Dieter Kersten - Juni 2000    
Editorial    
     
 

Liebe Mitstreiterinnen, liebe Mitstreiter, sehr geehrte Damen und Herren,

ist Deutschland ein Einwanderungsland oder ist es keines? Die niedrigedeutsche Geburtenrate, aber das noch relativ hohe industrielle Niveau und der Dienstleistungsstandard, die noch funktionierende Infrastruktur, das verlangt förmlich nach Einwanderung. Sie werden protestieren und wenden mit Recht ein, daß schon viele Fremde in unserem Land sind. Aber -Warum nehmt ihr lauter Taugenichtse? - so die Überschrift eines Beitrages von Sonja Margolina in der BERLINER ZEITUNG vom 1./2. April. Die Autorin weist in ihrem Beitrag nach, daß wir Deutschen aus mangelnden nationalen Selbstbewußtsein es versäumt haben, eine Einwanderungspolitik zu betreiben, die die Menschen in unser Land holt, die wirtschaftlich und möglicherweise auch kulturell gebraucht werden. Bisher bestimmten ungelernte Hilfsarbeiter, für die in den entwickelten Ländern nirgendwo Platz ist, oder auch akademisch gebildete Menschen aus Berufen, in denen wir selber genug Bewerber haben, die Statistik der ungeregelten Quasi-Einwanderung. Sonja Margolina berichtet, daß in Moskau unter den Kybernetik - und Informatik-Studienabgänger Deutschland nicht gefragt ist, weil es als dröges Rentnerparadies gilt, welches selbst nichts Zukunftsweisendes mehr zustande bringt und wo nichts los ist.

Es dürfen nur noch die einwandern, die in Deutschland von ihren beruflichen Qualifikationen her gebraucht werden. Das kann sich Jahr für Jahr ändern, sollte sich sogar, weil die zum Teil schnellen technischen Änderungen schnelle Reaktionen benötigen. Wir Deutsche in Ost und West haben uns während der Blockkonfrontationen an einen Wohlstand gewöhnt, der eine wirkliche Konkurrenz der Qualitäten in vielen Berufen ausschloß. In der WIRTSCHAFTSWOCHE Nr. 16 vom 13. April 2000 berichtet Aaron Bernstein unter der Überschrift Häßliche Flecken über Arbeitslosigkeit im Silicon Valley der USA. Silicon Valley ist nahezu das Synonym für die neuen elektronischen Techniken. Es heißt in diesem Artikel u.a.: Die Neue Wirtschaft belohnt nur gute Ausbildung und Qualifikation. Softwarenentwickler verdienen im Valley durchschnittlich 96 000 Dollar pro Jahr, und ihre Kollegen in der Halbleiterindustrie erhalten 86 000 Dollar. Die Arbeitskräfte in Einzelhandelsgeschäften, Hotels, Restaurants und ähnlichen Dienstleistungen -also in dem Sektor mit den meisten Beschäftigten- verdienen im Durchschnitt nur 23 000 Dollar pro Jahr.

Ich bin schon der Auffassung, daß wir den Vereinigten Staaten von Amerika nicht alles nachmachen sollten. Aber die Idee von der Qualifikation, einstmals Deutschlands Stärke, das sollten wir doch wieder aufgreifen, für uns und die zukünftigen Einwanderer.

Ein notwendiges Einwanderungsgesetz muß auch eine Eingliederung in den deutschen Kulturraum regeln. Das gilt vor allem für das Erlernen der deutschen Sprache und der deutschen Geschichte. Die Regeln sollten durchaus streng sein. Manchmal habe ich den Eindruck, daß viele deutsche Landsleute darin auch einen Nachholbedarf haben, insbesondere diejenigen, die so laut aufschreien, wenn es um die Konkurrenz mit Ausländern geht.

