Dieter Kersten - November / Dezember 2006    
 

Theater: "Kurt-Tucholsky-Kabarett"

 
     
 

Das wiedervereinigte Berlin ist reich an privaten kulturellen Initiativen, teils steuerzahler-bezuschußt, teils auf eigenen finanziellen Beinen stehend.  Eine dieser Initiativen ist das JÜDISCHE THEATER BIMAH e.V.

Das Wort Bimah ist ein hebräisches Wort und heißt u.a. Bühne („Vor“-Bühne). Das Berliner Theater befindet sich in dem Teil Berlins, welches von unserem unsagbar klugen Bundesinnenminister Schäuble als „der Slum von Berlin“ bezeichnet wurde; Sie können sich vielleicht erinnern, daß dieser „hochkarätige“ Politiker sich im März 2006 in Zusammenhang mit der Affäre um die Rütli-Schule in Berlin-Neukölln entsprechend äußerte.

Ja, Bimah befindet sich in diesem Berlin- Neukölln (ehemals Berlin-West), Jonasstraße 22. Die Jonasstraße verbindet die Karl-Marx-Straße mit der Hermannstraße.Sie ist eine Berliner Wohnstraße mit Häusern, teilweise mit Hinterhöfen, aus dem 19. und 20. Jahrhundert. Die vielen leerstehenden  Ladengeschäfte erzählen von der Arbeit und dem Wohnen, was sich einstmals eng beieinander befand. Das Autozeitalter und die Globalisierung habe den sprichwörtlichen Gewerbefleiß der Berliner verdrängt.

Die Jonasstraße befindet sich in der Einflugschneise für die Flugzeuge, die auf dem Flughafen Tempelhof landen. Mir wurde gesagt, daß der Kiez die billigste Wohngegend Berlins ist.

Ich stand  eine Weile Ecke Hermannstraße und beobachtete das Publikum. Es ist eine Mulitkulti-Gesellschaft, die hier wohnt.

Bimah befindet sich auf dem Hinterhof eines Hauses, welches dem bekannten Operettenkomponisten Will Meisel (*17. September 1897; †29. April 1967) gehörte, Sohn eines Ballettmeisters und Tanzschullehrers. Der Saal, den jetzt Bimah nutzt, war die Tanzschule der Familie Meisel.

Ich sah und hörte am 20. September die Collage Kurt-Tucholsky-Kabarett, eine Ein-Mann-Veranstaltung (Manfred Kloss) mit Klavierspielerin (keine Namensangabe).  Manfred Kloss ist ein sehr sympathisch wirkender Schauspieler, der, vermutlich angesichts der beiden Schulklassen, die im Saal anwesend waren, das Publikum zu Fragen ermutigte. Das nahm ein Schüler in Anspruch, der nach Veronal fragte, ein Schlafmittel, welches Tucholsky bei seinem Selbstmord 1935 in Schweden verwendete.

Es war kein Kabarett, welches geboten wurde, sondern eine gefällige, etwas trockene Lebensgeschichte Kurt Tucholskys (*9. Januar 1890 in Berlin; †21. Dezember 1935), verbunden durch einige seiner Couplets, Gedichte und Prosatexte und etwas Zeitkolorit der Weimarer Republik.

Es fehlte leider eine (kritisch-?) kabarettistische Auseinandersetzung zwischen dem Zeitgeist der Weimarer und der Berliner Republik. Für die anwesenden Schülerinnen und Schüler war das dargebotene Kurt-Tucholsky-Kabarett sicher eine gute Ergänzung des Schulunterrichtes, sollten sie gerade Kurt Tucholsky und die Weimarer Republik auf dem Lehrplan haben. Was die Darbietungen dem normalen Theaterpublikum an Einsichten gab, weiß ich nicht. Hingelockt durch das Wort Kabarett, hatten einige sicher etwas anderes erwartet (ich auch).

Tucholsky zählte zu den bedeutendsten Publizisten der Weimarer Republik. Als politisch engagierter Journalist und zeitweiliger Mitherausgeber der Wochenzeitschrift Die Weltbühne erwies er sich als Gesellschaftskritiker in der Tradition Heinrich Heines. Zugleich war er Satiriker, Kabarettautor, Liedtexter und Dichter. Er verstand sich selbst als linker Demokrat, Pazifist und Antimilitarist und warnte vor antidemokratischen Tendenzen – vor allem in Politik, Militär und Justiz – und vor der Bedrohung durch den Nationalsozialismus. Insofern könnte  er in unsere Zeit passen.

Ich habe aber trotzdem das Gefühl, daß allerhand Geschichtskenntnisse notwendig sind, um seine Texte zu verstehen.

