Dieter Kersten - März / April 2005    
Wild Bill Cody  
     
 

Rein äußerlich, man kann es auch "formal" nennen, scheint sich in Israel/ Palästina etwas in Richtung Frieden zu bewegen. Zumindestens haben sich Israels Ministerpräsident Sharon und der neue Palästinenser-Präsident Mahmud Abbas die Hand gegeben. Zur Zeit scheint es keine "Strafaktionen" der Israelis gegen die Palästinenser zu geben und keine Selbstmordattentate der Palästinenser in Israel. Daß ich auf eine weitergehende Entwicklung zum Frieden hoffe und gleichzeitig fürchte, daß die Flamme des Krieges wieder auflodert, das können Sie sich sicher vorstellen. Unmittelbar, vor Ort, sind so viele Probleme ungeklärt: die Flüchtlingsfrage, die Sperrmauer, Jerusalem als Hauptstadt beider Staaten, die Nutzung des Grundwassers und des See Genezareth und vieles andere mehr. Auch soll es noch 6000-10000 palästinensische Gefangene in israelischen Gefängnissen geben, die, wenn Frieden erreicht werden soll, ohne Wenn und Aber freigelassen werden müssen. Ich wundere mich, daß es den Rote-Kreuz-Gesellschaften nicht möglich ist, die genaue Zahl zu ermitteln.

Während ich den Beitrag überarbeite, am 26. Februar, hat wieder ein Selbstmordattentäter in Tel Aviv zugeschlagen. Es soll ein 21jähriger Student gewesen sein. Was treibt einen so jungen Menschen in den Tod? Es entzieht sich meiner Vorstellungskraft, daß das islamische Paradies eine solche Anziehungskraftt hat.

Für die us-amerikanische Regierung schien die syrische Täterschaft an dem Attentat auf den libanesischen Politiker Rafik Hariri unmittelbar danach sofort festzustehen! In Rundfunkkommentaren wurde eine gewisse Verwunderung darüber geäußert, daß der offensichtlich sehr effektive libanesische Geheimdienst von diesem Attentat im Vorfeld keine Kenntnis genommen haben soll. Syrien ist einer der Hauptfeinde Israels. Mal abgesehen von den von Israel annektierten Golanhöhen, die ja bereits fest in den israelischen Staat integriert sind, gibt es israelischen (biblischen) Anspruch auf Teile Syriens. Außerdem kann ich mir vorstellen, daß die meisten Israeli die Palästinenser lieber in Syrien sehen würden als in der angestammten palästinensischen Heimat. Gehört deshalb Syrien zum Reich des Bösen, weil es versucht, seine nationale, staatliche Identität zu bewahren?

Es gibt also mehr als einen Stolperstein im Nahen Osten. Ein Stolperstein ist der weit verbreitete Haß. Er geht sowohl von den israelischen als auch von der muslimischen Gesellschaft aus..Als Mitte Februar die 500 Gefangenen von der israelischen Regierung freigelassen wurden, demonstrierten Israeli gegen diese notwendige Maßnahme. Ein israelischer Vater verkündete freimütig seinen Haß auf die Palästinenser, weil seine Tochter von ihnen getötet worden ist. Haß ist ja die aktivere Form von nicht verzeihen können und nicht vergessen wollen.

Leser Franz Vogler hat mir einen Ausschnitt (Seite 90 bis 92) aus einem Buch zugeschickt, der mich sehr beeindruckt hat. Das Buch heißt Rückkehr von Morgen, Verfasser Dr. med. George Ritchie & Elizabeth Sherrill.

Das Thema betrifft die Shoa bzw. den Holocaust. Die Generationen nach dem Holocaust haben ein Recht auf Liebe; sie haben keinen Haß verdient.
Ich biete das Taschenbuch in der Bestell-Liste an.

Es folgt jetzt der angekündigte Text aus diesem Buch: >> Ich gehörte zu einer Gruppe, die in ein Konzentrationslager in der Nähe von Wuppertal abgeordnet wurde und hatte den Auftrag, medizinische Hilfe für die erst kürzlich befreiten Gefangenen zu bringen, von denen viele Juden aus Holland, Frankreich und dem östlichen Europa waren. Dieses war die erschütterndste Erfahrung, die ich je gemacht hatte; bis dahin war ich viele Male dem plötzlichen Tod und Verwundung ausgesetzt gewesen, aber die Wirkung eines langsamen Hungertodes zu sehen, durch jene Baracken zu gehen, wo Tausende von Menschen Stückchen für Stückchen über mehrere Jahre gestorben waren, all das war eine neue Art von Horror. Für viele war es ein unwiderruflicher Prozeß. Wir verloren Dutzende täglich, obwohl wir sie schnellstens mit Medizin und Nahrung versorgten.

Jetzt brauchte ich meine neue Erkenntnis, in der Tat. Wenn es so schlimm wurde, daß ich nicht mehr handeln konnte, tat ich das, was ich gelernt hatte zu tun. Ich ging von einem Ende zum anderen in dem Stacheldrahtverhau und schaute in die Gesichter der Menschen, bis ich feststellte, daß das Gesicht Christi mich anblickte.

