Frank Elbe und Ulrich Weisser - September 2008

   
 

Der Raketenstreit wächst sich zu einer internationalen Krise aus

 
     
 

Deutsche Gesellschaft für  auswärtige Politik e.V.
Juni 2007 N° 5
Frank Elbe, Botschafter a. D., vormals Leiter des Planungsstabs
im Auswärtigen Amt
Ulrich Weisser, Vizeadmiral a. D., vormals Leiter des Planungsstabs im Bundesministerium der Verteidigung.

I.
Der Streit um die Entscheidung der USA, Abfangraketen und Radarsysteme in Polen und Tschechien zu stationieren, hat reichlich Potenzial, zu einer veritablen internationalen Krise auszuufern. Dieser Konflikt erfaßt nicht allein die russisch-amerikanischen und die russisch-polnischen Beziehungen. Er berührt das Verhältnis der NATO zum wichtigsten Bündnispartner, den USA. Er wirft Probleme im Verhältnis von NATO und EU auf, soweit es um den langfristigen europäischen Anspruch geht – wie er in den Verträgen von Maastricht und Amsterdam festgelegt ist – eine eigene europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik zu entwickeln. Insbesondere aber droht die Gefahr, daß eine weitere Ausuferung des Streites nicht nur Veränderungen in den Beziehungen zwischen Europa und Rußland, sondern auch schwerwiegende politische und wirtschaftliche Konsequenzen nach sich ziehen könnte – es sei denn, es gelingt, die sich weiterhin aufbauende, an Polemik zunehmende Eigendynamik des Raketenstreites aufzufangen. Hierzu sind breite kooperative Anstrengungen der europäischen, amerikanischen und russischen Diplomatie erforderlich. Der Ansatz der NATO beim Doppelbeschluß zur Nachrüstung mit Mittelstreckenraketen – erst Verhandlungen, dann Nachrüstung – muß ebenso in Erinnerung gerufen werden, wie die Philosophie des Harmel-Berichts, der die NATO auf eine Doppelstrategie von »ausreichender militärischer Sicherheit« einerseits und einer Politik von Abrüstung, Entspannung und Zusammenarbeit andererseits verpflichtet hat.

Es geht nicht um die Frage, ob man für oder gegen die Stationierung eines Raketenabwehrsystems ist, oder ob man für mehr oder weniger Sicherheit ist. Eine solche Verkürzung der Auseinandersetzung wäre trivial und verantwortungslos. Wenn ein Raketenabwehrsystem für die Abwehr von terroristischen Angriffen für unsere Sicherheit erforderlich und tauglich wäre, müßten wir ein solches System installieren, wobei Rußland in einer solchen Situation kein Vetorecht beanspruchen könnte. Ein solches System darf aber nicht installiert werden, solange

  • keine realistische Bedrohung erkennbar ist,
  • die Einsatzfähigkeit eines solchen Systems allenfalls theoretisch gegeben ist und
  • der Westen nicht alle Möglichkeiten des Dialogs ausgeschöpft hat.

Es gilt in großer Ernsthaftigkeit zu prüfen, ob nicht doch die Möglichkeit besteht, gemeinsam mit Rußland die erforderlichen Maßnahmen zur Abwehr von Raketenangriffen zu treffen, oder zumindest zu erreichen, daß Moskau einem solchen System zustimmen könnte. Wenn das Raketenabwehrsystem ohne eine solche Prüfung stationiert werden würde, würde die russische Bereitschaft und Fähigkeit zur Zusammenarbeit nachhaltig  gefährdet.

II.
Der gegenwärtige Streit ist nicht über Nacht entstanden, sondern darin kulminieren Entwicklungen, die zwei Wurzeln haben:

