Martin Rust - November / Dezember 2005    
 
Zeitenwende - ein analytischer Essay  
     
 

Ganz Deutschland feiert heute (am 30. Oktober) die Einweihung der Dresdner Frauenkirche. Ganz Deutschland? Freut sich ganz Deutschland oder "nur" - in allen Ehren - die Kunst- und Kulturbeflissenen aus vielen Staaten der Welt? Oder ist es vielleicht hier nur der Teil der "Berliner Republik", der über das notwendige Maß von "Anstand und Moral" (Noch-Wirtschafts- und Arbeitsminister Clement) verfügt, das gebraucht werde, um den Staat zu reformieren und zusammenzuhalten? Wer wäre denn dann damit nicht gemeint? Wohl nicht die "Ackermänner", aber doch wohl auch nicht jener Innenminister und Landesvorsitzender seiner Partei in einem ostdeutschen Bundesland, der gegen starke innerparteiliche Widerstände eine nach ihrem biographischen Werdegang fachlich völlig ahnungslose Dame als Justizministerin durch-(und dem Volke vor-)setzte und gegen die jahrelang erfahrene und geachtete Vorgängerin austauschte. Allerdings hatte jene Dame ihm jahrelang innerparteilich den Rücken frei gehalten und mußte wohl folglich mit einem Versorgungsposten belohnt werden. Das mag für starkes (partei-)soldatisches Pflichtgefühl und christliche Fürsorge ihres Mentors sprechen; nur - für "Anstand und Moral" bei der Pfründenvergabe als Vorbild z. B. für die Bevölkerung spricht es nicht. Und die Dame sitzt nun still in ihrem neuen Büro und ward seither praktisch gar nicht mehr von der Öffentlichkeit gesehen und bemerkt - aber kassiert gut. Darin mindestens unterscheidet sie sich von einem Hartz IV-"Parasiten" (so das Clement-Ministerium auf seiner Website), dessen (Nicht-) Aktivitäten demnächst noch mehr als bisher im Auftrag der Öffentlichkeit ausgeforscht werden sollen und der immer weniger kassieren soll.

Richtig ist: es gibt tatsächlich "Aussaugeffekte" auf allen Ebenen in der Gesellschaft. Aber wie kann all so etwas angehen? "Was ist faul im Staate Dänemark?" (Shakespeare) Wo stehen wir also in diesen erst jetzt wirklich anbrechenden Tagen der "Berliner Republik"? Denn das "neue Deutschland", welches in den nächsten Jahren entstehen soll, wird mit der alten Bundesrepublik endgütig nur noch den formalen Namen und die äußere Form gemein haben. Einige Stränge zukünftiger Entwicklungen sind eindeutig benennbar:
- Das Wahlergebnis vom 18. September hat eine grundsätzlich neue Situation geschaffen, die von den handelnden Hauptakteuren möglichst herunter gespielt wird. Zunächst erstens: die so genannten "großen Volksparteien" gibt es derzeit nicht mehr. Bezogen auf alle Wahlberechtigten ist Stimmenanteil der SPD 26,2 %, der CDU 26,9 %, der FDP 7,5 %, der Linkspartei 6,7 % und von Bündnis90/Die Grünen 6,2 %. Hinzu kommen noch "Sonstige" und ungültige Stimmen. Nicht gewählt haben 22,3 %.. Zählt man die Wahlergebnisse der beiden Groß-Koalitionäre zusammen, so ergibt sich nur eine knappe Mehrheit von etwa 53,1 % der Gesamtwahlberechtigten, die insgesamt den Politikbogen der "Reformen" tragen. Zum zweiten ist - darin ist der Linkspartei/PDS und vielen ausländischen Betrachtern zuzustimmen - mit dem Hinzutreten dieser Partei in Fraktionsstärke tatsächlich nur eine europäische Normalität auch für Deutschland vollzogen worden, die vor zehn, fünfzehn Jahren auf Dauer noch nicht vorstellbar war. Diese politische Richtung wird wahrscheinlich nicht mehr verschwinden. Erstaunlich ist nur die Reaktionsbreite der altbundesrepublikanischen Parteien und eines Großteils der Medien: sie reichte von "Es-hat-sich-ja-gar-nichts-geändert-Coolness" bis zu aufgeschreckter und unterschwelliger Hysterie. Dagegen CNN und BBC World noch am Wahlabend: hier erkannten die analytischen Kommentatoren sofort, daß mit diesem Wahlergebnis eine Mehrzahl der Deutschen einschließlich der Agenda-2010-Ablehner innerhalb der traditionellen SPD-Wählerschaft jede neoliberale Richtungsänderung verworfen hatten. Lediglich die "Süddeutsche Zeitung" fragte in ihrer Wahlberichterstattung in einem Halbsatz einmal nach, warum denn eigentlich ein fünfzigjähriger langzeitarbeitsloser Ingenieur den so genannten "Reformkurs" und damit seine fortschreitende Verarmung wählen solle, wenn doch auch bei günstigster gläubiger Prognose die positiven Wirkungen erst in zehn bis fünfzehn Jahren einsetzen könnten und somit für ihn zu spät. Wenn diese ökonomische Betrachtung von Wahlentscheidungen millionenfach jetzt und in Zukunft gelten sollte, werden die Stimmanteile für SPD und CDU weiter abnehmen und die der Linkspartei zunehmen, von den Nichtwählern und anderen gar nicht zu reden.

