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Liebe Mitstreiterinnen, liebe Mitstreiter, sehr geehrte Damen und Herren,
ist Deutschland ein Einwanderungsland oder ist es keines? Die niedrigedeutsche
Geburtenrate, aber das noch relativ hohe industrielle Niveau und der Dienstleistungsstandard,
die noch funktionierende Infrastruktur, das verlangt förmlich nach Einwanderung.
Sie werden protestieren und wenden mit Recht ein, daß schon viele Fremde
in unserem Land sind. Aber -Warum nehmt ihr lauter Taugenichtse?
- so die Überschrift eines Beitrages von Sonja Margolina in der BERLINER
ZEITUNG vom 1./2. April. Die Autorin weist in ihrem Beitrag nach, daß
wir Deutschen aus mangelnden nationalen Selbstbewußtsein es versäumt
haben, eine Einwanderungspolitik zu betreiben, die die Menschen in
unser Land holt, die wirtschaftlich und möglicherweise auch kulturell
gebraucht werden. Bisher bestimmten ungelernte Hilfsarbeiter, für die
in den entwickelten Ländern nirgendwo Platz ist, oder auch akademisch
gebildete Menschen aus Berufen, in denen wir selber genug Bewerber haben,
die Statistik der ungeregelten Quasi-Einwanderung. Sonja Margolina berichtet,
daß in Moskau unter den Kybernetik - und Informatik-Studienabgänger Deutschland
nicht gefragt ist, weil es als dröges Rentnerparadies gilt, welches selbst
nichts Zukunftsweisendes mehr zustande bringt und wo nichts los ist.
Es dürfen nur noch die einwandern, die in Deutschland von ihren beruflichen
Qualifikationen her gebraucht werden. Das kann sich Jahr für Jahr ändern,
sollte sich sogar, weil die zum Teil schnellen technischen Änderungen
schnelle Reaktionen benötigen. Wir Deutsche in Ost und West haben uns
während der Blockkonfrontationen an einen Wohlstand gewöhnt, der eine
wirkliche Konkurrenz der Qualitäten in vielen Berufen ausschloß. In der
WIRTSCHAFTSWOCHE Nr. 16 vom 13. April 2000 berichtet Aaron Bernstein unter
der Überschrift Häßliche Flecken über Arbeitslosigkeit im Silicon Valley
der USA. Silicon Valley ist nahezu das Synonym für die neuen elektronischen
Techniken. Es heißt in diesem Artikel u.a.: Die Neue Wirtschaft belohnt
nur gute Ausbildung und Qualifikation. Softwarenentwickler verdienen im
Valley durchschnittlich 96 000 Dollar pro Jahr, und ihre Kollegen in der
Halbleiterindustrie erhalten 86 000 Dollar. Die Arbeitskräfte in Einzelhandelsgeschäften,
Hotels, Restaurants und ähnlichen Dienstleistungen -also in dem Sektor
mit den meisten Beschäftigten- verdienen im Durchschnitt nur 23 000 Dollar
pro Jahr.
Ich bin schon der Auffassung, daß wir den Vereinigten Staaten von Amerika
nicht alles nachmachen sollten. Aber die Idee von der Qualifikation, einstmals
Deutschlands Stärke, das sollten wir doch wieder aufgreifen, für uns und
die zukünftigen Einwanderer.
Ein notwendiges Einwanderungsgesetz muß auch eine Eingliederung in den
deutschen Kulturraum regeln. Das gilt vor allem für das Erlernen der deutschen
Sprache und der deutschen Geschichte. Die Regeln sollten durchaus streng
sein. Manchmal habe ich den Eindruck, daß viele deutsche Landsleute darin
auch einen Nachholbedarf haben, insbesondere diejenigen, die so laut aufschreien,
wenn es um die Konkurrenz mit Ausländern geht.
