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Liebe Mitstreiterinnen, liebe Mitstreiter, sehr geehrte Damen und Herren,
am 27. September sind erst einmal die Würfel gefallen. Zu dem Wahlspektakel
und den Tagen danach finden Sie einen Beitrag auf Seite 2. Auffallend
viel ist in den letzten Tagen von einer Berliner Republik und von einer
Achse Bonn (Berlin), Paris und London gesprochen worden. Daß Schröder
als erstes nach Paris reiste, und zwar bevor er zum Bundeskanzler gewählt
worden ist, das kann ich nur begrüßen. Eine Einladung aus London liegt
ebenfalls vor. Ich würde Herrn Schröder raten, dann nach Prag, Warschau
und Moskau zu fahren und dann erst nach Washington. Genau in dieser Reihenfolge.
Statt dessen reist Herr Schröder (SPD), im Schlepptau Herr Fischer von
Bündnis 90/Die Grünen, gehorsamst nach Washington - auch vor seiner Wahl
zum Bundeskanzler. Er holt sich sozusagen den höchsten Segen.
Europäische Politik muß Vorrang vor transatlantischer Politik haben.
In Westeuropa muß Herr Schröder auf eine gemeinsame europäische Außenpolitik
drängen, die die unterschiedlichen geschichtlichen Erfahrungen und die
nationalen Besonderheiten berücksichtigt bzw. so verarbeitet, damit sie,
die Außenpolitik, einer europäischen Identitätsfindung dient. Wichtig
ist auch, daß Herr Schröder auf eine europäische Verfassung drängt, auf
europäische Verfassungsorgane, die die europäische Bürokratie in Zaum
hält.
Ich halte es nach wie vor für notwendig, daß Europa, und wenn auch nur
das EURO - Europa, atomwaffenfrei ist, bis zur der letzten Patrone abrüstet
und als ein waffen-und militärfreies Land seine Neutralität in militärischen
Konflikten erklärt.
Aber es ist nun mal so: realpolitisch ist, angesichts des festgefahrenen
Kosovo-Dramas, eine Entmilitarisierung und Neutralisierung Europas zur
Zeit illusorisch. Ich halte es für nötig, daß Herr Schröder die Leute
seines Lagers, die außenpolitisch versiert sind, unverzüglich ausschwärmen
läßt, um zu erkunden, ob das Morden im Kosovo ohne neues Morden (militärisches
Eingreifen der NATO) zu verhindern ist. Es sollte ausdrücklich keine Geheimdiplomatie
sein; wir haben als Volk ein Recht darauf, zu erfahren, was ein Primakov
und Milosevic, aber auch ein Herr Chirac über Menschenrechte und Frieden
denken und ob sie zu humanen Handlungen fähig sind. Die Protokolle dieser
Gespräche sollten in alle Sprachen übersetzt und soweit wie irgend möglich
an die betroffenen Völker (Menschen) verteilt werden. Zwei Haken haben
diese Vorschläge: was machen wir, wenn selbst die deutschen Emissäre nichts
von Menschenrechten verstehen bzw. davon nichts halten, und - was machen
wir, wenn Herr Milosevic und andere die Emissäre auslachen? Herr Rühe,
Verteidigungsminister des scheidenden deutschen Kabinetts, wird nicht
müde, immer wieder auf den kommenden Winter hinzuweisen. Er will mit deutschen
Kampfflugzeugen Menschenrechte schützen, d.h. Nahrung und Kohlen bringen.
Nun ist es müßig, einen bereits abgewählten Minister darauf hin zu weisen,
daß er in den vergangenen Jahren weder etwas gegen den serbischen Chauvinismus
noch etwas gegen den kosovo - albanischen Separatismus unternommen hat.
Es war doch zu schön: das Geschäft mit Waffen florierte. Wieso sollte
er das Geschäft stören! Nun ist das Kind in den Brunnen gefallen. Wenn
es einen militärischen Einsatz geben sollte, dann darf dieser nicht nur
ein Lufteinsatz sein, nach dem Motto, wasch` mir den Pelz, aber mach`
mich nicht naß, sondern es muß ein massiver Mannschaftseinsatz sein. Die
Deutschen sollten sich aber ganz raushalten, meinetwegen Nachschubwege
zur Verfügung stellen, aber um Gottes Willen keinen Soldaten nach Kosovo
und nach Serbien schicken. Wenn die russische Armee nicht in einem so
desolaten Zustand wäre, so würde ich Herr Primakov um diese humane Aktion
bitten, sozusagen als Nagelprobe darauf, ob er dazu bereit und in der
Lage ist, Menschenrechte wiederherzustellen.
