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Liebe Mitstreiterinnen, liebe Mitstreiter, sehr geehrte Damen und Herren,
die Ereignisse haben sich in den letzten sieben, acht Wochen überschlagen
und - wissen Sie noch, was alles gewesen ist? Die chinesische Jahrhundertflut,
wenn nicht Jahrtausendflut, ist noch im Gange, aber sie ist fast aus den
Nachrichten verschwunden. In dieser Ausgabe finden Sie einen kleinen Beitrag
dazu. Die Ereignisse in Bangladesch und im ehemaligen Burma, genau so
besorgniserregend, verschwinden im Nachrichtendschungel. Was sich zwischen
Nordkorea und Japan abspielt, ist undurchsichtig. Es kann durchaus sein,
daß die nordkoreanische Rakete nichts weiter ist, als eine Verkaufsdemonstration,
so wie u.U. ein Gewehrverkäufer mit dem Käufer auf einen Schießstand geht.
Der Geisteszustand der nordkoreanischen Führung scheint ja ohnehin paranoid
zu sein. Und in Japan gibt es genug Militär und politische Kreise, die
rüsten wollen. Afrika, immer noch in postkolonialen Wirren, zerfleischt
sich, mit europäisch/ us-amerikanischer Hilfe. Der Kongo ist ein künstliches
Gebilde, welches 1884 unter Vorsitz des deutschen Reichskanzlers Bismarck
auf der Berliner Kongo-Konferenz beschlossen wurde. Das galt damals als
eine politische Großtat, die ein weiteres Gemetzel verhinderte. Nun werden
die Karten neue gemischt. In der Gemengelage von europäischen und us-amerikanischen
Eifersüchteleien und Macht- bzw. Rohstoffgier und natürlich auch alter
innerkongolesischer Abgrenzungsversuche würde es mich nicht wundern, wenn
der Kongo zerfallen würde. Sie brauchen sich nur an den vergeblichen Abtrennungskrieg
der Kongo-Provinz Katanga von 1960 bis 1963 erinnern. Zu den russischen
Wirren finden Sie in dieser Ausgabe ebenfalls einen extra Beitrag. Ministerpräsident
Tschernomyrdin spricht von Wirtschaftsdiktatur, die er einführen will,
naja, da soll er mit seiner eigenen Steuererklärung mal anfangen. Die
politischen Beiträge aus Moskau klingen nicht sehr professionell und sind
vielleicht beim Erscheinen dieser Ausgabe längst überholt. Der Crash an
den Aktienbörsen, der ja mit der Rußlandkrise in einen engen Zusammenhang
gebracht wird, zeigt mehr als deutlich, wie intensiv der internationale
Kapitalmarkt von der Hoffnung lebt, ein für den Kapitalismus noch fast
jungfräuliches Land wie Rußland in die Zinsausbeutung nehmen zu können.
Das gilt übrigens auch für die Asienkrise, in der China eine besondere
Rolle spielt.
Nahezu herzerfrischend empfinde ich dann, wenn in einem völlig anderen
Stil eine Kritik geübt wird, mit der ich sehr viel anfangen kann. In der
Wochenzeitschrift FREITAG vom 21. August führte Stefan Fuchs ein Gespräch
mit dem französischen Soziologen Pierre Bourdieu. Dieser Beitrag hat die
Überschrift Priesterlicher Hochmut und die Unterüberschrift Pierre
Bourdieu über die religiösen Dogmen des Neoliberalismus, über Sozialdarwinismus
und >> Kompetenz << als Herrschaftsform. Schon diese
Unterüberschrift sagt ja einiges aus. Aber kommen wir zu dem Absatz, den
ich für Sie markiert habe: Das Fatale an den mathematischen Modellbildungen,
die im Augenblick in den Wirtschaftswissenschaften so hoch im Kurs sind,
ist ihre gesellschaftspolitische Instrumentalisierung. Das funktioniert
wie in dem Buch des amerikanischen Historikers Arthur Lovejoy Die
große Kette der Wesen. (D.K.: ich biete Ihnen das Taschenbuch
in der Bestelliste an) Darin behandelt er mythologische Vorstellungen
bei den Philosophen in der Nachfolge Platons, bis Plotin etwa. Deren Weltbild
beruhte darauf, daß eine Kette das höchste Wesen mit den niedrigsten verbindet.