- Der "Ökonomismus", der allenthalben um sich greift, ist auf die deutsche Gesellschaft bezogen für sich betrachtet eine rationale Konsequenz einerseits der neoliberalen Strömungen (in den Ober- und Mittelschichten) und andererseits von Hartz IV (in den Mittel- und Unterschichten). Warum sollte ein (proletarischer) Hartz IV-Empfänger denn eine andere Einstellung zu "Moral und Anstand" an den Tag legen als Manager, Politiker und reiche deutsche Steueremigranten? Erstaunlich ist auch hier nur wiederum, daß manche Politiker darüber erstaunt sind (falls sie es ehrlich meinen). Erstaunlich war aber auch schon, daß die politische Klasse sich wunderte, daß nach der de-facto 1/3-Geldentwertung durch die Einführung des Euro und dem Verlust des Urvertrauens in die Deutsche Mark die Menschen ökonomisch reagierten und nicht wie erhofft ihre Sparkonten plünderten, um den gewohnten Konsum zu erhalten. "Enrichissez vous!" ("Bereichert euch!") war schon das Motto der bürgerlich-industriellen Julirevolution in Frankreich ab 1830, und so macht es eben auch jetzt ein jeder, wie er kann. Man betrachte sich doch auch nur einmal, welches gemeinsame Menschenbild sowohl der erfolgsorientierten neoliberalen Denke als auch der Hartz-Gesetzgebung zu Grunde liegt: bevorzugt ist in beiden Fällen der bindungslose flexible gesunde Single, der auf niemanden Rücksicht zu nehmen braucht und es auch nicht tut. Und warum sollte ein solcher Single (und nicht nur der) in Zeiten des wirtschaftlichen Erfolges überflüssige Rücklagen schaffen, die ihm, falls er scheitert, von Hartz IV wieder abgeschmolzen werden?

- "Deutschlands Chancen nutzen" / "Deutschland braucht den Wechsel" (CDU) bzw. "Vertrauen in Deutschland" (SPD) - das waren die Hauptslogans der (noch) größten Parteien im Wahlkampf. Was sagt das aus für unseren langzeitarbeitslosen Ingenieur von 50 Jahren? Kann er sich angesprochen fühlen? Was sagt das den Mitgliedern einer Gesellschaft, die in den letzten dreißig Jahren im Schulunterricht zu Recht gelernt haben, daß jede Gesellschaft aus Interessengruppen besteht, die zwar in den humanistischen Grundwerten einem demokratischen Konsens verpflichtet sind, deren ökonomisches Handeln aber durchaus gegensätzlich sein kann und sein soll. "Für Gott, Kaiser und Vaterland" und "Deutschland siegt an allen Fronten" - solche Sätze haben dieser Gesellschaft eine immunisierende Impfung verpaßt, die nur über massive ideologische Behämmerung über einen längeren Zeitraum theoretisch vielleicht wieder herunter gefahren werden könnte. Das will aber niemand - zu Recht -, und so wird die ökonomistische und soziale Zersplitterung mit den entsprechenden Folgen in der "Berliner Republik" weiter zunehmen. Naiv war es besonders von Frau Merkel und der CDU zu glauben, hinter dem Label "Deutschland" den Blankoscheck für's neoliberale "Durchregieren" zusammen mit der Westerwelle-Truppe verstecken zu können.

