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Liebe Mitstreiterinnen, liebe Mitstreiter, sehr geehrte Damen und Herren,
Kontinuität ist das große (Ent-) Zauberwort der deutschen Politik. Ich
habe dieses politische Unwort nie so oft gehört, wie nach den Wahlen vom
27. September, und zwar sowohl von den neuen Koalitionären SPD und Bündnis
90/Die Grünen wie auch von der neuen Opposition CDU/ CSU. Die Beschwörung
der Kontinuität von Politik auf dem Parteitag der CDU am 7. November ist
eines der letzten Beispiele.
Kontinuität ist deshalb ein politisches Unwort, weil sich zu keiner Zeit
damit ein politisches Problem lösen läßt. Die Regierung Kohl/Waigel /Kinkel
ist doch abgewählt worden; weil sie es nicht vermocht hat, die konjunkturellen
und strukturellen wirtschaftlichen Probleme zu lösen und damit die Arbeitslosigkeit
zu beenden; sie hat es nicht fertig gebracht, das soziale Netz durch Eigenverantwortung
zu ergänzen; sie wollten nicht die europäische Zentralisierung durch dezentrale
Strukturen zu ersetzen; sie wollten nicht der Globalisierung die Regionalisierung
entgegenzustellen; sie waren nicht willens, die Funktion der Bundeswehr
neu zu bestimmen oder sie abzuschaffen. Der Gedanke war Ihnen fremd, eine
eigenständige deutsche oder europäische Außenpolitik durchzusetzen, die
der zur Zeit einzigen Weltmacht, der USA, die notwendigen Grenzen einer
absoluten Weltherrschaft setzt und die alte Regierung hat es nicht geschafft,
Deutschland zu demokratisieren.Die Liste kann fortgeführt werden.
In der Umkehrerwartung wollen die Wähler von der neuen Regierung Schröder/
Fischer die Lösung, die Erledigung der anstehenden politischen Probleme
und nicht Kontinuität. Es wäre ja fast zu verschmerzen, wenn die neue
Regierung sagen würde, wir müssen uns erst einarbeiten, obwohl, ehrlich
gesagt, sie doch alle Profis sind, denn sie sind doch alle, hoffentlich,
irgendwo ihrer Aufgabe als Opposition nachgekommen und haben im Parlament
die alte Bundesregierung kräftig kontrolliert. Sie kennen also z.B. die
aktuellen und zukünftigen Steuerzahlen. Wenn sie geschlafen haben, dann
sind sie zur Regierung nicht fähig.
Ich will nur mit drei Beispielen, so unzureichend sie sein mögen, schlaglichtartig
erhellen, was ich meine.
Lafontaine verkündete: Regulierung statt Deregulierung. Soll die Gängelung,
d.h. die Bürokratisierung, noch zunehmen? In der Wochenzeitschrift FREITAG
vom 16. Oktober wird von der 35jährigen Damenschneiderin und Modedesignerin
Ele Klein berichtet, die bei ihrer Unternehmensgründung nicht nur von
den Banken im Regen stehen gelassen worden ist, sondern auch vom Gewerbeaufsichtsamt
und von der Handwerkskammer: Eles Betrieb ist Ergebnis ihres Eigensinnes,
der zupackenden Hilfe ihrer Geschwister und Freunde - als Änderungsschneiderei
- Folge deutscher Regelitis. Die hohen Beiträge einer Damenschneiderei
für die Handwerkskammer und Landesversicherungsanstalt hätten sie auf
keinen grünen Zweig kommen lassen. Als Modedesignerin wiederum hätte Ele
sich zwar über die Künstlersozialkasse sozialversichern, aber nicht ein
einziges Kleidungsstück selbst fertigen dürfen, sondern nur entwerfen.
Also blieb der gelernten und studierten Fachfrau nur ein >> schneiderähnliches
Gewerbe << (Wortschatz des Gewerbeamtes) : eine >> Flickschneiderei
<<. Ele: >> An den Gedanken mußte ich mich erstmal gewöhnen.
<< Wenn es die Absicht der neuen Bundesregierung sein sollte,
Arbeitslosigkeit zu verringern, dann darf sie den Mittelstand nicht einengen.
Dazu gehört auch, alles zu tun, was eine Regionalisierung der Wirtschaft
fördert. Denn, zu den deutschen Überregulierungen kommen noch die bürokratischen
Muskelspiele der Brüsseler Eurokratie.
