Dieter Kersten - November / Dezember 2008

   
 

Brauchen wir eine Kulturrevolution?

 
     
 

(D.K.) Die Bundesregierung, Bundestag und Bundesrat beschlossen mit großem propagandistischen Aufwand Gesetze, die, nach Meinung der Regierung, das angeblich zusammengebrochene Finanzsystem in Deutschland retten sollen. Retten?  Es wird den Staats- und Steuerbürger mit großem Medienaufwand vermittelt, daß diese Gesetze, die dem Staats- und Steuerbürger zwischen 500 und 1000 Milliarden Euro kosten könnten, nur zu seinem Wohl erlassen worden sind. Wie viele Milliarden Dollar wir Deutsche/Europäer noch zusätzlich bezahlen müssen, wird vermutlich nie zu verifizieren sein. Um diese bittersaure Regierungs-Rechtfertigungssuppe etwas genießbarer zu machen, wird der SPD-Kanzlerkandidat Steinmeier in die Bundestags-Bütt geschickt, um dem zornigen Volk mitzuteilen, daß in Zukunft die Gehälter und Boni der Bankmanager stärker „an die Leine“ genommen werden. Als ob das das Hauptproblem wäre!

Das Hauptproblem scheint mir zu sein, daß sich das Geld, welches wir alle brauchen, um leben zu können, als Wirtschaftsgut verselbständigt hat. Können Sie sich noch an den Werbespruch der „Geldinstitute“ erinnern: Lassen Sie Ihr Geld arbeiten!? Ich habe noch nie Geld arbeiten gesehen, immer nur Menschen. Es gibt sehr viele Menschen auf dieser Erde, die ohne Geld, nur um ihr nacktes Leben zu erhalten, arbeiten müssen. In beispielloser Arroganz haben die Menschen in unserem Kulturkreis einen Anspruch auf alle Ressourcen dieser Erde erhoben und sind nun gestrauchelt.

Raimund Brichta, Fernsehmoderator und Autor, hat am 6. Oktober auf der Internetseite www.teleboerse.de/1033237.html (ntv) einen Offenen Brief an die Bundeskanzlerin Merkel veröffentlicht, in dem sich Brichta mit der Finanzkrise befaßt. Der Schlußabsatz dieses Briefes lautet: >Deshalb schlage ich Ihnen vor, liebe Frau Merkel, Ihren langfristigen politischen Zielen für mehr Nachhaltigkeit (z.B. im Klimaschutz oder in der Energieversorgung) ein weiteres hinzuzufügen: das Ziel, ein nachhaltigeres Geldsystem zu schaffen. Vergeben Sie Forschungsaufträge und stellen Sie Expertengremien zusammen, die sich damit beschäftigen, wie unser Geld sicherer werden kann. Tun Sie bitte etwas, denn es gibt noch viel zu tun - über die aktuelle Symptombehandlung hinaus. Der Blick auf die Wurzel wurde bisher fast gar nicht geschärft, weil diejenigen, die das gegenwärtige System betreiben, auch prächtig daran verdienen.<

Ein Leser des Kommentar- und Informationsbriefes hat mich auf diesen Brief hingewiesen. Danke schön!

Wenn mich jemand für eine solche Experten-Kommission empfehlen würde, dann müßte  ich sehr energisch darauf bestehen, daß alle Kommissionsmitglieder zur Öffentlichkeit verpflichtet sind. Diese Kommissionsarbeit darf nicht hinter den Tresortüren der Banken oder in den abhörsicheren Räumen der Ministerien geschehen. Ich würde darauf bestehen, daß alle wirtschafts- und gesellschaftswissenschaftlichen Außenseiter, insbesondere auch diejenigen, die keinen universitären Hintergrund haben, zur Mitarbeit eingeladen werden.

Ein erstes wichtiges Thema in  dieser Kommission muß die Funktion des Geldes in einer Volkswirtschaft sein. Natürlich würde ich meine Auffassung vertreten,  daß Geld ein Hilfsmittel für den Tausch von Gütern ist. Aber ist es tatsächlich nur ein Hilfsmittel?  Ist Geld nicht das „Blut der Wirtschaft“, welches u.a. die „Vitamine“ in die Firmen, aber auch in die Kultur und in das Soziale bringt? Ich habe des öfteren in diesem Kommentar- und Informationsbrief NEUE POLITIK vom „umlaufgesicherten Geld“ geschrieben, welches nirgendwo gehortet werden darf. Deshalb sollten Geldscheine, die sich „im Sparstrumpf“ befinden (also nicht auf dem Bankkonto) alle zwölf Monate gegen eine Nutzungs- Gebühr in neue Scheine eingetauscht werden. Das Gleiche kann, vielleicht mit einem anderen zeitlichen Abstand, mit Hartgeld passieren.

