Dieter Kersten - September 1998    
Reisebeschreibung  
     
  Drei unternehmungslustige junge Leute haben sich am 6. August d.J. aufgemacht, um ein Stück der Heimat zu erkunden. Diese drei jungen Leute waren Nils, 10 Jahre jung, Jan. 26 Jahre jung und Dieter, 59 Jahre jung, eine fröhliche, ausgeglichene Truppe, auch wenn es dem Ältesten an diesem Tag nicht gerade sehr gut ging. Aber solche Probleme werden durch Disziplin behoben, was ja auch ein preußisch - brandenburgischer Begriff ist, heutzutage ungern gehört und rechts geortet, aber dennoch unverzichtbar. Wenn nun jemand meint, der Jüngste hätte den Ton angegeben, so muß ich verneinen. Er war der Anlaß, just an diesem Tag nach Niederfinow zum Schiffshebewerk zu fahren. Der Älteste war schon zweimal dagewesen und hatte Technik und Natur genossen. Der Mittlere und der Jüngste waren absolute Greenhorns.
Die Fahrt ging mit dem Auto quer durch das groß gewordene Berlin, über Bernau und Eberswalde bis zu unserem ersten Ziel. Im Internet wird das Schiffshebe- werk folgendermaßen beschrieben: Technikbegeisterte werden ihre Freude am Schiffshebewerk Niederfinow haben. 94 m lang, 27 m breit, 60 m hoch, 14.000 t Stahl und 72.000 m3 Beton wurden beim Bau benötigt; soweit die nüchternen technischen Daten. Doch trotz seiner gewaltigen Größe, seiner imposanten Technik, Stahl und Wasser, fügt sich das Hebewerk beinahe harmonisch in das Urstromland zwischen Oderbruch und Barnim ein. Der erste Kanal, der die Havel mit der Oder verband, war der bereits 1620 fertiggestellte Finowkanal. Der Kanal, durch den Dreißigjährigen Krieg zerstört, geriet bald darauf in Vergessenheit. Erst Friedrich der Große ließ 1743 den Kanal erneuern und wieder eröffnen. Mit 2.720.767 t Güterdurchgang erreichte der Kanal 1906 schließlich seine Kapazitätsgrenze. Kaiser Wilhelm II. verfügte einen neuen zweiten Kanal, den Oder-Havel-Kanal zu bauen. Die Tragfähigkeit der Schiffe konnte nicht nur von 170 t auf 600 t gesteigert werden, sondern auch die Schleusenanzahl wurde von 17 auf nur noch fünf Schleusen verringert, nämlich die Schleuse Lehnitz sowie die 4 Schleusen der Schleusentreppe Niederfinow. Zwischen 1927 und 1934 wurde dann, mit der damaligen Rekordsumme von 27,5 Mio. Reichsmark, die Schleusentreppe durch das Schiffshebewerk ersetzt. Die gesamte Schleusung dauert nunmehr nur noch 20 Minuten, wobei eine Höhe von 36 m überwunden wird. Besucher können auf dem oberen Aussichtsbalkon das Heben und Senken der Schiffe genau mitverfolgen. Die Binnenschiffe fahren in den gut 4300 t schweren Hebetrog hinein, und werden dann, nachdem die Tore geschlossen sind, in gut 5 Minuten nach oben gehoben bzw. nach unten gesenkt. Nach Öffnen der Schleusentore kann dann das Schiff seine Fahrt wieder aufnehmen. Der Trog ist über 256 Stahlseilen mit einem gleich großem Gegengewicht verbunden. 4 Elektromotoren von je 55 kW heben und senken den Trog über Ritzel- und Zahnstockleiter. Das Schiffshebewerk ist täglich von 9 bis 17 Uhr geöffnet. Am Eingang ist eine sehr gute Broschüre erhältlich, die alle technischen Detailfragen klärt (2,- DM). Für die nähere Zukunft ist ein ständiges Informationszentrum geplant, das die Besucher über Geschichte des Hebewerks und die Technik aufklären soll.
"Wie viel Nieten wurden bei dem Bau verwendet" - ich konnte die Frage von Nils nicht beantworten. Ich konnte ihm nur sagen, daß der Beruf des Eisennieters in Deutschland ausgestorben ist. Was mir auffiel, war, daß an diesem Wochentag, während unserer gut zweistündigen Anwesenheit, nicht ein einziges Frachtschiff das Schiffshebewerk passierte. In dieser Zeit donnerten zehntausende, wenn nicht hunderttausende von Tonnen per Lkws über die Autobahnen und Landstraßen, zerstörten, töteten und beschädigten. Das ist die Politik (fast) aller in den Parlamenten vertretenen Parteien. Wie lange dauert dieser Irrsinn noch?
