrien, sondern eher mal genuschelt, so daü ich selbst in der 9. Reihe nicht alles verstanden habe. Es ging in diesem Stück um einen alt gewordenen, sehr eitlen Schauspieler und seinen Problemen sowohl mit dem Älterwerden als auch mit den diversen Verflossenen und darum, daü er schlieülich eine 35 Jahre jüngere Frau heiratet. Das Publikum hat gelacht. Ich auch; aber dennoch bin ich mit diesem Lustspiel nicht sehr glücklich. Das Thema ist sehr flach abgehandelt, mit ein paar Gecks aufgemotzt Die Schauspieler waren alle gut, sie verstehen ihr Handwerk, das Bühnenbild war - mit Blick auf das Lustspiel - viel zu bieder, aber akzeptabel.
Die Premiere des Stückes fand am 21. September 1995 statt. Es ist eine Uraufführung. Gut die Hälfte der Plätze waren besetzt. Einerseits ist das kulturelle Angebot in Berlin sehr umfangreich, andererseits kann dann auch sehr schnell abgestimmt werden: wenn sich die Güte einer Aufführung nicht rumspricht, dann bleibt das Publikum fern. Das Theater am Kurfürstendamm ist ein Privattheater und gehört zu dem kleinen Hamburger/ Berliner Kulturimperium der Familie Wölffer. Die nachfolgenden Sätze entnehme ich dem Büchlein Theater Berlin des Verlages FAB Boulevard: Der Theaterbau entstand 1921-23 nach Plänen von Oskar Kaufmann aus einem 1905 errichteten, ab 1908 als Saaltheater dienenden Gebäude. Dabei versah man die Wände des in seiner Grundstruktur noch heute bestehenden, fast kreisrunden Zuschauerraums mit eingeschnittenen Logen. Nach mehreren Umbauten in den 20er und 30er Jahren sowie der Beseitigung der im II. Weltkrieg entstandenen Schäden erfolgte seine vereinfachte Wiederherstellung. Im Verlauf der Errichtung des Kudamm-Karrees 1969-74 wurde der gesamte Theaterkomplex in ein modernes Hochhaus integriert. In den 20er Jahren war das Theater übrigens, wie so viele in Berlin, eine erfolgreiche Reinhardt-Bühne.

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Ich hatte die Idee für reizvoll gehalten, die russischen Gäste, die wir in Berlin zu betreuen hatten, zu einem Opernbesuch einzuladen und zwar zu BORIS GODUNOW von MODEST MUSSORGSKIJ, ohne recht zu wissen, um was es in dieser Oper eigentlich geht. Es geht um einen russischen Zaren aus dem 16. Jahrhundert, um Schuld und Sühne, Reformen, politische Versprechungen, die Macht der Kirche - aber vielleicht sollte ich zuerst und vor allen Dingen aus dem Programmheft der Deutschen Oper Berlin zitieren. Das Zitat stammt aus einem Beitrag von Sergej A. Romaschko, der die Überschrift trägt Eine Volksoper und ihr Volk und die Unterüberschrift Mussorgskijs Boris Godunow in der kulturhistorischen Perspektive::
Die historische Gestalt des Boris Godunow, wie sie in der russischen Kultur des vorigen Jahrhunderts lebendig wird, ist offensichtlich mehr dem Mythos als den historischen Tatsachen zuzuordnen. Dennoch sind diese mythischen Gestalten auch Realität, aber in einem anderen als dem üblichen Sinn: sie geben der russischen Mentalität (die berühmte >>russische Seele<<) wieder. Deshalb sind sie trotz ihres mythischen Anscheins integrale Bestandteile der russischen Geschichte. - Nur wenn man dieses komplizierte Verhältnis berücksichtigt, kann man begreifen, warum Boris Godunow und nicht etwa Iwan IV. (>>der Schreckliche<<) zu einem exemplarischen Bösewicht auf der russischen Bühne geworden ist. Erst dann bekommt man >>Verständnis<< für die in jeder Epoche wiederkehrende Zwickmühle der russischen Reformpolitiker, die in der Einsicht der absoluten Notwendigkeit der Reformen bei einer gleichzeitigen Unmöglichkeit der praktischen Durchführung dieser Reformen besteht. - Vom Westen aus gesehen, ist Ruüland ein Land der verschwommenen, ambivalenten und gespaltenen Werte und Begriffe. Die russische Tradition kennt z.B. kein stark ausgeprägtes Rechtsbewuütsein: einen Russen interessiert meistens nicht die Rechtmäüigkeit, sonder die Gerechtigkeit. Deshalb kümmert auch kaum jemanden im Drama und in der Oper Boris Gudonow, daü Boris kein dynastischer Thronnachfolger ist (der Form nach war Zarewitsch Dimitrij auch kein sicherer Nachfolger). Moralisch ebenso stark untermauert ist der russische Begriff der Wahrheit = prawda, der nicht die logische Adäquatheit (dazu gibt es ein anderes Wort, istina), sondern die menschliche Wahrheit, die Wahrhaftigkeit bezeichnet, und die wiederum fast mit dem Begriff der Gerechtigkeit identisch ist. - Man strebt zwar die Freiheit an, aber auch dieser Begriff ist im russischen Bewuütsein seltsamerweise zwiespältig. Der Ruf nach Freiheit enthält nicht die Forderung nach einem demokratischen Rechtsstaat, sondern etwas anderem: nach volja (= Wille, Absicht, Unabhängigkeit, Streben), eine eher negative Gröüe, weil man sie nur durch die Abwesenheit aller möglichen Schranken und Begrenzungen definieren kann. Wie schauderhaft - beklemmend dieser volja - Zustand sein kann, führt uns die letzte Szene der Oper plastisch vor. Kljutschewskij bemerkt in diesem Zusammenhang, daü die Moskowiten traditionsgemäü ihren eigenen Staat als etwas Fremdes, Äuüeres, als etwas, was ihnen gar nicht gehörte, was kein Teil ihrer eigenen Existenz bildete, betrachteten. Deshalb will man keine Mitverantwortung tragen und neigt zu eskapistischen Lösungen (so entstand aus flüchtigen Bauern das Kosakentum).

