Dieter Kersten - Januar 2007

   
 

Europa und die Verfassungen

 
     
 

(D.K.) Die Regierung der Bundesrepublik Deutschland hat am 1. Januar 2007 die Präsidentschaft in der EU übernommen. Bundeskanzlerin Angela Merkel stellt sich nach eigenem Bekunden der Aufgabe, die bisher weitgehend  gescheiterte „Europäische Verfassung“ in unveränderter Form in bzw. bei allen  EU-Staaten durchzusetzen. Notfalls, so sieht es aus, müssen die europäischen Völker so lange wählen, bis ein Ergebnis herauskommt, mit dem die „europäische Oligarchie“ zufrieden ist. Das ist der Stil, der innen- und außenpolitisch gepflegt wird, übrigens nicht nur von der Regierung Merkel. Es kommt nicht auf die Überzeugungskraft einer politischen Idee an, sondern auf die Durchsetzung eines Machtanspruches.

Der vorliegende Entwurf eines Vertrages über eine Verfassung für Europa,  so lautet der offizielle Titel, hat 71-Seiten

Das Elend dieser „Europäischen Verfassung“ ist die Vermischung von Menschen- bzw. Bürgerrechten (die nur am Rande vorkommen) und dominierender europäischer Struktur-Entscheidungen, die genau das Spiegelbild einer europaweit grassierenden Demokratieverachtung der herrschenden Parteien und der Oligarchien sind. Hintergrund dieser Demokratieverachtung ist nicht nur das zügellose Gewinn- und Machtstreben des Neoliberalismus, sondern auch die teilweise in den europäischen Gesellschaften tiefverwurzelte Angst vor Armut. Das Rüstungsgebot in der Verfassung dient einer Weltordnung, die nur hochtechnisierte „Kultur“- Staaten und Sklavennationen kennt. Die Sklaven, im Gegensatz zur Antike nunmehr (meistens) räumlich getrennt, haben den Wohlstand der „Kultur“-Staaten zu erhalten. Deshalb gibt es als herausragendes Mittel dieser Politik auch das Rüstungsgebot in dieser europäischen Verfassung.

Angela Merkel könnte sich Meriten weit über Europa hinaus verdienen, wenn sie eine europäische Verfassung formulieren lassen würde, die aus den Menschen- und Bürgerrechten und aus einer Formulierung von streng demokratischen Entscheidungssträngen in Europa bestehen würde. Alle adminstrativen Entscheidungen sind Entscheidungen, die von einer europäischen Regierung zu treffen sind. Solange es keine europäische Regierung gibt, sind die die administrativen Bestimmungen so zu fassen, daß politische Entscheidungen nicht vorbestimmt (präjudiziert) werden. Die Bürokratie in Brüssel muß in jedem Fall so gering wie möglich gehalten werden.

Volksabstimmungen über eine Europäische Verfassung der Menschen- und Bürgerrechte und der Institutionen sind streng getrennt zu halten von Volksabstimmungen über administrativ-politische Entscheidungen.

Eine solche Politik setzt voraus, daß über Inhalte und Formen der Demokratie in Europa diskutiert werden muß. Wie sieht die direkte demokratische Mitbestimmung des europäischen Bürgers aus? Inwieweit können sich Inhalte und Formen von Demokratie auf europäischer Ebene von Demokratie auf nationaler Ebene unterscheiden? Natürlich ist das nicht in sechs Monaten Präsidentschaft zu erledigen. Aber Angela Merkel könnte diesen Prozeß einleiten.

Voraussetzung einer „Europäischen Verfassung“ wäre freilich eine bundesrepublikanische Verfassung, haben wir doch bis heute nur ein „Grundgesetz“, welches von  den westlichen Siegermächten 1949 den  damaligen Bürgern der Westzonen auferlegt wurde. Über  dieses deutsche Grundgesetz hat das Volk nie abgestimmt.

In der alten wie in der neuen Fassung des Artikel 146 des Grundgesetzes: wird festgestellt, das .... dieses Grundgesetz ... seine Gültigkeit an dem Tage verliert, ..  an dem eine Verfassung in Kraft tritt, die von dem deutschen Volke in freier Entscheidung beschlossen worden ist.

Packen wir es also an!

Um Demokratie zu sichern und auszubauen, brauchen wir so viel direkte Demokratie wie nur irgend möglich. Volksbefragungen und Volksabstimmungenkönnen dabei nur notwendige Zwischenschritte sein. Wir brauchen eine Gliederung des Wahlvolkes in überschaubare „Nachbarschaften“ oder „Runde Tische“, wo sich das Wahlvolk mit seinen politisch-gesellschaftlichen Vorstellungen und unterschiedlichen politischen Meinungen austauschen kann. Es kommt auf diesen Meinungsaustausch an. Nur dieser kann zu einer Meinungsbildung und zu politischen Entscheidungen führen. Fernsehen und Internet dienen der Information, führen aber zur Vereinzelung und fördern Beeinflussung und Vermassung, auch wenn die Chaträume des Internets eine erfreuliche Diskussionsbereitschaft anzeigen. Wir brauchen in der Verfassung das Angebot an das Wahlvolk, über      „Nachbarschaften“ (ein überschaubarer Raum von ca. 500 Wahlberechtigten) ein Zweikammersystem aufzubauen, welches die Parteien-Parlamente (Spezialisten) kontrolliert.

Natürlich bedeutet eine direkte Demokratie, die die Parteien, die „parteiistische Demokratie“, durch ihre Kontrolle ergänzen muß, die notwendige Inanspruchnahme der Zeit (Freizeit) eines jeden Nachbarn (Bürgers). Das kann soweit gehen, daß diese direkte Demokratie Vorrang vor vielen hohlen Freizeit-Aktivitäten der Jetztzeit hat. Die Menschen können sich das heute nicht vorstellen, weil sie ihre Freiheit und Selbstbestimmung in dem Anspruchsladen partei-parlamentarischer Wachstums-Politik abgegeben haben. Die weit verbreitete Unzufriedenheit, die Geldbesessenheit und das Jammern stammen auch aus diesem Anspruchsladen.

Frau Merkel wäre gut beraten, neben der europäischen Verfassungsdiskussion eine verfassungsgebende Nationalversammlung in Deutschland zu fordern. Die europäische und die deutsche Verfassungsdiskussion könnten einander befruchten.

Anmerkung: Sie finden den Text des europäischenVerfassungsentwurfes im Internet unter http://european-convention.eu.int/docs/Treaty/cv00850.de03.pdf. Wer kein Internet hat, dem drucke ich gerne den Text des europäischen Verfassungsentwurfes aus. Kosten€ 7,- zzgl. Versandkostenpauschale. Zum Thema direkte Demokratie (Nachbarschaften) biete ich in der beiliegenden Bücherliste und im Internet unter www.neuepolitik.com Literatur an.

 
     
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