Aus aktuellem Anlaß -möglicherweise steht ein Streik im Öffentlichen
Dienst bevor- muß ich ein paar Worte über zwei moralische Kategorien
verlieren, die schon im Vorfeld eines solchen Arbeitskampfes in das politische
Spiel gebracht werden. Ich empfinde es als ärgerlich, daß ausgerechnet
die Gruppe in unserer Gesellschaft, die eine üble bürokratische
Herrschaft über ihre Mitbürger ausübt, so daß Freiheit
und Brüderlichkeit für viele nicht mehr erlebbar sind, mit den
Begriffen Gleichheit und Solidarität hausieren geht. Die Bürokratie
hat während des zwölf Jahre dauernden > Dritten Reiches <
einen entscheidenden Herrschafts-Schub nach vorne bekommen, den sie, gestützt
von einer kontinuierlich herrschenden Oligarchie und von der Mehrheit
der Wähler, schamlos mißbraucht. In das Stammbuch der Akteure sei
geschrieben, daß es Gleichheit nur vor dem Gesetz geben kann, denn die
Menschen sind alle unterschiedlich, und daß es Solidarität nur geben
kann, wenn sie umfassend alle betroffenen Menschen erfaßt. Dann sollte
es noch Chancengleichheit geben. Ansonsten sollte man von Gruppenegoismus
sprechen. Oder? Oder sollte Solidarität so verstanden werden, daß
z.B. die »West« - »…ffentlich Beschäftigten«
auf ihre Lohnerhöhung verzichten, damit ihre in »Solidarität«
verbundenen »Schwestern und Brüder« des »…ffentlichen
Dienstes« der »Neuen Bundesländer« 100 % des Westlohnes
bekommen? Ein solches Ansinnen würde einen sehr peinlichen Anti-Solidaritätsschrei
in der Republik erzeugen.
Gleichheit zwischen dem …ffentlichen Dienst und dem Wirtschaftsleben
gibt es ohnehin nicht. die Beschäftigten im …ffentlichen Dienst sind (fast)
unkündbar, schon allein deshalb, weil ein Staat kaum pleite gehen kann.
Die Menschen in der Wirtschaft sind ständigen Veränderungen, so auch Kündigungen,
ausgesetzt.
Solidarität kann nicht verfügt werden. Sie muß erarbeitet werden, vom
ganzen Staatsvolk. Sie taugt nichts für kurzatmige Arbeitskämpfe von Gruppen
in dieser Gesellschaft. Diese Gesellschaft in all ihren Gliederungen sollte
beraten, wohin sie politisch gehen will.
Alle Gewerkschaften wären gefordert, über das Wirtschaften
an sich, über die Demokratie, über den Umgang mit Geld, über
den Umgang mit Rohstoffen und der Natur, eine öffentliche Diskussion
in allen Medien und auch an der berühmten Basis zu führen. Kongresse
»im eigenen Saft« nützen nichts. Geld ist selber zu r
Ware geworden und dient nicht mehr dazu, den Austausch von Waren zu erleichtern.
Einen Beitrag in der Wochenzeitschrift FREITAG vom 5. Mai von Claus NoŽ,
der unter Lafontaine Staatssekretär im Bundesfinanzministerium war,
unter der Überschrift Schaulauf der Regierungen entnehme
ich die Information, daß ... achtundneunzig Prozent der Umtauschoperationen
von einer in eine andere Währung auf den globalen Finanzmärkten
... nichts mit Gütergeschäften, nichts mit der Realwirtschaft,
nichts mit Import oder Export zu tun ... haben. Und zum Schluß noch
aus dem gleichen Artikel: Wir leben mit einem latenten, sich verstärkendem
Demokratieproblem. das sich zu einer Systemkrise auswachsen kann. Die
Bürger, die wählen und eine Regierung bestellen, gehen davon
aus, daß die Gewählten in einer repräsentativen Demokratie Gemeinwohlinteressen
wahrnehmen. Die Gewählten aber behaupten, sie müssen sich den
Interessen deregulierter, globaler Finanzmärkte beugen, obwohl sie
in den internationalen Organisationen, die den Neoliberalismus durch bewußten
Verzicht auf Regulierungen ermöglicht haben, Sitz und Stimme haben.
Sie neigen dazu, sich hinter der Behauptung zu verstecken, dieser gegenwärtige
Typus von Globalisierungen sei naturgegeben, oder durchs Internet sei
der >digitale Kapitalismus< unabwendbar. So unabwendbar, wie Marxens
ideologische Prophetie von der klassenlosen Gesellschaft? ...
Mit freundlichen Grüßen
Dieter Kersten
abgeschlossen am 13. Juni 2000
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