Natürlich - wir drei Reisenden sind auch mit dem PKW gefahren und haben damit die Umwelt nicht ganz ungeschoren gelassen. Was ich eigentlich hätte wissen müssen, das ist die Tatsache, daß Niederfinow etwa 80 km von Berlin (Mitte) entfernt ist. Wir sind an diesem Tag alles in allem etwa 25O km gefahren, weil wir uns noch mehr als das Schiffshebewerk angesehen haben. Besser ist es, eine Nacht in der landschaftlich so schönen Gegend zu bleiben. Auch dann, wenn Sie das "öffentliche" Fahrangebot aus dem Internet annehmen sollten - von Berlin-Lichtenberg mit dem RE 3 nach Eberswalde Hbf., von dort mit der RB 60 nach Niederfinow - werden Sie sich abhetzen.
Die Gegend, mit Laub und Fichtenwäldern überzogen, hügelig, daß sogar die Straßen in Serpentinen gebaut worden sind, heißt der Barnim. Fachleute unterscheiden noch den Neubarnim und den Altbarnim, auch von Niederbarnim habe ich schon gehört, aber ich will mich mit solchen Details nicht aufhalten. Der Barnim ist 1230 von den Markgrafen Johann I. und Otto III. von Herzog Barnim I. von Pommern-Stettin erworben worden. und gehörte seitdem ununterbrochen zu Brandenburg. Nils fand die Landschaft romantisch.
Das Schiffshebewerk war der Hit des Tages. Trotz fehlender Frachtschiffe: die Betreiber wissen, was sie Touristen schuldig sind; der Trog wurde zweimal gesenkt und gehoben, mit einem dafür extra menschen - gefüllten Ausflüglerschiff. Nils kam also auf seine Kosten. Seine künstlerischen Bemühungen, das Hebewerk zu zeichnen, scheiterten an dem heftigen Wind und den für solche Witterung unzureichenden Zeichenutensilien. Es muß eben immer noch viel gelernt werden.
Sonst war das Wetter sehr schön. Wir fuhren, nachdem wir Mittag gegessen hatten, über Liepe und Oderberg zum Parsteiner See. Bevor die Mönche das Kloster Chorin 1272 gründeten (über dieses Kloster berichtete ich bereits früher im Kleinen Kulturspiegel) gründeten sie im Jahre 1258 das Kloster Mariensee auf der "Ziegeninsel" im Parsteiner See. Mit der Information versehen, daß dort Reste des Klosters zu sehen sind, waren wir schließlich enttäuscht, insbesondere unser Jüngster, der sich ein besonderes Abenteuer vorgestellt hatte. Wir fanden nur spärliche Mauerreste vor. Keine Geheimgänge oder phantasieanregende Ruinen. Kostenlosen Zugang bekamen wir durch eine freundliche Dame in der Rezeption eines umfangreichen und sauberen Campingplatzes, der die "Ziegeninsel" bedeckt. Der Parsteiner See soll einer der saubersten Seen der Umgebung sein. Dicht dabei ist das "Ökodorf Brodowin". Auf der ganzen Fahrt begegneten wir Hinweisen auf ökologische Landwirtschaft. Demeter-Erzeugnisse aus Brodowin werden in Berlin angeboten. Die Regionalisierung unserer Ernährung durch ökologischen Anbau ist eine große Chance für unsere Wirtschaft und Kultur.
