Dieter Kersten - Januar / Februar 2011

   
 

Endstation Knast

 
     
 

(D.K.) Den nachfolgenden Artikel habe ich der Tageszeitung JUNGE WELT vom 24./25. Juli 2010 entnommen. Leser Joachim Scharoun hat mich auf diesen Beitrag aufmerksam gemacht.

Mumia Abu-Jamal, Afro-Amerikaner, ist US-Bürger, und sitzt seit 1982 in einem us-amerikanischen Gefängnis. Abu-Jamal ist wegen Mordes an einem weißen Polizisten zum Tode verurteilt worden. Abu-Jamals Anhänger und Verteidiger versuchen seine Freilassung zu erreichen, sind aber immer wieder gescheitert. Sie versuchen derzeit eine erneute Verhängung der Todesstrafe zu verhindern. Das Todesurteil selbst wurde am 27. März 2008 zunächst aufgehoben. Der Oberste Gerichtshof der Vereinigten Staaten bestätigte im weiteren Verlauf am 6. April 2009 den ursprünglichen Schuldspruch und verwies am 19. Januar 2010 das Verfahren an das Berufungsgericht zurück. Für den Fall der erneuten Verhängung der Todesstrafe hat der zuständige Gouverneur, der Demokrat Edward Rendell, klargemacht, daß er von seinem Gnadenrecht keineswegs Gebrauch machen wolle.

Mumia Abu-Jamal ist aus dem Knast heraus politisch, journalistisch und schriftstellerisch tätig. Er ist sozusagen Insider eines Justiz- und Haftsystems, welches in seiner Menschenverachtung noch keine Verbrechen verhindert hat.

Ob Mumia Abu-Jamal schuldig ist oder nicht, kann ich nicht entscheiden. Es fällt jedoch auf, daß bei der Verurteilung seine Hautfarbe eine große Rolle gespielt hat. Wäre seine Hautfarbe weiß und die Hautfarbe des Polizisten schwarz, dann würde das Urteil mit Sicherheit sehr mild ausgefallen sein, ja, er wäre vermutlich freigesprochen worden.

Endstation Knast
von Mumia Abu-Jamal
Übersetzung: Jürgen Heiser

Was das Wegsperren von Menschen betrifft, sind die USA weltweit führend. Die nackten Zahlen belegen das. Im internationalen Vergleich leben in den USA nur etwa fünf Prozent der Weltbevölkerung, aber von allen Gefängnisinsassen der Welt befinden sich 24 Prozent in den USA hinter Gittern. Nahezu einer von hundert US-Bürgern sitzt in der Zelle eines Untersuchungs- oder Strafgefängnisses oder im Todestrakt. Zu Beginn des Jahres 2008 waren 2,3 Millionen Männer und Frauen eingesperrt. Kein anderes Land hat so viele Gefangene.

Die Öffentlichkeit, ja selbst die meisten Betroffenen sind sich der Dramatik des Problems nicht bewußt. Die Medien behandeln das Thema kaum, und eine gesellschaftliche Debatte findet nicht statt. Eine junge afroamerikanische Wissenschaftlerin, die Jura­Professorin Michelle Alexander, hat kürzlich ein Buch vorgelegt, das diesen Mangel beheben könnte. Ihr Werk »The New Jim Crow: Mass Incarceration in the Age of Colorblindness« ist in jeder Hinsicht bahnbrechend. Sie befaßt sich darin ausführlich mit der Geißel der massenhaften Inhaftierung, die insbesondere die nichtweiße Bevölkerung betrifft, und analysiert die sozialen und politischen Auswirkungen dieses gesellschaftlichen Phänomens. Alexander stellt die Orgie der Masseninhaftierung von US-Bürgern in ihren historischen Kontext und vergleicht die heutige Situation mit der finsteren Periode nach dem Amerikanischen Bürgerkrieg ab etwa 1877, als rassistische und terroristische Akte gegen die schwarze Bevölkerung vor allem in den US-Südstaaten explosionsartig anstiegen.