Das Theater war dank der beiden Schulklassen gut besucht. In der Pause verließen einige Gäste den Saal.

Einen Tag später, am 21. September, hielt Bundespräsident Horst Köhler in der Neuköllner Kepler-Oberschule seine Berliner Rede.

Sie begann ohne Schnörkel mit den Worten: > Im vergangenen Jahr erreichten in Deutschland 80.000 Jungen und Mädchen keinen Schulabschluss. Es fehlen Ausbildungsplätze - in diesem Herbst wahrscheinlich 30.000. Klingt Ihnen das zu abstrakt? Dann nehmen Sie das Beispiel dieser Schule, der Kepler-Oberschule in Berlin-Neukölln: Am 4. Juli haben hier 51 Schüler ihr Abschlußzeugnis bekommen. Nur einer von ihnen - ich wiederhole: EINER - hatte zu diesem Zeitpunkt eine Lehrstelle gefunden. Weiter: In Deutschland erwerben vergleichsweise wenig junge Menschen die Hochschulreife, und zu wenige schließen ein Studium ab. Andere Nationen wandeln sich mit Begeisterung zu Wissensgesellschaften, in denen Lernen und Können als Auszeichnung gelten - Deutschland tut sich schwer damit. Wir hören von Schulen, in denen Gleichgültigkeit, Disziplinlosigkeit, ja Gewalt den Alltag bestimmen. Auch dadurch verliert unser Land intellektuell und sozial jedes Jahr einen Teil seiner jungen Generation. Und: Ein Kind aus einer Facharbeiterfamilie hat im Vergleich zu dem Kind eines Akademikerpaares nur ein Viertel der Chancen, aufs Gymnasium zu kommen. Die Ursachen dafür mögen vielschichtig sein; der Befund ist beschämend. Bildungschancen sind Lebenschancen. Sie dürfen nicht von der Herkunft abhängen. Darum werde ich immer auf der Seite derer sein, die leidenschaftlich eintreten für eine Gesellschaft, die offen und durchlässig ist und dem Ziel gerecht wird: Bildung für alle. <

Sie können den kompletten Text der Rede auf der Webseite des Bundespräsidenten lesen. Ich kopiere den Text gerne für Leser, die keinen Internetanschluß haben. Natürlich für Sie kostenlos.

Bildung ist nicht nur eine Sache der Jugend, sondern im gleichen Maße auch Sache der Erwachsenen. Wenn mir ein Vater erklärt, daß er sich hauptsächlich über sein Einkommen definiert und gleichzeitig (aus Zeitmangel???) Weiterbildung (und sei es „nur“ durch das Lesen) ignoriert, darf ich mich nicht wundern, wenn sein Kind ins soziale Abseits gerät. > Dieser Weg (der Bildung) steht allen offen - dem Hauptschüler genauso wie dem Abiturienten, dem Jugendlichen genauso wie dem Rentner. Jeder kann etwas, und jeder braucht die Chance, sich durch Bildung weiter zu entwickeln und mehr aus dem eigenen Leben zu machen. Bildung bedeutet nicht nur Wissen und Qualifikation, sondern auch Orientierung und Urteilskraft. Bildung gibt uns einen inneren Kompass. Sie befähigt uns, zwischen Wichtig und Unwichtig und zwischen Gut und Böse zu unterscheiden. <

> Gute Bildung stellt den ganzen Menschen in den Mittelpunkt < heißt es in der Berliner Rede des Bundespräsidenten. Wenn alle seine Parteifreunde von der CDU/CSU, diejenigen voran, die die Richtlinien der Politik bestimmten bzw. bestimmen, nur Teile seiner Berliner Rede in die Praxis umgesetzt hätten bzw. umsetzen würden, hätten wir eine solide kulturelle Grundlage für unsere gesellschaftspolitische Entwicklung. Die CDU/CSU hat die bildungspolitischen Verwerfungen der BRD-alt sehr stark mit zu verantworten. Seine Partei hat alle Warnungen und Kritiken der vergangenen Jahrzehnte „in den Wind geschlagen“ und hat, nur als Beispiel, lieber Geld für die Rüstung als für die Bildung ausgegeben.

Wenn ich den Bundespräsidenten Horst Köhler ganz ernst nehme, und warum sollte ich nicht, dann erwarte ich, daß er es nicht bei dieser Meinungsäußerung beläßt. Er darf die bildungspolitische  Bankrotterklärung der Bundesrepublik Deutschland, ihrer politischen Parteien, der Bürokratie und der Wirtschaft nicht hinnehmen. Er sollte den Rest seiner Amtszeit Initiativen zur Verfügung stellen,  die Bildungspolitik an die erste Stelle gesellschaftlichen Tuns setzen.

 
     
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