Dieter Kersten - September 1998    
Editorial    
     
 

Liebe Mitstreiterinnen, liebe Mitstreiter, sehr geehrte Damen und Herren,

die Ereignisse haben sich in den letzten sieben, acht Wochen überschlagen und - wissen Sie noch, was alles gewesen ist? Die chinesische Jahrhundertflut, wenn nicht Jahrtausendflut, ist noch im Gange, aber sie ist fast aus den Nachrichten verschwunden. In dieser Ausgabe finden Sie einen kleinen Beitrag dazu. Die Ereignisse in Bangladesch und im ehemaligen Burma, genau so besorgniserregend, verschwinden im Nachrichtendschungel. Was sich zwischen Nordkorea und Japan abspielt, ist undurchsichtig. Es kann durchaus sein, daß die nordkoreanische Rakete nichts weiter ist, als eine Verkaufsdemonstration, so wie u.U. ein Gewehrverkäufer mit dem Käufer auf einen Schießstand geht. Der Geisteszustand der nordkoreanischen Führung scheint ja ohnehin paranoid zu sein. Und in Japan gibt es genug Militär und politische Kreise, die rüsten wollen. Afrika, immer noch in postkolonialen Wirren, zerfleischt sich, mit europäisch/ us-amerikanischer Hilfe. Der Kongo ist ein künstliches Gebilde, welches 1884 unter Vorsitz des deutschen Reichskanzlers Bismarck auf der Berliner Kongo-Konferenz beschlossen wurde. Das galt damals als eine politische Großtat, die ein weiteres Gemetzel verhinderte. Nun werden die Karten neue gemischt. In der Gemengelage von europäischen und us-amerikanischen Eifersüchteleien und Macht- bzw. Rohstoffgier und natürlich auch alter innerkongolesischer Abgrenzungsversuche würde es mich nicht wundern, wenn der Kongo zerfallen würde. Sie brauchen sich nur an den vergeblichen Abtrennungskrieg der Kongo-Provinz Katanga von 1960 bis 1963 erinnern. Zu den russischen Wirren finden Sie in dieser Ausgabe ebenfalls einen extra Beitrag. Ministerpräsident Tschernomyrdin spricht von Wirtschaftsdiktatur, die er einführen will, naja, da soll er mit seiner eigenen Steuererklärung mal anfangen. Die politischen Beiträge aus Moskau klingen nicht sehr professionell und sind vielleicht beim Erscheinen dieser Ausgabe längst überholt. Der Crash an den Aktienbörsen, der ja mit der Rußlandkrise in einen engen Zusammenhang gebracht wird, zeigt mehr als deutlich, wie intensiv der internationale Kapitalmarkt von der Hoffnung lebt, ein für den Kapitalismus noch fast jungfräuliches Land wie Rußland in die Zinsausbeutung nehmen zu können. Das gilt übrigens auch für die Asienkrise, in der China eine besondere Rolle spielt.

