Dieter Kersten - Mai 1999    
Editorial    
     
 

Liebe Mitstreiterinnen, liebe Mitstreiter, sehr geehrte Damen und Herren,

wie sehr auch schon vor dem unseligen Krieg in Jugoslawien sich politische Menschen mit der verlorengegangenen Mitte Deutschlands beschäftigt haben, zeigt der Beitrag von Adolf Dreesen über Eduard Goldstücker in der Wochenzeitung FREITAG vom 19. März anläßlich der Verleihung des Lessing - Preises an den tschechischen Germanisten: Die These von der Kollektivschuld der Deutschen lehnte er ab - doch seien die Deutschen, sagte er, im Verlauf ihrer Geschichte von der vermittelnden Rolle, die sie einst erfolgreich ausgefüllt hätten, abgewichen. Proportional zum Anwachsen ihrer Bedeutung, die sie gerade dieser Rolle verdanken. Hätten sie ihre historischen Wurzeln verkümmern lassen, je mehr sie ihren Traum von der nationalen Einheit verwirklicht hätten und je stärker sie wurden, desto offenkundiger sei ein Trend zur Monokultur und eine Anfälligkeit für die verschiedensten Infekte geworden. Worte, die heute wieder einen besonderen Klang haben.

Der Krieg in Jugoslawien beherrscht diese Ausgabe des Kommentar - und Informationsbriefes. Die öffentliche Darstellung des Krieges stimmt mit der Wirklichkeit nicht überein. Selbst dann, wenn Teile der anonymen Erklärung eines Insiders auf Seite 3 ff. mit Vorsicht zu behandeln wäre, gilt das für die offiziellen Verlautbarungen erst recht.

Ob es gefällt oder nicht: die PDS ist die einzige Antikriegspartei im Bundestag. Ich erinnere an die Bewilligung der Kriegskredite durch die SPD 1914; lediglich Karl Liebknecht, damals noch Mitglied der SPD-Fraktion, stimmte gegen die Aufnahme der Kredite und damit gegen den Krieg. Jetzt war es wieder ein Kommunist, nämlich der Abgeordnete Gysi, der den Eintritt Deutschlands in einen Krieg ablehnte, der möglicherweise der Beginn eines 3. Weltkrieges sein kann.

Nur der Vollständigkeit halber muß ich auf das Thema Menschenrechte eingehen. Zweifellos werden die Menschenrechte im Kosovo massiv verletzt. Was ist aber mit den 200 000 Serben, die von den Kroaten aus der Krajna vertrieben wurden und die immer noch in Barackenlagern hausen? Die Menschenrechtler jedweder Couleur auf der "westlichen" Seite haben diesen Verstoß gegen die Menschenrechte, der vom katholischen Kroatien mit dem Segen des Vatikans begangen wurde, weitgehend ignoriert. Eines der Lager ist übrigens von den NATO - Bombern beschossen worden. Wann kommen Tudjman, der Papst, Solana, Schröder und Co. vor ein Kriegsverbrechergericht? Die us-amerikanischen Heilsbringer tun nichts, gar nichts gegen die Verstöße gegen Menschenrechte in der Türkei (nicht nur gegen Kurden), in Ost-Timor, Ruanda, Burundi, Nigeria, Kongo, Mexiko, Peru, Israel/Palästina und in ihrem eigenen Land gegen die Indianer (immer noch).