Unsere Reise war noch nicht zuende. Informationen zufolge, die Jan hatte, gab es in der Nähe Reste eines alten Eisenwerkes, das Karlswerk heißt und welches zur Zeit Friedrich des Großen errichtet wurde und Kanonen und Munition produzierte. Zwischen Niederfinow und Hohenfinow fanden wir schließlich das Hinweisschild Karlswerk, ganz offensichtlich keine selbständige Gemeinde, sondern, wie Hohenfinow, zu Eberswalde gehörig. Es begann eine kleine, abenteuerliche Fahrt auf einer Betonplattenpiste, die wir als Kinder als Panzerstraße bezeichnet hätten (die aber für einen Panzer fast zu schmal wäre), in ein (auch fast) romantisches Tal mit einer zum Teil alten Bebauung aus den letzten zwei Jahrhunderten Es waren da und dort Reste von früherer gewerblicher Tätigkeit zu sehen. Wenn nicht gelegentlich ein Mittelklasseauto der Jetztzeit vor einem der Häuser gestanden hätte, wäre das Gefühl sehr groß gewesen, Jahrzehnte zurückversetzt zu sein. Wir fragten einen alten Mann am Ausgang des Ortsteiles nach dem historischen Karlswerk, aber, obwohl der versicherte, er wäre hier geboren, er wußte von nichts. Wir fuhren ein Stück zurück, stiegen aus, erkundeten das Gelände. Das Tal muß einstmals durch einen starken Bach durchflossen gewesen sein. Über einen maroden Holzsteg sahen wir in einen Wald, der von alten Wegen durchzogen ist. Wir sahen auf ein zugewachsenen Talbereich und waren der Auffassung, wenn überhaupt, dann war das der Platz des historischen Eisenwerkes, wenn auch nichts, gar nichts, zu sehen war. Wir fuhren zurück; an einem Hinweisschild Mühle machten wir halt; kein Mensch zum Fragen, nichts Besonderes zum Sehen. Weiter. Wir waren fast wieder auf der Hauptstraße, da begegnete uns wieder ein alter Mann: ja, als Kind war er mal an diesem Karlswerk, ja, er könnte sich erinnern. Er machte sogar eine ziemlich klare Standortangabe, die mit unserer Idee gut übereinstimmte. In den Baracken des alten Eisenwerkes, so berichtete uns der Mann, wurden früher die polnischen Schnitter untergebracht. Jan und Nils fragten mich, was Schnitter sind: polnische Saisonarbeiter in der Landwirtschaft. Also, noch einmal zurück, noch einmal eine Geländeinspektion, so gut es ging und soweit es unsere (vielleicht übertriebene) Vorsicht zuließ. Das Eisenwerk war selbst in spärlichen Resten nicht mehr vorhanden. Wieder enttäuscht liefen wir weiter, bei unserer ersten Auskunftsperson vorbei, die inzwischen reichlich Bier genossen hatte, dem anderen Ortsausgang zu. Auf einem Grundstück arbeitete eine alte Frau, die wir noch einmal fragten; sie holte ihren Mann, der sich als eine interessante und sehr freundliche Auskunftsquelle erwies. Die Reste des alten Karlswerkes sind im Laufe der Jahrzehnte von den Einheimischen demontiert und in ihren Häusern verbaut worden. Wir hatten die Lage richtig bestimmt. Die alten Tonkartuschen, die Gießformen für die Geschosse, die noch lange zu Hunderten herumgelegen haben. wurden sehr oft in Gartenmauern verarbeitetet (wir sahen keine). Noch in den fünfziger Jahren gab es zwei große Karpfenteiche im Tal, die von einem Bach gespeist wurden und deren Wehren geöffnet wurden, wenn die Wassermühle am unteren Ausgang des Tales Wasser zum Mahlen brauchte. Die Teiche waren aber irgendwann geborsten und seitdem wäre auch die Mühle nicht mehr in Betrieb. Der Wald, der mit alten Wegen durchzogen ist, gehört zum Schloßpark. Was für ein Schloßpark? Ja, hier hat des Schloß des Reichskanzlers von Bethmann Hollweg gestanden, welches von den Russen so schlecht behandelt wurde, daß es später abgerissen wurde. Zuhause sah ich im Lexikon nach: Theobald von Bethmann Hollweg, geb. am 29. November 1856 in Hohenfinow, gestorben ebenda am 2. Januar 1921, wurde am 14. Juli 1909 Reichskanzler und preußischer Ministerpräsident und am 13. Juli 1917 "gestürzt". Bethmann Hollweg gehört nicht zu den deutschen Politikern, die sich sowohl in den Augen vieler seiner Zeitgenossen als auch rückblickend mit besonderen Ruhm bekleckert haben. In meinen Augen gehörte er zu denjenigen, die treu und brav die Vorgaben des Großkapitals erfüllt haben und somit den Blutzoll des 1. Weltkrieges und den rasanten Fortgang der kulturellen Zerstörung Ost- und Mitteleuropas auf dem Gewissen haben. Tatsache ist aber auch, daß solche Leute und Familien maßgeblich daran beteiligt waren, solche herrlichen Gegenden wie den Barnim zu einer Kulturlandschaft zu machen, deren nachhaltige Zerstörung noch nicht einmal dem Nationalsozialismus und dem realen Sozialismus marxistisch-leninistischer Prägung gelang. Heute müssen wir mühsam die Wurzeln unseres Herkommens freilegen und die zarten Pflänzchen einer neuen kulturellen Entwicklung pflegen und uns stärker als alle Generationen vor uns gegen einen internationale Gleichmacherei wehren, die nun Globalisierung heißt.
 
     
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