Rußland kann nicht. Im Editional der September - Ausgabe brachte ich
die Rußlandkrise in einem Satz mit dem Börsen-Crash in Verbindung. Am
28. September lese ich in der Berliner Tageszeitung DER TAGESSPIEGEL im
Wirtschaftsteil folgende Überschriften: Die Wurzeln des Hedge-Fonds-Debakels
reichen tief mit der Unterüberschrift Die Krise in Rußland war
nur das Streichholz: Risikofonds und Wertpapierhäuser haben schon zuvor
Fehler gemacht und Das Vertrauen in die Finanzmärkte steht auf dem Spiel
mit der Unterüberschrift: Angst vor Schockwellen des abgestürzten Hedge-Fonds
LTCM - Vier-Milliarden-Dollar-Hilfsplan soll Zusammenbruch verhindern.
Es geht um das internationale Geldroulette der Banker. In dem zweiten
Artikel von Anita Raghavan und Mitchell Pacelle steht folgendes: Die
Federal Reserve Bank (Anmerk. D. K.: die Notenbank der USA, kurz
auch FED genannt; der Chef heißt Alan Greenspan) kämpft um ein Hilfspaket
für einen der erfolgreichsten Hedge-Fonds der 90er Jahre. In einer Reihe
von Treffen im Hauptsitz der New Yorker Fed in Manhattan hat die Fed 16
Geschäfts- und Investmentbanken dafür gewonnen, mit neuen Finanzspritzen
den riskanten Fonds zu unterstützen, der auf den internationalen Schuldenmärkten
gewaltige Verluste erlitten hat. .... Die Fed ist auch deswegen so um
das Schicksal von LTCM besorgt, weil dieser hochrangige Experten auf sich
vereinigt. Zu dem Staraufgebot gehören etwa David Mullins junior, früherer
Vizevorstand des Federal Reserve Board, der ehemalige Stanford-Student
Myron Scholes, der den Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften für seine
Arbeit über die Preisbestimmung bei Optionen gewonnen hat, und Robert
Merton, ein anderer Nobelpreisträger für Wirtschaft. ...
Aber zurück zu Herrn Primakov: er ist, so scheint es, integerer als Tschernomyrdin.
Primakov ist nicht so tief in den neureichen Sumpf Rußlands eingesunken.
Er scheint ein durchsetzungsfähiger Mann zu sein. Aber allem Anschein
nach fehlt es dem großen, reichen Rußland an politischem Personal, denn
es gelingt nicht, ein Krisenbewältigungs - Kabinett aufzustellen. Dabei
gibt es unterhalb der >> Hohen Politik << wichtige Initiativen,
die, gemessen an den Aufgaben und Notwendigkeiten, Tropfen auf den heißen
Stein zu sein scheinen. Jede dieser kleinen Initiativen ist jedoch ein
positiver Gedanke, die Menschen und einem Land helfen kann. Leser Norbert
Schenkel schreibt mir, daß er mit der biologisch - dynamischen Farm Bolotowo,
südlich von Moskau, verbunden ist. Norbert Schenkel schreibt: Weltuntergangsstimmung
sollten wir nicht aufkommen lassen, auch wenn die Rahmenbedingungen immer
enger werden. Es gibt viel Dunkles aber auch viel Lichtvolles auf der
Welt.
Wenn ich nun schon eine Leserzuschrift zitiert habe, so darf ich Ihnen
auch nicht einen Satz aus einem Brief von Dr. med. Joachim Mahler, anthroposophischer
Arzt und Leser, vorenthalten, der u.a. schrieb: Sie fragen nach Kritik.
Das ist schwierig. Das ganze Unternehmen müßte nicht kritisch gegenwarts
- und vergangenheitsbezogen alleine sein, sondern aus einer globalen Zukunftsperspektive
Richtlinien schöpfen für das, was wir ein menschenwürdiges Dasein nach
Leib-Seele-Geist nennen.
Ich kann beiden Lesern nicht widersprechen. Ich brauche Ihre Hilfe: die
Zeit frißt mich auf.
Mit freundlichen Grüßen
Dieter Kersten
abgeschlossen am 8. Oktober 1998 |
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