Thema wäre auch ein „lokales Geld“, ein Geld für Wirtschaftsregionen (auch über Landesgrenzen - den nationalen Grenzen - hinweg), welches dafür sorgt, daß die Wirtschafts-Leistungen in diesen Regionen bleiben. Wenn wir heute Milchprodukte aus China, oder Rindfleisch aus Argentinien, Äpfel aus Chile u.a.m. beziehen, dann ist das eine Verschwendung von Ressourcen und ein „Aderlaß“ für den „Blutkreislauf“. Eine solche Kommission muß sich auch über die Funktion der Börsen unterhalten und über das Thema, was für „Wertpapiere“ es in Zukunft geben darf. Nach meinen jetzigen Kenntnissen reichen Aktien, Anleihen und Hypothekenbriefe, Wechsel und Schecks völlig aus. Wer mehr will, kann sich ja direkt an Firmen beteiligen (Verantwortung übernehmen).

Damit sich die Spekulanten nicht auf „Grund und Boden“ stürzen und das Wohnen damit superteuer wird,  muß „Grund und Boden“ für unverkäuflich erklärt werden. Es müssen Regeln gefunden werden, mit denen die Leistungen Veredlung und Bebauung bewertet werden. Veredlung und Bebauung müssen natürlich erworben werden können, sonst sind weder Erhaltung noch Fortschritt möglich.

Eine solche Kommission sollte auch mit dem Unsinn „Wachstum“ aufräumen. Die Bundeskanzlerin Merkel  ist eine „Wachstums-Gläubige“. Wohin wollen wir wachsen?  Gerade diese Wirtschaftskrise zeigt mit aller Deutlichkeit, wohin diese zügellose Wachstums-Ideologie führt. Nur im sozialen Bereich gibt es immer wieder Wachstumsnotwendigkeiten. Manchmal braucht auch die Kultur Wachstum. Aber dann hört es auch schon wieder auf. Wir brauchen kein Ressourcen verbrauchendes Wachstum. Aber vielleicht brauchen wir eine Kulturrevolution!

Das Herz an rechter Stelle,
Den Geist in rechter Helle,
Die Augen aufgemacht,
Gehandelt wie gedacht,
Das ist die Heldenkraft,
Die alle Siege schafft.

Im Glücke nichts vergessen,
Im Siege nicht vermessen,
Im Unglück unverzagt,
Gewagt und nicht geklagt,
Das ist der gute Sinn,
Der sichert den Gewinn.

In Mühe unverdrossen,
Im Mangel froh genossen,
Was uns noch übrig bleibt,
Das ist‘s was Zeit vertreibt.
Wer nicht die Sorg entläßt,
Den hält die Krankheit fest.

Achim v. Arnim (1781 – 1831)

Quelle: Bibliothek Deutscher Klassiker, Band 5, S. 794.

Elmar Alvater, emeritierter Professor für Politikwissenschaft am Otto-Suhr-Institut in Berlin, schreibt in der Wochenzeitschrift FREITAG vom 3. Oktober unter der Überschrift Der amerikanische Patient  - Geopolitik und Finanzkrise: Die USA sind viel zu verschuldet, um allein die Märkte zu retten. Das Rezept: Die Verluste werden globalisiert u.a. folgendes:  >Auf liberalisierten und mehr und mehr globalisierten Finanzmärkten mußten sich .. Banken und Fonds in der Konkurrenz wechselseitig übertrumpfen, um Anleger zu locken oder bei der Stange zu halten. Sie schraubten so die auf Finanzanlagen erzielbaren Erträge im Vergleich zu realen Gewinnen bedenkenlos in die Höhe. Die Konkurrenz verlangte es. Die inzwischen weithin beklagte, um sich greifende Gier von Managern war kein psychischer Defekt, sondern hatte systemische Ursachen. Der Kapitalismus verwandelte sich in den "finanzgetriebenen" Kapitalismus. Die Profitrate auf industrielles Kapital sank in den vergangenen Jahrzehnten, wie alle empirischen Studien zeigen, und die Rendite der Finanzanlagen war hoch. Wer weniger als 20 Prozent auf das Eigenkapital aus Investitionen herausholte, galt bis zum Ausbruch der derzeitigen Krise als Versager. Erst 2008 gingen die Renditen nach Auskunft der Deutschen Bundesbank von 20,7 Prozent (2007) im Durchschnitt auf 3,3 Prozent (1. Halbjahr 2008) zurück. - Finanzanlagen sind Forderungen (claims), die bedient werden müssen, und je höher die Renditen und je umfangreicher die Forderungen, auf die sie zu zahlen sind, desto mehr Erträge müssen aus dem global produzierten Sozialprodukt zum Finanzsektor fließen. - In dessen Zentrum liegt die Wallstreet oder - wie manche heute sagen - "Fraudstreet" (Straße der Abzocker), in der immer neue Anlagestrategien entwickelt, komplex strukturierte Papiere erfunden und bisher nicht gekannte Institutionen (wie Zweckgesellschaften) gegründet wurden, um stets neue Kunden in ihren Finanzbann zu ziehen und mit immer neuen Methoden möglichst hohe Renditen in den Finanzsektor zu lenken. Woher? Aus der realen Wirtschaft. Doch deren Überschüsse - man kann es an den realen Wachstumsraten erkennen - reichten an die hohen Renditen nicht heran und daher zur Befriedigung der "Gier" nicht aus. - Denn es werden mit den vom Bankensektor finanzierten Investitionen keine neuen Werte (wie in Omas Nähmaschinenkapitalismus) geschaffen, sondern bereits erzeugte Werte mit Hilfe der strukturierten Finanzprodukte zum Finanzsektor umverteilt. So geschah es in der frühindustriellen, kolonialen Epoche, wie Rosa Luxemburg scharfsinnig zeigte: "Akkumulation durch Enteignung". - Irgendwann aber reicht die Substanz nicht mehr zur Befriedigung der immer größer werdenden claims auf den globalen Finanzmärkten. Zwar werden immer neue Anlagefelder gesucht und diese mit immer neuen Instrumenten "beackert", etwa mit "Credit Default Swaps" (CDS), deren Markt so groß ist wie das gesamte globale Sozialprodukt, etwa 62.000 Milliarden Dollar. <