Und so lernte ich Wild Bill Cody kennen. Das war nicht sein eigentlicher Name. Sein wirklicher Name hatte sieben unaussprechliche polnische Silben, aber er hatte einen lang herunterhängenden Lenkstangenbart, wie man ihn auf Bildern der alten Westernhelden sah, so daß die amerikanischen Soldaten ihn Wild Bill nannten. Er war einer der Insassen des Konzentrationslagers, aber offensichtlich war er nicht lange dort gewesen: seine Gestalt war aufrecht, seine Augen hell, seine Energie unermüdlich. Da er sowohl Englisch, Französisch und Russisch als auch Polnisch fließend sprach, wurde er eine Art inoffizieller Lagerübersetzer.

Wir kamen zu ihm mit allen möglichen Problemen; der Papierkram alleine hielt uns oft auf bei dem Versuch, Leute zu finden, deren Familien, ja sogar ganze Heimatorte möglicherweise verschwunden waren. Aber obwohl Wild Bill 15 oder 16 Stunden täglich arbeitete, zeigten sich bei ihm keine Anzeichen von Ermüdung. Während wir übrigen uns vor Müdigkeit hängen ließen, schien er an Kraft zu gewinnen. "Wir haben Zeit für diesen alten Kameraden", sagte er. "Er hat den ganzen Tag auf uns gewartet." Sein Mitleid für seine gefangenen Kameraden strahlte aus seinem Gesicht, und zu diesem Glanz kam ich, wenn mich der Mut verlassen wollte.

Ich war darum erstaunt, als ich die Papiere von Wild Bill eines Tages vor mir liegen hatte, daß er seit 1939 im KZ gewesen war! Sechs Jahre hatte er von derselben Hungertoddiät gelebt, und wie jeder andere in derselben schlecht gelüfteten und von Krankheiten heimgesuchten Baracke geschlafen, dennoch ohne die geringste körperliche oder geistige Verschlechterung. Noch erstaunlicher war vielleicht, daß jede Gruppe im Camp ihn als einen Freund betrachtete. Er war derjenige, dem Streitigkeiten zwischen den Insassen zum Schiedsspruch vorgelegt wurden. Erst nachdem ich wochenlang dort gewesen war, erkannte ich, welch eine Rarität dies in einem Gelände war, wo die verschiedensten Nationalitäten von Gefangenen einander fast so sehr haßten, wie sie die Deutschen haßten.

Was die Deutschen betraf, stiegen die Gefühle gegen sie in einigen der Lager, die etwas früher befreit worden waren, so hoch, daß frühere Gefangene sich Gewehre geschnappt hatten und in das nächste Dorf gerannt waren und einfach den ersten Deutschen, den sie sahen, erschossen hatten. Es war ein Teil unserer Instruktionen, diese Dinge zu verhindern, und wieder war Wild Bill unser größter Aktivposten, wenn er mit den verschiedenen Gruppen vernünftig redete und ihnen riet, Vergebung zu üben.
"Es ist nicht leicht für sie, zu vergeben", erklärte ich ihm eines Tages, als wir im Zentrum für alle Abwicklungen mit unseren Teetöpfen beieinander saßen. "Viele von ihnen haben ihre Familienangehörigen verloren."

Wild Bill lehnte sich in dem geraden Stuhl zurück und schlürfte sein Getränk.

"Wir lebten im jüdischen Sektor von Warschau", fing er langsam an. Es waren die ersten Worte, mit denen er mir gegenüber von sich selbst sprach. "Meine Frau, unsere zwei Töchter und unsere drei kleinen Jungen, als die Deutschen unsere Straße erreichten, stellten sie jeden an die Wand und eröffneten mit Maschinengewehren das Feuer. Ich bettelte, daß sie mir erlauben würden, mit meiner Familie zu sterben, aber da ich Deutsch sprach, steckten sie mich in eine Arbeitsgruppe."

Er unterbrach, vielleicht weil er wieder seine Frau und seine fünf Kinder vor sich sah. "Ich mußte mich dann entscheiden", fuhr er fort, "ob ich mich dem Haß den Soldaten gegenüber hingeben wollte, die das getan hatten. Es war eine leichte Entscheidung, wirklich. Ich war Rechtsanwalt, in meiner Praxis hatte ich zu oft gesehen, was der Haß im Sinn und an den Körpern der Menschen auszurichten vermochte. Der Haß hatte gerade sechs Personen getötet, die mir das meiste auf der Welt bedeuteten. Ich entschied mich dafür, daß ich den Rest meines Lebens - mögen es nur wenige Tage oder viele Jahre sein - damit zubringen wollte, jede Person, mit der ich zusammenkam, zu lieben."<<

 
     
  Diesen Artikel als PDF-Datei herunterladen Download  
     
  Alle Artikel liegen als PDF - Datei zum herunterladen vor. Um PDF - Dateien zu lesen, benötigen Sie den "Acrobat Reader". Falls das Programm nicht auf Ihrem PC installiert ist, können Sie es sich hier kostenfrei herunterladen. Hompage_Acrobat