An einem Ende also Gott und am anderen Ende die Erde, der Staub. Die Ideologie
des Neoliberalismus funktioniert genauso. Am oberen Ende einige Wirtschaftswissenschaftler
wie Lerneth Arrow, DŽbreu mit ihren erhabenen mathematischen Gleichungen,
die völlig abstrakt sind, von denen sie selbst sich fragen, wie man eine
direkte praktische Anwendung daraus ableiten kann. Am anderen Ende dieser
Kette stehen die Wirtschaftjournalisten, die Leitartikler, die Zentralbankdirektoren,
die so halbwegs etwas vom Mechanismus von Angebot und Nachfrage wissen,
ein paar wirtschafttheorietische Termini kennen, auf die aber immer etwas
vom Glanz der hehren Wissenschaft herabfällt. An einem Ende Gott, am anderen
irgendein Professor in der Provinz, der behaupten kann, er vertrete die
reine Wissenschaft. Das ist das Prinzip des Neoliberalismus, eine Religion,
die sich mit dem Glanz der Wissenschaft ausstaffiert. Im Vergleich zu
heute waren die Aufklärer des 18. Jahrhunderts in einer beneidenswerten
Situation, sie kämpften gegen den Obskurantismus, gegen hinterwäldlerische
Pfaffen. Heute kämpfen wir gegen Pfaffen, die mathematische Gleichungen
aufstellen und sich ungeheuer wissenschaftlich gebärden.
Zurück zu unserer bundesrepublikanischen Wirklichkeit. Das Deutsche Grundgesetz
wurde am 1. September 1998 gefeiert. Als am 10. August 1948 die Konferenz
der damals bestehenden deutschen Länder unter der Herrschaft der Besatzungsmächte
der Franzosen, der Briten und der US-Amerikaner stattfand, standen die
Repräsentanten der deutschen Länder unter der sowjetischen Herrschaft
buchstäblich und körperlich vor der Tür. Sie wurden nicht reingelassen,
denn die deutsche Teilung war bereits Programm der westlichen Herrschaften.
Das bundesrepublikanische Grundgesetz wurde dann folgerichtig dem Volk
der deutschen West-Staaten gar nicht erst zur Abstimmung vorgelegt. Es
enthielt den Passus, daß die Deutschen sich nach der "Wiederherstellung"
der Deutschen Einheit eine Verfassung geben sollten. Auch das ist nicht
geschehen. Die bundesdeutsche, teildeutsche verfassungspolitische Wirklichkeit
begann 1948 mit einer großen Lüge und die Lüge wurde bis in die heutige
BRD fortgeführt: wir Deutschen haben weder einen Friedensvertrag, noch
durften die Bürger über eine Verfassung abstimmen. Soviel zur verfassungspolitischen
Verlogenheit der Festredner vom 1. September 1998.
Die herrschenden Parteien, das sind CDU/CSU, F.D.P., SPD und BÜNDNIS
90/DIE GRÜNEN sind nicht wählbar. Wählen Sie bitte eine
Partei, die nicht an der Macht ist - oder wählen Sie ungültig.
Zum Schluß noch ein paar Worte in eigener Sache. Die Bezieherzahl des
Kommentar - und Informationsbriefes nimmt kontinuierlich ab. Dieser ungute
Trend muß in das Gegenteil gewendet werden. Ich brauche dazu Ihre Hilfe:
bitte kritisieren Sie mich, wo Sie nur können, und zwar so, daß der Kommentar-und
Informationsbrief NEUE POLITIK lebhafter wird. Die Abnahme der Bezieherzahl
ist auch ein wirtschaftliches Problem, welches u.a. dadurch zu bewältigen
ist, wenn Sie tz.B .mehr Bücher bestellen. Diese Bestellungen können über
die angebotenen Bücher hinausgehen. Ich bin - soweit wie es mir möglich
ist - gerne behilflich, zu bestimmten Themen Buchtitel zusammenzustellen.
Ich bin auch bereit, bei rechtzeitiger Absprache, Freiexemplare des Kommentar
- und Informationsbriefes zur Verfügung zu stellen. Einige Abonnenten
haben Patenabos bezahlt. Auch das ist eine Möglichkeit, die Zahl der Bezieher
zu erhöhen. Vielleicht gibt es auch andere Möglichkeiten. Denken Sie bitte
darüber nach.
Mit freundlichen Grüßen
Dieter Kersten
abgeschlossen am 11. September 1998 |
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