Dieter Kersten - November / Dezember 2009

   
 

Die neue Ordnung

 
     
 

(D.K.) Ein Kapitel aus dem Buch Politische Reformation, 1949, von Artur Mahraun. Ich biete das Buch in antiquarischer Qualität in der Buchliste an. Sie finden außerdem Literatur von und über Artur Mahraun im Buchshop auf diesen Seiten.

In der Begriffswelt der griechischen und römischen Demokratie spielt die Volksversammlung eine entscheidende Rolle. Die Gemeindefreiheiten standen bei allen europäischen Völkern am Anfang einer politischen Entwicklung. Den germanischen Völkern galt die Gemeinde als der politische Ursprung aller Dinge. Die Zusammenkunft aller freien Männer, die Volksversammlung, gab diesem Ordnungsprinzip Inhalt und Leben. Ersetzen wir in unserer Zeit den alten Begriff des freien Mannes durch den modernen Begriff des wahlberechtigten Staatsbürgers! Die Volksversammlung dieser Vergangenheit war der Ausgangspunkt alles politischen Denkens und ein entscheidender Teiler im Rahmen jeder größeren Raumordnung. Besonderes Merkmal dieser Volksversammlung war das persönliche Verhältnis des Einzelmenschen zu ihrer Gesamtheit. Die Entwicklung des Obrigkeitsstaates beseitigte den ureuropäischen Begriff der Gemeinde und die damit verbundenen Freiheiten. Anstelle des einstigen Begriffes der Zusammenarbeit aller Freien trat der Begriff der Unterordnung in den Vordergrund. In vielen Staaten Europas wurde der freie Bürger zum unfreien Untertan und später zum ohnmächtigen Einzelglied der Masse. Diese Entwicklung führte in Deutschland zur völligen Unterhöhlung der ideellen und materiellen Ordnungsbegriffe der Vergangenheit. Die Industriewanderung der letzten Jahrhundertwende und das Aufkommen des Klassenkampfes halfen bei diesem Zerstörungswerk. Es ist bereits erwähnt worden, daß die Demokratien der angelsächsischen Staaten, der nordischen Länder, der Niederlande und der Schweiz im Gegensatz zu den anderen europäischen Ländern krisenfester geblieben sind. Der Grund dieser geschichtlichen Tatsache ist in der Entwicklung zu suchen. Die genannten Länder haben die Begriffe und Freiheiten der ureuropäischen Gemeinde besser erhalten können. Darin liegt auch heute noch ihre Stärke und der Vorzug einer besseren demokratischen Gesinnung und Haltung.

Die politische Entmündigung und Begriffsverwirrung des deutschen Menschen hat ein Ausmaß angenommen, das nicht nur ihn selbst sondern seine Nachbarn im engeren und weiteren Sinn bedroht. Der Versuch, diese Gefahr durch eine demokratische Ordnung zu bannen, ist gescheitert. Die technische Apparatur siegte zunächst über die Parteien. Dann siegte die Propaganda über den gesunden Menschenverstand, und nun leben alle Betroffenen in steter Sorge, daß der Zufall oder der Eigenwille geldmächtigen Dunkelmännern alle Macht des modernen Staates, Apparatur und Propaganda, in die Hände spielen kann. Die völlige Ohnmacht der Massen ist demgegenüber durch die furchtbaren zeitnahen Erlebnisse bewiesen. In dem Bestreben, ein erneutes Versagen der demokratischen Ordnung zu verhindern, drängt sich die Frage in den Vordergrund, ob die Wiederherstellung von Zuständen möglich ist, die nachweislich einen besseren Gemeinsinn erzeugt haben und den Einzelmenschen vor politischer Gleichgültigkeit, Unmündigkeit und Ohnmacht bewahrten.

Freiherr vom Stein hat in einer ähnlichen Zeit politischer Willenlosigkeit den Weg gewiesen. Er gab den Untertanen, die jedes Gefühl der politischen Zusammenarbeit unter sich und der Mitarbeit am Staate verloren hatten, mit der Selbstverwaltung der Städte den lebensnahen Raum wieder, in dem sich die verlorengegangenen bürgerlichen Tugenden entwickeln konnten. Heute haben sich die allgemeinen Verhältnisse so gewandelt, daß seine Maßnahmen nicht mehr genügen.

Wenn man aber seine Grundsätze auf die heutige Zeit überträgt, so ergibt sich die Notwendigkeit, wiederum durch sinnvolle Reformen einen lebensnahen Raum zu schaffen, in dem sich der Gemeinsinn entfalten kann.