Die Fett- und Kursivmarkierung in diesem Zitat stammt von mir.

Ein Themenblock über die Weltwirtschaftskrise in der Wochenzeitschrift FREITAG vom 26. September ist mit Bankrott der Bankrotteure überschrieben.Wenn das nicht nur eine Überschrift unter vielen bleiben soll, gehört zur Kulturrevolution auch die Verinnerlichung von Bescheidenheit. Ich empfehle da immer die Lektüre von Erich Fromm und Ivan Illich.

Nach meiner Auffassung muß eine Neuordnung von Wirtschaft  von einer Neuordnung von Demokratie ergänzt werden. Die so genannten staatstragenden Parteien und ihre Mitglieder sind mit ihrem Egoismus an dieser Weltwirtschaftskrise unmittelbar beteiligt.

Unter Demokratie verstehe ich eine Direkte Demokratie durch  Volksbefragungen und Volksabstimmungen und eine Basisdemokratie durch  politische Nachbarschaften, die etwa 500 Wahlberechtigte umfassen sollen und die unmittelbar, ohne Vermittlung von Parteien, beraten und entscheiden müssen. Sehr wichtig ist die jederzeitige Abwahl-Möglichkeit der Sprecher (Vorsitzenden, Versammlungsleiter, Organisatoren) dieser Nachbarschaften.

Diese Direkte Demokratie braucht das Engagement aller Bürger; sie ist aber auch Chance, unmittelbar in allen Politikfeldern mitbestimmen zu können.

Das Konsensprinzip bei Entscheidungen in den Nachbarschaften sollte vorherrschen und erst dann durch die Mehrheit ersetzt werden, wenn eine Übereinstimmung aller nicht erreicht wird.  Die Minderheiten-Voten müssen immer mit veröffentlicht werden.

Es müssen alle verfassungsmäßigen Voraussetzungen geschaffen werden, daß diese ideale Direkte Demokratie eingeführt werden kann.

Diese Direkte Demokratie muß Parteien-Parlamente und Parteien kontrollieren. Sie wird dazu führen, daß die Parteien ihre Interessen offenlegen müssen. Das Gekungele mit den Lobbyisten wird (muß) öffentlich werden. Fachleute aus dem Firmen und Wirtschaftsverbänden bekommen die Freiheit der  Wahrhaftigkeit zurück.

Die Idee der Direkten Demokratie durch Nachbarschaften geht auf Artur Mahraun zurück. Ich biete dazu sowohl auf meiner Web-Seite www.neuepolitik.com, als auch in der beiliegenden Bestelliste allerhand Literatur an.

Ich würde mich freuen, wenn wir im Kommentar- und Informationsbrief NEUE POLITIK für die Experten-Kommission Vorarbeit leisten könnten. Schicken Sie mir gut verfaßte Beiträge, zwei bis drei Seiten, die sich mit den Themen dieses Aufsatzes, und darüber hinaus, beschäftigen. Danke schön!
 
     
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