  • Die USA verfolgen unabhängig von der NATO und Rußland ein nationales Projekt – den Schutz amerikanischen Territoriums gegen ballistische Interkontinentalraketen. Amerika will sein Raketenabwehrschild, das schon landgestützte Komponenten in den USA und seegestützte Komponenten auf US-Kriegsschiffen umfaßt, um vorgeschobene Komponenten in Polen und Tschechien ergänzen. Die USA möchten insgesamt erreichen, daß sie als Weltmacht nuklear und konventionell handlungsfähig auch gegenüber solchen Staaten bleiben, die selbst mit Nuklearwaffen ausgestattet sind oder sein werden. Die Regierung Bush hat deshalb den ABM-Vertrag (Anti-Ballistic Missile Treaty) einseitig am 13. Dezember 2001 gekündigt. Der ABMVertrag verbot, daß sich eine Seite den Vorteil verschafft, gegen eine Bedrohung durch Raketen geschützt zu sein, aber zugleich die Möglichkeit gewinnt, die eigenen Raketen offensiv zu nutzen. Die amerikanische Regierung hat damit eine wichtige Säule des internationalen Gebäudes für strategische Rüstungskontrolle einstürzen lassen; die USA bringen sich aber gegenüber Rußland in eine vorteilhafte strategische Situation. Die USA haben versucht, diese Situation dadurch abzufedern, daß sie
  • Rußland bei Kündigung des ABM-Vertrages angeboten haben, gemeinsame Lösungen zur Abwehr neuer Raketenbedrohungen zu suchen. Dazu ist es aber nicht gekommen. Rußland versucht, seinen strategischen Nachteil durch eine neue Generation von Interkontinentalraketen auszugleichen, die nur schwer abzufangen sind. Am 30. Mai 2007 ist mit zwei Probeschüssen die operative Tauglichkeit dieses Systems unter Beweis gestellt worden. Die USA verstoßen mit dem Ausstieg aus dem ABMVertrag im Grunde gegen zwei fundamentale und bewährte Sicherheitsprinzipien – zum einen gegen das Prinzip, daß es im Atlantischen Bündnis keine geteilte Sicherheit geben sollte und Europa deshalb dieselbe Sicherheit beanspruchen kann wie die USA; zum anderen wird das Prinzip des sorgsam austarierten strategischen Gleichgewichts zwischen Rußland und Amerika außer Kraft gesetzt.
  • Das Raketenprojekt ist im Pentagon gegen terroristische Angriffe entwickelt und mit dem bei den amerikanischen Militärs eigentümlichen Mangel an politischer Sensibilität und diplomatischer Umsicht international vertreten worden. Hohe Militärs wie Generalleutnant Henry A. Trey Obering und letztlich auch Verteidigungsminister Robert M. Gates selbst sind keine geeigneten Vertreter, um ein solches Vorhaben vertrauensbildend zu vermitteln, geschweige denn vorantreiben zu können. Ihre Ämter bieten vor allem keine Gesprächsebene für die höchste politische Führung in Rußland. Eine alte, längst verschollen geglaubte Untugend amerikanischen Umgangs mit Verbündeten während des Kalten Krieges ist damit zurückgekehrt: »Decide first, consult later!« Dabei ist davon auszugehen, daß sich in Washington niemand planmäßig Gedanken gemacht hat, ob und mit wem das Thema Raketenabwehr überhaupt zu konsultieren sei.

Als Ergebnis eines solchen Defizits stellten sich eben die Irritationen bei den Russen und Europäern ein, die heute das gereizte Klima zwischen allen Betroffenen ausmachen. Der zurückgetretene polnische Verteidigungsminister Radek Sikorski hat berichtet, daß die USA seiner Regierung den Raketenplan »auf ziemlich grobe Weise« angetragen hätten. »Irgendein Genie im Pentagon oder im US-Außenministerium hat die erste offizielle Anfrage mit einem vorformulierten Antwortformular geschickt – mit einer langen Liste von Verpflichtungen für das Gastland und wenigen entsprechenden Verpflichtungen für die USA«, schrieb Sikorski in der Washington Post.

III.
Der russische Widerstand gegen das amerikanische Projekt »Raketenabwehr« ist sachlich begründet und psychologisch nachvollziehbar – dies vor allem, wenn man auf die dreiste Äußerung der amerikanischen Außenministerin Condoleezza Rice blickt, die russischen Befürchtungen seien »lächerlich«. Die russische Verärgerung hat sich in den Jahren seit Beginn der NATO-Öffnung für neue Mitglieder Schritt für Schritt aufgebaut – bis sie in der Münchner Rede von Präsident Wladimir Putin eruptiv ein Ventil gefunden hat.