Regulieren sollten wir nur über einen neuen Gesellschaftsvertrag, Eine
neue Form mit einem neuen Inhalt! Das kann nur über eine Demokratisierung
der Gesellschaft erreicht werden.
Die Rücknahme einiger Entscheidungen der alten Regierung ist keine neue
Politik, zumindestens dann nicht, wenn über die Folgen nicht diskutiert
wird. Das gilt auch für die Aufgabe der Atomkraftwerke. Die Dinger müssen
weg! Es darf aber auch nicht passieren, daß wir die benötigte Elektroenergie
in Zukunft von französischen Atomkraftwerken beziehen oder daß wir mit
heimischer (schlechter) Braunkohle die Umwelt vergiften. Alternativen,
so wie sie von der WERKSTATT FÜR DEZENTRALE ENERGIEFORSCHUNG e.V. angeboten
werden, stehen nicht im Koalitionsvertrag. Alternativen heißen bei SPD
und Bündnis 90/Die Grünen Sonnen - und Windenergie. Und selbst bei diesen
Themen ist dem darin kompetenten SPD - Bundestagsabgeordneten Dr. Hermman
Scheer keine Chance der Mitwirkung geboten worden.
Von dem neuen Außenminister Fischer ist bekannt, daß er dem deutschen
Volk mißtraut und daß er deshalb jeden deutschen "Sonderweg"
in der Außenpolitik vermeidet. Deshalb also diese elende Kontinuität?
Aber was macht denn die deutsche Außenpolitik (und Wirtschaftspolitik)
z.B. in Sachen Ilisu-Staudamm in Südostanatolien? Heike Drillich beschreibt
in der Wochenzeitschrift FREITAG vom 6. November unter der Überschrift
Rot-grüner Lackmustest und unter der Unterüberschrift Hermes-Bürgschaften:
Fördert das Kabinett Schröder den umstrittenen Ilisu-Staudamm in der Türkei?,
wie viele Dörfer und Städte in den Fluten des Großprojektes versinken
werden. Aber was noch schlimmer ist: es geht bei diesen Staudämmen um
das Wasser in Nahost. Die irakischen und syrischen Befürchtungen sind
verständlich, zieht man Äußerungen von Staatspräsident Demirel in Betracht.
>> Wir haben das Recht, mit unserem Wasser zu tun oder
zu lassen, was uns beliebt <<, betonte er. >> Der Schnee,
der auf unsere Berge fällt, gehört nicht den Arabern. Dieses Wasser ist
unser Wasser. Das …l gehört dem, der …l hat, und das Wasser gehört dem,
der Wasser hat << Die Weltbank lehnte es aufgrund des Konfliktpotentials
des GAP (Anmerkung D.K.: so heißt das Staudamm - Projekt) bereits
1984 ab, den Atatürk-Staudamm zu finanzieren. (Der Fettdruck stammt
von mir. D.K.) Natürlich haben neben anderen europäischen Firmen die Deutschen
ihre Finger in den Geschäften rund um die geplanten Staudämme. Soll da
Fischer nun Kontinuität der Außenpolitik zelebrieren, was ja angesichts
der us-amerikanischen Türkeipolitik auch Abhängigkeit von der us-amerikanischen
Außenpolitik bedeutet? Soll deutsche Außenpolitik Konflikte verhindern
oder fördern?
Es wird weiterhin die Aufgabe des Kommentar-und Informationsbriefes NEUE
POLITIK sein, die Bundesregierung kritisch zu begleiten und die internationale
Politik zu kommentieren.
Ich danke den Leserinnen und Lesern für ihre Treue und meinen Mitarbeiterinnen
und Mitarbeitern für das Mitdenken und Mitarbeiten. Ich wäre erfreut,
wenn Sie zu Weihnachten möglichst viele Bücher aus der beiliegenden Bestelliste
und den alten Bestellisten verschenken würden. Politisieren Sie Ihre Freunde
und Verwandten! Sie wissen, ich kann Ihnen jedes Buch beschaffen. Das
hilft, den Kommentar- und Informationsbrief mit zu finanzieren.
Im Januar melde ich mich wieder. Bis dahin wünsche ich Ihnen ein FROHES
WEIHNACHTSFEST und ein glückliches, gesundes NEUES JAHR:
Mit freundlichen Grüßen
Dieter Kersten
abgeschlossen am 12. November 1998
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