Niemand wird auf den Gedanken kommen, daß eine Volksversammlung bei den Millionenziffern heutiger Gemeinwesen durchführbar wäre. Es ist aber durchaus möglich, durch eine Aufteilung der Massen eine Summe von entsprechenden Einrichtungen zu schaffen, welche, jede für sich, dem Einzelmenschen alle Segnungen der politischen Heimat wiedergeben können. Das bedeutet die Schaffung eines Ordnungsprinzips zur Verwirklichung der an die Demokratie geknüpften Ideale.

Eine solche Aufgliederung der Massen stellt die Forderung, daß die Einzelmenschen innerhalb dieser neuen Einrichtung im gleichgearteten Verhältnis zueinander und zum Ganzen stehen und daß die Summe dieser neuen Einrichtungen unter sich gleich ist. Jedes Abweichen von diesen Forderungen würde ein unorganisches und undemokratisches Bild ergeben und neuer Willkür die Tore öffnen. Dagegen führt eine Erfüllung dieser Forderungen unweigerlich zum neuen Ordnungsprinzip der nachbarschaftlichen Gliederung.

Ihr zufolge wird die Gesamtheit der wahlberechtigten Staatsbürger in Nachbarschaften aufgeteilt. Jede Nachbarschaft ist in Bezug auf die Zahl ihrer Mitglieder, ihre innere Organisation und Einordnung in die Gesamtheit der andern gleich.

Mitglied der Nachbarschaft ist jeder wahlberechtigte Staatsbürger .

Die Höhe der Zahl, welche zum Teiler in diesem Organisationsprinzip bestimmt ist, ergibt sich aus der Forderung, daß die Volksversammlung eine übersichtliche und arbeitsfähige Einrichtung bleibt. Wo sie auf Grund ihres Umfanges dazu nicht in der Lage ist, würde der Begriff der nachbarschaftlichen Gemeinde aufhören und der Begriff der Masse wieder beginnen. Reiche Überlegungen und Erfahrungen fordern die Festsetzung der Zahl 500 als feststehenden Teiler.

Der Zusammentritt der wahlberechtigten Bürger einer Nachbarschaft stellt die nachbarliche Volksversammlung dar. Die Beteiligung des einzelnen an dieser Volksversammlung muß immer freiwillig bleiben, weil die Freiwilligkeit jeder Mitarbeit der unentbehrliche Spiegel der Volksverbundenheit dieses Systems ist. Die Volksversammlung wählt in geheimer, freier und gleicher Wahl nach einem Wahlsystem, welches keinerlei organisatorische oder technische Mittel zur Voraussetzung macht.

Sie wählt den Vorsitzenden und die Beisitzer. Unter den letzteren muß, wenn der Vorsitzende ein Mann ist, eine Frau sein.

Die Volksversammlungen finden selbsttätig nach längeren Zeitabschnitten statt. Über die Abhaltung weiterer Volksversammlungen entscheidet die nachbarliche Volksversammlung selbst. Die Möglichkeit einer Einberufung auf Wunsch der staatlichen Behörden muß einbegriffen sein.

Die innere Ordnung und Betätigung der Nachbarschaften muß auf verfassungsmäßigem Wege allgemein geregelt werden.

Ihre Funktionen ergeben sich aus der allgemeinen Entwicklung dieses neuen Ordnungsprinzips. Sie sind das Ergebnis eines gesunden, erst nach der Schaffung dieser Gliederung möglichen Ringens zwischen Volk und Staat. Sie sind nicht gleichbleibend, sondern den Notwendigkeiten und Erfordernissen der jeweiligen Gegenwart unterworfen. Das politische Leben der Nachbarschaft entwickelt sich aus der praktischen Zusammenarbeit gleichberechtigter Bürger. Es hieße der Entwicklung vorgreifen, wenn man die Fülle der Funktionen beschreiben wollte, welche dieser Einrichtung des neuen Ordnungsprinzips zufallen. Die Erfahrung hat bereits bewiesen, daß mit dem Vorhandensein der Nachbarschaft ein völlig neues politisches Leben beginnt. Das Bewußtsein des Volkes, eine Organisation seiner selbst zu besitzen, stellt den Glauben an den Sinn der politischen Mitarbeit wieder her.
Der Sieg des Menschen über die Organisation offenbart sich in der Handlungsfähigkeit der Allgemeinheit.

Die Vergewaltigung dieser Allgemeinheit durch organisierten Terror wesensfremder Minderheiten wird zur Unmöglichkeit. Der unergründlichen Propaganda technischer und organisatorischer Machtmittel kann ein wohlgegliedertes Volk eine eigene Meinung entgegenstellen.

Indem es eine Organisation seiner selbst besitzt, hat es auch die Möglichkeit, jederzeit eine allgemeine freie und gleiche Abstimmung auszulösen, ohne geldmächtige Gruppen um die Finanzierung einer solchen Abstimmung anbetteln zu müssen.

 
     
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