Der Kardinalfehler der amerikanischen Seite war, nicht vertraulich mit Präsident Putin darüber gesprochen zu haben, wie Rußland künftige neue Bedrohungen für die USA, Europa und Rußland einschätzt und welche Rolle das Thema Raketenabwehr dabei womöglich spielen könnte. Washington hätte klären müssen, unter welchen Voraussetzungen der russische Präsident den Aufbau eines Raketenabwehrsystems hätte abnicken können. Es bleibt allerdings fraglich, ob die russische Führung einem Stationierungsstandort Polen überhaupt hätte zustimmen können. Der US-Regierung sind die russischen Empfindlichkeiten über ein Vorrücken militärischer Strukturen bis an die Grenzen Rußlands ja durchaus bekannt. Schon die deutsche Wiedervereinigung war für die damalige Sowjetunion schwer zu schlucken, weil das vereinte Deutschland Mitglied der NATO werden sollte. Es war jedoch während der »2+4-Verhandlungen« politischer Konsens unter den Verhandlungsparteien, daß es mit der Wiedervereinigung keine Ausdehnung von NATO-Strukturen in Richtung Sowjetunion geben würde; darauf beruft sich Rußland heute noch.

Die spätere NATO-Erweiterung wurde von Rußland nur geschluckt, weil die Aufnahme neuer Mitglieder durch die NATO zugleich von der Entwicklung einer
strategischen Partnerschaft mit Rußland begleitet wurde – dies vor allem auf Betreiben der deutschen Regierung. In diesem Zusammenhang hat Moskau von Anfang an deutlich gemacht, daß die Stationierung von Nuklearwaffen und NATO-Infrastruktur auf dem Territorium der neuen NATO-Mitglieder für Rußland nicht hinnehmbar sein werde. Der Nordatlantikrat hat deshalb am 10. Dezember 1996 förmlich erklärt: »Die Erweiterung der Allianz wird keine Änderung im gegenwärtigen Nukleardispositiv der NATO erforderlich machen, und daher haben die NATO-Länder nicht die Absicht, keine Pläne und auch keinen Anlaß, nukleare Waffen auf dem Hoheitsgebiet neuer Mitglieder zu stationieren.« Die NATO hat zugleich erklärt, den russischen Bedenken zur NATO-Infrastruktur werde bei der Anpassung des Vertrags über konventionelle Streitkräfte in Europa in vollem Umfang Rechnung getragen.

Die NATO hat sich an all diese Zusagen nicht gehalten. Der Vertrag zur Anpassung des KSE-Vertrags wurde zwar schon 1999 in Istanbul von allen beteiligten europäischen Staaten unterzeichnet; er ist aber bisher nur in Moskau ratifiziert. Die westlichen Staaten haben die Ratifizierung mit fadenscheinigen Gründen immer weiter vor sich her geschoben. Eine maßgebliche Rolle spielt dabei, daß die USA sich für ihre Luftstreitkräfte Stützpunkte in Rumänien und Bulgarien gesichert haben, was vom KSE-Anpassungsvertrag kaum gedeckt sein dürfte. Über den baltischen Staaten kontrollieren NATO-Kampfflugzeuge den Luftraum, obwohl es dort keinerlei Bedrohung gibt.

Es war daher abzusehen, daß die russische Reaktion auf die Absicht, ein Raketenabwehrsystem in Polen aufzubauen, harsche Reaktionen der russischen Führung nach sich ziehen werde, zumal ein solches System Rußlands Zweitschlagfähigkeit bei den zentralstrategischen Waffen objektiv beeinträchtigt, auch wenn die USA nicht müde werden zu wiederholen, daß sich das System nicht gegen Rußland richte. Polnische Regierungskreise verweisen allerdings im Zusammenhang mit dem geplanten Raketenabwehrsystem darauf, daß Warschau dabei vor allem an eine Bedrohung durch Rußland denke. Warschau betont außerdem, daß Washington die Bereitschaft zu Stationierung der Raketenabwehrsysteme mit zusätzlichen Sicherheitsgarantien für Polen honorieren müsse; Warschau erwartet außerdem Patriot-Luftabwehr-Raketen, die auch gegen Rußland gerichtet sein sollen.

Moskau hält es für nicht akzeptabel, daß die USA den europäischen Kontinent in ihr nationales Raketenabwehrprojekt einbeziehen. Damit würden die NATO und EU, wie auch die strategische Partnerschaft mit Rußland, einseitig durch die USA abgewertet. Moskau bemüht sich, hinsichtlich neuer Bedrohungen zu einer gemeinsamen Position mit dem Westen zu kommen – zu einem integrierten Ansatz im trilateralen Rahmen, der Rußland, die EU und die USA einschließt. Als bestgeeignetes Forum für die notwendige Debatte sieht Moskau den NATO-Rußland-Rat an. Rußland ist gegen die Stationierung von US-Raketenabwehrsystemen in Europa, die sich auf das strategische Gleichgewicht auswirken könnten. Da Moskau schließlich derzeit keine Anzeichen für eine wirklich neue Bedrohung sieht, »es sei denn solche, die sich durch unbedachte Handlungen im Sinne selbst erfüllender Prophezeiung entwickeln« (Außenminister Sergej Lawrow), sieht Moskau genügend Zeit für eine ernsthafte Analyse.