Hinter diesen Greueltaten standen Gruppierungen wie der Ku Klux Klan, die sich meist aus den demobilisierten Truppen der konföderierten Armee der Sklavenhalter rekrutierten. In dieser Zeit beendeten die Unionsstaaten des Nordens die militärische Besetzung der Südstaaten, woraufhin diese sehr schnell die so genannten Jim-Crow-Gesetze erließen, mit denen die errungenen Bürgerrechte der Schwarzen wieder eingeschränkt wurden. Das Wahlrecht wurde ihnen verweigert, und schon wegen Lappalien wie »ungebührlichem Verhalten« konnten sie hart bestraft werden. Vergehen, für die Weiße selbstverständlich nicht belangt wurden.

Mit dem rapiden Anwachsen der Gefängnispopulation richteten die Südstaaten ein Gefangenenmietsystem ein. Eine Innovation, die es den wirtschaftlichen und politischen Eliten erlaubte, nunmehr erneut die »freie« schwarze Arbeitskraft auszubeuten. Faktisch war das die Wiedereinführung der Sklaverei unter verändertem Vorzeichen und unter anderem Namen. Und obendrein abgesegnet durch die Washingtoner Zentralregierung.

Heute befinden sich über eine Million afroamerikanische Männer und Frauen im »gefängnisindustriellen Komplex«. Ein ständig wachsender Wirtschaftszweig, in dem das US-Kapital Milliardengewinne mit der Zwangsarbeit der Gefangenen macht. Da wundert es nicht, daß die Gerichte gerade junge Angeklagte im besten Arbeitsalter für geringfügige Delikte zu immer längeren Haftstrafen verurteilen.

Die steigende Zahl derer, die sich nach der Entlassung durch ein von Arbeits- und Obdachlosigkeit und Schulden gezeichnetes Leben mogeln müssen, weil sie vorbestraft sind, umfaßt weitere Millionen. Wer den Stempel »vorbestraft« in seinen Akten trägt, ist nur vordergründig betrachtet ein freier Bürger. Tatsächlich darf er nicht wählen, keine Sozialwohnung anmieten, kein Hochschulstipendium beantragen, und er wird von weiten Bereichen der Arbeitswelt ausgeschlossen. Mit anderen Worten ist es wie nach dem Ende der Sklaverei: »Frei« zu sein bedeutet noch lange nicht, wirklich frei zu sein.

Das Problem setzt sich fort, weil sich die Höhe der Sozial-, Bildungs- und Nahverkehrshaushalte der Kommunen nach den Einwohnerzahlen richtet. Die meisten Gefängnisse liegen in den USA in abgeschiedenen ländlichen und zumeist von Weißen bewohnten Gebieten. Diese kleinen weißen Gemeinden profitieren von den vorwiegend nichtweißen Gefangenen, weil diese dort amtlich gemeldet sind. In ihren Heimatstädten jedoch fehlen sie, was zur Reduzierung der an der Einwohnerzahl orientierten Ausschüttung von Bundesmitteln an die kommunalen Haushalte führt. Auf diese Weise werden die Ghettos nicht nur Schritt für Schritt entvölkert und praktisch ganze Gesellschaftsgruppen in Gefängnisse gesteckt, sondern ihnen werden auch die Etatmittel entzogen, die so dringend gebraucht würden, um das weitere soziale Abdriften kompletter Stadtteile zu verhindern.

Dramatisch sind die Folgen der Aberkennung des Wahlrechts für Inhaftierte und Vorbestrafte, weil Millionen von Menschen davon ausgeschlossen werden, sich auf der parlamentarischen Ebene für eine Veränderung ihrer Lebensverhältnisse einzusetzen. Konkret sah das beispielsweise bei der Präsidentschaftswahl des Jahres 2000 so aus, daß George W. Bush das von seinem Bruder Jeb regierte Florida mit weniger als 500 Stimmen Vorsprung vor seinem Kontrahenten Al Gore gewann. Allein 50000 Vorbestrafte waren in Florida von der Wahl ausgeschlossen, und da die meisten von ihnen Afroamerikaner waren, kann mit Fug und Recht behauptet werden, daß sie mehrheitlich für die Demokratische Partei gestimmt hätten.

 
     
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