- Die Probleme von Schule und Demographie d.h. PISA und Altersstruktur weisen den weiteren Weg der "Berliner Republik". Selbst wenn am nächsten Montag ein fundamental anderes, besseres Schulwesen seine Arbeit begönne, würde es fünfzehn bis zwanzig Jahre dauern, bis positive Ergebnisse hervorträten. Und immer mehr Menschen werden immer älter, dem globalisierten Wirtschaftshandeln und den stetig zunehmenden Kürzungen zum Opfer fallen und verarmen. Nach Ansichten und Plänen aus der CDU-Führungsebene bräuchte eine schwarz-gelbe Koalition etwa drei bis vier Legislaturperioden, um in Deutschland wirklich arbeitsschaffendes Wachstum zu produzieren, aber eine Erfolgsgarantie nach erfolgten Kürzungen kann selbstverständlich nicht gegeben werden. Nach Einschätzung von Meinhard Miegel, einem führenden Sozialforscher über den Zusammenhang zwischen Demographie und Wohlstand ("der Prophet der nackten Tatsachen", wie ihn DAS PARLAMENT kürzlich nannte), wird die deutsche Gesellschaft in zwanzig Jahren auf dem gleichen Wohlstandsniveau sein wie in den 1980er Jahren, freilich wesentlich ungleicher verteilt. Und nach Ansicht von Norbert Walter, Chefökonom der Deutschen Bank, steht uns ein Niedergang von etwa vierzig Jahren bevor, bis sich das ökonomische System auf einem neuen - niedrigeren - Niveau stabilisiert haben wird.

Die wirkliche "Berliner Republik" beginnt nach einer in historischen Zeitmassstäben sehr kurzen Übergangszeit mit dieser neuen Bundesregierung. Die Person Angela Merkels wäre vielleicht nicht mehr als ein Symbol dafür. Und es spielt dabei vor dem Hintergrund der Globalisierung auch keine Rolle, ob die neue Regierung mit ihren Vorhaben erfolgreich ist oder scheitert. Die langfristigen Veränderungen durch das Wahlergebnis, die unterschwelligen Strömungen, die Ökonomisierung aller Lebensbereiche mit ihren Konsequenzen, mangelnde Bildung und die Entwicklung des Altersaufbaus - sie alle zusammenbetrachtet(!) in ihren gegenseitigen Wechselwirkungen(!!) und extrapoliert (= auf die Zukunft hochgerechnet) werden das Gesellschaftsbild der "Berliner Republik" in den nächsten zwanzig Jahren bestimmen. Das ist auch der Zeitraum, mit dem sich die seriöse Zukunftsforschung beschäftigt. Alles darüber hinaus gehende fällt dann in den Bereich der Utopie. Aber die nächsten zwanzig bis maximal fünfundzwanzig Jahre sind im Ganzen immer recht gut überschaubar und lassen Szenarien zu. Die Daten sind erhoben, die Kinder sind geboren (oder auch nicht) und gesetzliche Neuerungen enthalten i.d.R. Übergangsfristen und Bestandsschutzzeiträume. Natürlich kann es binnen zwei, drei Dekaden Weltereignisse geben - 1989 war ein solches, eine begrenzte nukleare Auseinandersetzung etwa im vorderasiatisch-indischen Raum oder die Implosion der KP Chinas wären andere - die alle Zukunftsszenarien über Bord werfen würden, aber ansonsten... Der "mündige Bürger" könnte informiert sein, und so laßt uns denn gleich morgen ein Apfelbäumchen pflanzen, alle miteinander. Und falls nicht - vielleicht wird die wiedererstandene Frauenkirche ja stattdessen auch akzeptiert.

 
     
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