IV.
Die Stationierung eines Raketenabwehrsystems, das explizit gegen eine womöglich entstehende Bedrohung durch iranische Interkontinentalraketen gerichtet ist, unterläuft im Übrigen jeden Versuch, mit dem Iran in dieser Frage zu einer gütlichen politischen Lösung zu kommen. Eine übereilte Entscheidung, in naher Zukunft ein Raketenabwehrsystem zu installieren, antizipiert das Scheitern aller Verhandlungen mit Teheran.

Das Atomprogramm des Iran, das bereits vom Schah Reza Pahlevi Ende der 70er Jahre initiiert wurde, sich auf dem Wege zunehmend erfolgreicher Urananreicherung befindet und auf das der Iran aus Sicht Teherans ein verbrieftes Recht hat, steht im Iran nicht zur Debatte. Das Programm findet in der Bevölkerung breite Zustimmung. Der Iran ist von Einkreisungsängsten geprägt – umgeben von nuklear bewaffneten Staaten, von dauerhafter US-Präsenz im Irak und in der Türkei, von enger israelisch-türkischer Militärkooperation, von Spannungen mit der Nuklearmacht Pakistan und einer sich abzeichnenden pakistanisch-saudischen Nuklearkooperation. Eine Aufgabe der Nuklearprogramme und der Raketenrüstung bedeutet für den Iran nicht nur, daß riesige Investitionen abgeschrieben, sondern auch strategische Alternativen für regionale Sicherheit gefunden werden müßten. Die atomaren Ambitionen sind damit zu einem Symbol für den Willen des Regimes geworden, nach innen wie nach außen Stärke zu zeigen. Der Iran ist heute eine Mittelmacht, die zunehmend Einfluß auf die Region gewinnt und dabei auch das Einflußvakuum ausfüllt, das sich durch die gescheiterte Politik der USA im Irak und durch die zu lange Vernachlässigung des israelisch-palästinensischen Konfliktes ergeben hat. Als Regionalmacht will der Iran dieselbe Qualität der Sicherheit erreichen, wie sie von Pakistan und Indien selbstverständlich in Anspruch genommen wird. Zugleich will der Iran gewappnet sein gegen mögliche Bedrohungen aus Richtung USA.

Die USA werden heute in Teheran als Bedrohung empfunden, weil sie auf einen Regimewechsel hinarbeiten – dies vor allem auch wegen der Zuordnung des Iran zur »Achse des Bösen«, zu der US-Präsident George W. Bush zum Zeitpunkt dieser Äußerung den Iran gemeinsam mit Irak und Nordkorea zählte. Das Atomprogramm wird in Teheran als Garantie für die Verhinderung einer militärischen Intervention der USA und damit als Lebensversicherung des Regimes gesehen.

Unsere ausgreifenden Sicherheitsinteressen verlangen im Grunde, den Iran so in eine neue strategische Konstellation einzubeziehen, daß dieses Land auf Dauer Statur als Regionalmacht gewinnen und als Stabilisierungsfaktor im erweiterten Nahen Osten dienen kann. Mit Blick auf die innenpolitischen Veränderungen im Iran und den zunehmenden Einflußes der »Pragmatiker« sollte diese Perspektive nicht abgeschrieben werden.

Die gegenwärtige Problemlage verlangt, Teheran das Gefühl zu vermitteln, daß auf gleicher Augenhöhe verhandelt wird. Ein praktikabler Verhandlungsansatz verlangt, auf Geben und Nehmen, auf Anreize und Androhungen abzustellen. Die wichtigsten Instrumente, die gegenüber dem Iran in einer konstruktiven, abgestimmten Politik eingesetzt werden können, sind ökonomische Anreize, Zusicherung der zivilen Nutzbarkeit von Atomenergie unter den Bedingungen scharfer internationaler Kontrolle, Zusammenarbeit in Fragen regionaler Sicherheit, die auch die Interessen Irans berücksichtigen, aber natürlich auch das Intakthalten unseres eigenen Abschreckungs- und Vergeltungspotentials.