Wie sehr Kultur Politik ist, oder auch umgekehrt, daü ist aus diesem Beitrags - Ausschnitt zu erkennen. Ich sah und hörte Boris Godunow am Sonntag, den 1. Oktober 1995. Es wurde die Originalfassung in russischer Sprache gespielt und gesungen. Der Text der Oper geht auf eine Dichtung des groüen russischen Dichter Puschkin und auf Texte des ebenfalls bedeutenden russischen Historikers Karamsin zurück, wobei der Komponist Modest Mussorgskij eigene Texte hinzugefügt hat. Es war die 4. Aufführung seit der Premiere am 16. September 1995 in Berlin - Charlottenburg und es ist insofern eine Premiere besonderer Art, als Mussorgskijs Oper das erste Mal in Deutschland in der Originalfassung aufgeführt worden ist. Ich gebe zu, daü dazu die historischen Angaben im Programmheft etwas ungenau sind. Bisher war es üblich, so habe ich es verstanden, Boris Godunow in der von Rimskij - Korssakow überarbeiteten Fassung aufzuführen. Das ist, so wird es bezeichnet, eine geglättete Fassung, in der das Stück von angeblichen Dissonanzen gereinigt wurde und die Gesangspartien gefälliger gemacht worden sind. Da ich diese Fassung nicht kenne, fehlt mir jeder Vergleich. Die Musik erschien mir sehr modern und es ist mir aufgefallen, wie sehr sich Text (Inhalt) und Musik gegenseitig tragen. Sehr hilfreich war es, daü deutsche Übertitel oberhalb des Bühnenraumes groüe Teile des Textes wiedergaben. Alle Stimmen waren vorzüglich. Die muskalische Leitung hatte Rafael Frühbeck de Burgos. Die Inszenierung besorgte der Intendant Götz Friedrich. An das Bühnenbild muüte ich mich erst gewöhnen und nachherein lobe ich es. Was ich nicht gut finde, ist die Manie heutiger Theaterleute, die Handlung durch Versatzstücke in die Gegenwart aufzupeppen. So trägt die Streifenwache Rotarmistenuniformen, wohl um den dummen Opernbesucher auf die Aktualität des Themas hinzuweisen.
Wir hatten zwei russische Partner unserer Energieforschung eingeladen. Der eine Partner verlieü sehr empört in der Pause die Oper mit dem Bemerken und mit dem Hinweis auf die Rotarmisten, das wäre kein Boris Godunow, sondern ein Boris Jelzin. Er hielte das nicht aus. Mehr war nicht herauszubekommen, was vermutlich auch ein sprachliches Problem war. Der andere Partner blieb und äuüerte sich nicht weiter - was vielleicht auch eine Äuüerung ist.
Soweit ich es verstanden habe, ist Boris Godunow durchaus eine nationale russische Oper. Sie gehört zum russischen Kulturgut. Sie macht einen Deutschen nicht zum Ruülandkenner, aber vielleicht macht sie manches an Ruüland und dem russischen Menschen verständlicher.
Modest Petrowitsch Mussorgskij wurde am 9. März 1839 in Karewo geboren und starb am 16. März 1881 in St. Petersburg. Über ihn steht in der Brockhaus - Enzyklopädie von 1961: Seine Eltern gehörten dem Landadel an. Er war 1856-58 Gardeoffizier und widmete sich dann in St. Petersburg unter Anleitung von M. Balakirew ganz der Musik. Nach Aufhebung der Leibeigenschaft der Bauern (1861) seines Vermögens beraubt, nahm er 1863 eine untergeordnete Beamtenstellung an. Daneben trat er als Konzertpianist auf. Nach seinem Ausscheiden aus dem Beamtendienst (1880) geriet er bald in ärgste Not und starb völlig verarmt in einem Militärhospital.

 
     
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