Aus aktuellem Anlaß -möglicherweise steht ein Streik im Öffentlichen Dienst bevor- muß ich ein paar Worte über zwei moralische Kategorien verlieren, die schon im Vorfeld eines solchen Arbeitskampfes in das politische Spiel gebracht werden. Ich empfinde es als ärgerlich, daß ausgerechnet die Gruppe in unserer Gesellschaft, die eine üble bürokratische Herrschaft über ihre Mitbürger ausübt, so daß Freiheit und Brüderlichkeit für viele nicht mehr erlebbar sind, mit den Begriffen Gleichheit und Solidarität hausieren geht. Die Bürokratie hat während des zwölf Jahre dauernden > Dritten Reiches < einen entscheidenden Herrschafts-Schub nach vorne bekommen, den sie, gestützt von einer kontinuierlich herrschenden Oligarchie und von der Mehrheit der Wähler, schamlos mißbraucht. In das Stammbuch der Akteure sei geschrieben, daß es Gleichheit nur vor dem Gesetz geben kann, denn die Menschen sind alle unterschiedlich, und daß es Solidarität nur geben kann, wenn sie umfassend alle betroffenen Menschen erfaßt. Dann sollte es noch Chancengleichheit geben. Ansonsten sollte man von Gruppenegoismus sprechen. Oder? Oder sollte Solidarität so verstanden werden, daß z.B. die »West« - »…ffentlich Beschäftigten« auf ihre Lohnerhöhung verzichten, damit ihre in »Solidarität« verbundenen »Schwestern und Brüder« des »…ffentlichen Dienstes« der »Neuen Bundesländer« 100 % des Westlohnes bekommen? Ein solches Ansinnen würde einen sehr peinlichen Anti-Solidaritätsschrei in der Republik erzeugen.

Gleichheit zwischen dem …ffentlichen Dienst und dem Wirtschaftsleben gibt es ohnehin nicht. die Beschäftigten im …ffentlichen Dienst sind (fast) unkündbar, schon allein deshalb, weil ein Staat kaum pleite gehen kann. Die Menschen in der Wirtschaft sind ständigen Veränderungen, so auch Kündigungen, ausgesetzt.

Solidarität kann nicht verfügt werden. Sie muß erarbeitet werden, vom ganzen Staatsvolk. Sie taugt nichts für kurzatmige Arbeitskämpfe von Gruppen in dieser Gesellschaft. Diese Gesellschaft in all ihren Gliederungen sollte beraten, wohin sie politisch gehen will.

Alle Gewerkschaften wären gefordert, über das Wirtschaften an sich, über die Demokratie, über den Umgang mit Geld, über den Umgang mit Rohstoffen und der Natur, eine öffentliche Diskussion in allen Medien und auch an der berühmten Basis zu führen. Kongresse »im eigenen Saft« nützen nichts. Geld ist selber zu r Ware geworden und dient nicht mehr dazu, den Austausch von Waren zu erleichtern. Einen Beitrag in der Wochenzeitschrift FREITAG vom 5. Mai von Claus NoŽ, der unter Lafontaine Staatssekretär im Bundesfinanzministerium war, unter der Überschrift Schaulauf der Regierungen entnehme ich die Information, daß ... achtundneunzig Prozent der Umtauschoperationen von einer in eine andere Währung auf den globalen Finanzmärkten ... nichts mit Gütergeschäften, nichts mit der Realwirtschaft, nichts mit Import oder Export zu tun ... haben. Und zum Schluß noch aus dem gleichen Artikel: Wir leben mit einem latenten, sich verstärkendem Demokratieproblem. das sich zu einer Systemkrise auswachsen kann. Die Bürger, die wählen und eine Regierung bestellen, gehen davon aus, daß die Gewählten in einer repräsentativen Demokratie Gemeinwohlinteressen wahrnehmen. Die Gewählten aber behaupten, sie müssen sich den Interessen deregulierter, globaler Finanzmärkte beugen, obwohl sie in den internationalen Organisationen, die den Neoliberalismus durch bewußten Verzicht auf Regulierungen ermöglicht haben, Sitz und Stimme haben. Sie neigen dazu, sich hinter der Behauptung zu verstecken, dieser gegenwärtige Typus von Globalisierungen sei naturgegeben, oder durchs Internet sei der >digitale Kapitalismus< unabwendbar. So unabwendbar, wie Marxens ideologische Prophetie von der klassenlosen Gesellschaft? ...

Mit freundlichen Grüßen

Dieter Kersten

abgeschlossen am 13. Juni 2000

 
     
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