Es kommt also drauf an, die Nuklearproblematik feinfühlig und ohne Vorbedingungen mit Teheran zu verhandeln – so wie mit Nordkorea. Das Projekt Raketenabwehr stört nicht nur diesen Ansatz, sondern auch alle Versuche, mit Rußland zu einer gleichberechtigten strategischen Partnerschaft zu kommen, in der Moskau nicht weiter von der NATO und den USA hintergangen wird.

V.
Man kann alles erklären; aber Erklärungen reichen nicht, wenn man etwas nicht verständlich machen kann. Selbst der ehemalige sowjetische Präsident Michail Gorbatschow glaubt: »Es geht doch nur um Einfluß und Herrschaft in Europa.« Schließlich darf bei der augenblicklichen Haltung Putins nicht übersehen werden, daß dieser Streit im Vorfeld der russischen Präsidentschaftswahlen 2008 stattfindet, der seine Hände politisch bindet.

Es ist völlig verfehlt, Rußland allein für jede Klimaverschlechterung verantwortlich zu machen, ein neues Rußland-«bashing« zu beginnen und Moskau einen Rückfall in den Kalten Krieg vorzuhalten. Alle Anstrengungen der Politik müssen sich jetzt auf kooperative Lösungsansätze richten. Dabei wird es nicht reichen, Rußland eine Beteiligung an dem Raketenabwehrsystem in Polen anzubieten, die Putin unter den bestehenden Bedingungen nicht annehmen kann. Polen kommt als Standort für die Russen niemals in Frage. Hier wiederholen sich die russischen Irritationen über die Stationierung von amerikanischen Thor-Raketen 1959 in der Türkei, die schließlich zur Stationierung sowjetischer Raketen auf Kuba führten und die Kuba-Krise auslösten. Die USA und ihre Verbündeten müssen die Partnerschaft Rußlands für die Abwehr von terroristischen Gefahren gewinnen und auf der Basis einer gemeinsamen Bedrohungsanalyse gemeinsam Modelle zur Erhöhung ihrer Sicherheit entwickeln. Es liegt in der Natur der Beziehungen von USA und Rußland zueinander, daß das jetzt vom Pentagon forcierte Raketenabwehrsystem keine ausschließliche Grundlage für eine künftige Zusammenarbeit sein kann.

Auch Präsident Putin hat innenpolitische Zwänge zu beachten. Die seit Peter dem Großen bestehende Spaltung des Landes in fortschrittliche, westlich orientierte Reformer und orthodoxe Slawophile ist ja mit dem Fall der Berliner Mauer nicht aufgehoben worden. Mit dem Projekt des Aufbaus einer Raketenabwehr in Polen und Tschechien ist offensichtlich nun eine Schwelle überschritten, die Putin zwingt, auf konservative Militärs zu hören und eine schärfere Gangart anzuschlagen. Darauf reagieren die westlichen Medien mit einer neuerlichen Dämonisierung Rußlands. Diese Spirale darf sich nicht weiter nach oben schrauben.

Die zweite Front, die die USA wahrscheinlich absichtslos eröffnet haben, betrifft die Europäer. Die amerikanische Vorstellung, man könne im europäischen Gebiet der NATO bilaterale Absprachen mit einzelnen Bündnispartnern treffen, ohne die politischen Interessen der Europäer zu berücksichtigen, war eine fahrlässige und naive Fehleinschätzung. Europa ist kein Vorhof der USA, in dem diese frei schalten und walten können. Umgekehrt erlaubt die Integration von europäischen Staaten in die NATO und die EU diesen politisch keine Sonderabsprachen mit den USA mehr, die sicherheitspolitische Interessen Europas berühren, wenngleich die völkerrechtlichen Voraussetzungen hierfür immer noch gegeben wären. Insoweit ist der Streit über das Raketenabwehrsystem auch ein Lackmustest für die europäische Identität in Sicherheitsfragen und für den Anspruch der Europäischen Union, eine gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik zu schaffen, wie das in den Verträgen von Maastricht und Amsterdam vorgesehen ist. Es steht für Europa viel auf dem Spiel. Der französische Staatspräsident Jacques Chirac hat zu Recht gewarnt: »Wir sollten sehr vorsichtig sein, die Schaffung neuer Trennlinien in Europa oder die Rückkehr einer alten Ordnung in Europa zu fördern.«

Einen Ausweg aus der gegenwärtigen, schon ziemlich verfahrenen Situation bietet der von Bundeskanzlerin Angela Merkel nachdrücklich vertretene Vorschlag einer Lösung innerhalb der NATO und eines offenen und vertrauensvollen Gespräches mit Rußland auf  höchster Ebene.

 
     
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