Nahezu herzerfrischend empfinde ich dann, wenn in einem völlig anderen Stil eine Kritik geübt wird, mit der ich sehr viel anfangen kann. In der Wochenzeitschrift FREITAG vom 21. August führte Stefan Fuchs ein Gespräch mit dem französischen Soziologen Pierre Bourdieu. Dieser Beitrag hat die Überschrift Priesterlicher Hochmut und die Unterüberschrift Pierre Bourdieu über die religiösen Dogmen des Neoliberalismus, über Sozialdarwinismus und >> Kompetenz << als Herrschaftsform. Schon diese Unterüberschrift sagt ja einiges aus. Aber kommen wir zu dem Absatz, den ich für Sie markiert habe: Das Fatale an den mathematischen Modellbildungen, die im Augenblick in den Wirtschaftswissenschaften so hoch im Kurs sind, ist ihre gesellschaftspolitische Instrumentalisierung. Das funktioniert wie in dem Buch des amerikanischen Historikers Arthur Lovejoy Die große Kette der Wesen. (D.K.: ich biete Ihnen das Taschenbuch in der Bestelliste an) Darin behandelt er mythologische Vorstellungen bei den Philosophen in der Nachfolge Platons, bis Plotin etwa. Deren Weltbild beruhte darauf, daß eine Kette das höchste Wesen mit den niedrigsten verbindet. An einem Ende also Gott und am anderen Ende die Erde, der Staub. Die Ideologie des Neoliberalismus funktioniert genauso. Am oberen Ende einige Wirtschaftswissenschaftler wie Lerneth Arrow, DŽbreu mit ihren erhabenen mathematischen Gleichungen, die völlig abstrakt sind, von denen sie selbst sich fragen, wie man eine direkte praktische Anwendung daraus ableiten kann. Am anderen Ende dieser Kette stehen die Wirtschaftjournalisten, die Leitartikler, die Zentralbankdirektoren, die so halbwegs etwas vom Mechanismus von Angebot und Nachfrage wissen, ein paar wirtschafttheorietische Termini kennen, auf die aber immer etwas vom Glanz der hehren Wissenschaft herabfällt. An einem Ende Gott, am anderen irgendein Professor in der Provinz, der behaupten kann, er vertrete die reine Wissenschaft. Das ist das Prinzip des Neoliberalismus, eine Religion, die sich mit dem Glanz der Wissenschaft ausstaffiert. Im Vergleich zu heute waren die Aufklärer des 18. Jahrhunderts in einer beneidenswerten Situation, sie kämpften gegen den Obskurantismus, gegen hinterwäldlerische Pfaffen. Heute kämpfen wir gegen Pfaffen, die mathematische Gleichungen aufstellen und sich ungeheuer wissenschaftlich gebärden.

Zurück zu unserer bundesrepublikanischen Wirklichkeit. Das Deutsche Grundgesetz wurde am 1. September 1998 gefeiert. Als am 10. August 1948 die Konferenz der damals bestehenden deutschen Länder unter der Herrschaft der Besatzungsmächte der Franzosen, der Briten und der US-Amerikaner stattfand, standen die Repräsentanten der deutschen Länder unter der sowjetischen Herrschaft buchstäblich und körperlich vor der Tür. Sie wurden nicht reingelassen, denn die deutsche Teilung war bereits Programm der westlichen Herrschaften. Das bundesrepublikanische Grundgesetz wurde dann folgerichtig dem Volk der deutschen West-Staaten gar nicht erst zur Abstimmung vorgelegt. Es enthielt den Passus, daß die Deutschen sich nach der "Wiederherstellung" der Deutschen Einheit eine Verfassung geben sollten. Auch das ist nicht geschehen. Die bundesdeutsche, teildeutsche verfassungspolitische Wirklichkeit begann 1948 mit einer großen Lüge und die Lüge wurde bis in die heutige BRD fortgeführt: wir Deutschen haben weder einen Friedensvertrag, noch durften die Bürger über eine Verfassung abstimmen. Soviel zur verfassungspolitischen Verlogenheit der Festredner vom 1. September 1998.

Die herrschenden Parteien, das sind CDU/CSU, F.D.P., SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sind nicht wählbar. Wählen Sie bitte eine Partei, die nicht an der Macht ist - oder wählen Sie ungültig.

Zum Schluß noch ein paar Worte in eigener Sache. Die Bezieherzahl des Kommentar - und Informationsbriefes nimmt kontinuierlich ab. Dieser ungute Trend muß in das Gegenteil gewendet werden. Ich brauche dazu Ihre Hilfe: bitte kritisieren Sie mich, wo Sie nur können, und zwar so, daß der Kommentar-und Informationsbrief NEUE POLITIK lebhafter wird. Die Abnahme der Bezieherzahl ist auch ein wirtschaftliches Problem, welches u.a. dadurch zu bewältigen ist, wenn Sie tz.B .mehr Bücher bestellen. Diese Bestellungen können über die angebotenen Bücher hinausgehen. Ich bin - soweit wie es mir möglich ist - gerne behilflich, zu bestimmten Themen Buchtitel zusammenzustellen. Ich bin auch bereit, bei rechtzeitiger Absprache, Freiexemplare des Kommentar - und Informationsbriefes zur Verfügung zu stellen. Einige Abonnenten haben Patenabos bezahlt. Auch das ist eine Möglichkeit, die Zahl der Bezieher zu erhöhen. Vielleicht gibt es auch andere Möglichkeiten. Denken Sie bitte darüber nach.

Mit freundlichen Grüßen

Dieter Kersten

abgeschlossen am 11. September 1998

 
     
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