Aber zurück nach Deutschland. In der Wochenzeitschrift FREITAG vom 16. April schreibt Stefanie Christmann unter der Überschrift Die SPD richtet sich im Krieg ein und unter der Unterüberschrift SPD - Sonderparteitag: Semantische Säuberung der Sprache zu Kriegszwecken - Schröder vertrieb die Worte aus ihrer Sinnverwurzeleung u.a. : Ein Vierteljahrhundert nach Hans Jonas Buch Das Prinzip Verantwortung entkernte die SPD das Wort Verantwortung und machte es zum Fetisch. Freiheit, Selbstbestimmung, ethisches Handeln, der aufklärerische Impetus - perdu. Weil das Wort Schröder und den Seinen ein blasses, aber magisches Abstraktum ist, konnten sie den Begriff als Schmieröl für die Kriegsmaschinerie entdecken und es hineinspritzen in das Getriebe der Gemüter. Der Kanzler raunte das Wort, beschwor die Verantwortung mit den Händen, den einknickenden Beinen, mit der ganzen Körperhaltung - und verriet sie prompt. Verantwortung tatsächlich zu übernehmen, verweigerte er sich. Mit dem Satz >> Die Belgrader Führung allein hat es in der Hand, den NATO - Einsatz zu beenden <<, legte er die Verantwortung für die Beendigung des Krieges ausschließlich in die Hände Milosevics, entband sich selbst aus der Verantwortung. Er verzichtete auf die Freiheit, selbst über das eigene Handeln zu entscheiden, machte ein souverän gewordenes Deutschland zur Marionette eines Kriegsverbrechers und sprach sich selbst damit gleichzeitig frei von der Verantwortung für und die Mitschuld an den Leiden der Zivilbevölkerung. In der gleichen Ausgabe von FREITAG schreibt Mario Scalla unter der Überschrift Private Rudolf und unter der Unterüberschrift Handkantenschläge: Ein Verlorengeglaubter spielt Kriegsminister über Herrn Scharping u. a folgendes: Was er kann, das demonstriert der Verkannte seit Kriegsausbruch, denn aus einem verschnarchten Sozi kann zwar nichts Gescheites, aber immer noch ein ordinärer Militarist werden. Vorher bestand sein Verhalten darin, abzuwiegeln und einzuschläfern, doch auf einmal mischt der Mann jede Talk-Show auf, indem er nimmermüde wider aller Kritiker schreit und pöbelt. Hätte er sich in seiner Partei immer so verhalten, wäre er jetzt Bundeskanzler. Reibungslos adaptiert Scharping die rhetorischen Muster, die ein Zivilist braucht, wenn er vor den Karren der Militärs gespannt wird. Unverdrossen erzählt er, wie schwer ihm das alles fällt und daß es keine Alternative gibt. Nur wenn er nach einem Ausweg befragt wird, verweist er monoton auf Milosevic als alleinigen Entscheidungsträger und leugnet eigene Handlungsoptionen (>> Der Schlüssel zur Beendigung der militärischen Aktionen liegt bei Milosevic <<; jetzt müßte die Begründung folgen, aber es geht weiter mit >> nirgendwo sonst <<), und es scheint bei ihm die Furcht durchzuschimmern, für diesen Kriegseinsatz irgendwann einmal verantwortlich gemacht zu werden. ... Manchmal nimmt Scharping Zuflucht zu einer Sprache, mit denen Kinder überzeugt werden sollen, so, wenn er behauptet, >> daß viele, viele Dörfer brennen << und regelmäßig untermauert er seine Tiraden mit Handkantenschlägen auf der Tischplatte....

Soweit ein kurzer Blick auf das Psychogramm deutscher Politiker.

Ihre berechtigte Frage, was denn nun zu geschehen habe, habe ich am Schluß des Beitrages auf Seite 2 ff versucht zu beantworten. Wem das zu wenig ist - was ich durchaus verstehen kann, der sollte sich das Flugblatt von Bernhard Schaeffer, welches auf einer der Friedensdemonstrationen in Berlin verteilt wurde, auf Seite 5 ansehen. Der weltweit niedrige Zins schreit förmlich nach Krieg, und zwar nach einem größeren Krieg als die vielen lokalen kriegerischen Auseinandersetzungen. Je mehr zerstört wird, desto mehr muß wieder investiert werden und desto eher steigt der Zins, d.h. also desto mehr kann das Kapital vermehrt werden. Der Zins wird allemal von den Bevölkerungen (Steuerzahlern) aufgebracht, die um so williger zahlen, je mehr Geld sie durch die einsetzende Inflation in der Lohntüte haben und je mehr Zinsen sie für ihr kleines Sparguthaben bekommen. Dabei merken sie nicht, daß der Wert ihrer Sparguthaben ständig abnimmt. Eine neue Geldordnung würde einen Krieg verhindern. Über diese neue Geldordnung ist in dem Kommentar- und Informationsbrief schon öfter geschrieben worden. In der Literaturliste finden Sie dazu einiges. Ich kann Sie von Ihrer Informationspflicht nicht befreien.

Die nächste Ausgabe erscheint erst Ende Juni. Ich bin zu einer Hochzeit in Nordgriechenland eingeladen. Hoffentlich erreicht uns dort nicht der Krieg.

Mit freundlichen Grüßen

Dieter Kersten

abgeschlossen 30. April 1999

 
     
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