Dieter Kersten - Januar 2001    
Editorial    
     
 

Mitstreiterinnen, liebe Mitstreiter, sehr geehrte Damen und Herren,

am 17. November interviewte Katrin Bergenthal in FREITAG den chilenischen Schriftsteller Antonio Skarmeta, der Botschafter seines Landes in Deutschland geworden ist. Auf die Frage Sie sind nun Botschafter in Deutschland, aber Sie sind kein Laufbahndiplomat, sondern Schriftsteller ..... antwortete Skarmeta: Meine Ernennung zum Botschafter steht in Zusammenhang mit der Haltung, die Präsident Lagos der Kultur gegenüber einnimmt ..... Glückliches Chile, welches vermutlich eine so schwarze Diskussion über Leitkultur nicht kennt, aber dennoch kulturell handlungsfähig ist. Bundeskanzler Schröder wird zwar nachgesagt, daß er eine enge Beziehung zu Kulturschaffenden hat. Es ist auch zu begrüßen, daß die Bundesregierung das Amt eines Kulturstaatsministers geschaffen hat. Damit ist wieder vielen Deutschen der Begriff Kultur in das Gedächtnis gerufen worden. Dieser Erfolg ist von dem CDU/CSU-Fraktionsvorsitzenden im Bundestag, Herrn Merz, konterkariert worden, indem er die Wortschöpfung Leitkultur in die politische Auseinandersetzung einführte. Was ist Kultur? Eine schöpferische Tat, die keiner Leitung bedarf. Am wenigsten die Leitung eines Politikers, dessen Partei bzw. dessen vergangene Regierung die Goethe-Institute ausgetrocknet hat, so daß deutsche Kulturarbeit nur von nicht möglich bis zu sehr erschwert statt.nden kann. Trotz des Lobes für Schröder: welcher Bundeskanzler oder Außenminister hat es fertig gebracht, eine »chilenische« Haltung gegenüber der Kultur einzunehmen, einen Schriftsteller, unbequem, vielleicht auch vorlaut, als Botschafter Deutschlands in die Welt zu schicken. Günter Grass z.B., oder auch Martin Walser, oder Botho Strauß. Die Sesselpuper im Auswärtigen Amt und die adligen Laufbahnbeamten würden aufschreien. Ein abgeschobener Politiker wie Rudolf Dreßler, mißliebiger Sozialexperte, wird in der geschlossenen AA-Gesellschaft schon mal geduldet ... aber mehr, und dann noch Kultur ... das ist Revolution !

Ach ja, Revolution ? Anstatt Vorbild zu sein, wird schwadroniert. An den deutschen Stammtischen sowieso, aber auch in den deutschen Wohnzimmern. Bleibt zwischen Urlaub, Autowaschen und tägliches Viereinhalbstunden- Fernsehen überhaupt noch Zeit für Kultur ?. Ist Deutschsein Vorbild? Fühlt sich ein Türke/eine Türkin moslemischen Glaubens veranlaßt, Deutsche/-r christlichen Glaubens oder religionsfreier Weltanschauung zu werden?

Wir Deutschen haben nichts zu bieten. Noch nicht einmal eine Kultur des Widerspruchs. Wir rennen der Globalisierung mehr als irgend ein anderes Land hinterher, fast kritiklos. Wir geben ohne Zögern unsere Währung auf, anstatt Geld in unserem Land umlaufsicher und damit spekulationsfrei zu gestalten und zu einem pulsierenden Blut der Kunst, des Bildungswesens und der Wirtschaft zu machen. Wo ist die schöpferische Tat, Strukturen direkter Demokratie aufzubauen, damit wir uns von anderen Staaten und Völkern wohltuend unterscheiden? Werden in Deutschland Verfassungsbegriffe wie Eigentum verpflichtet, kulturell weiterentwickelt und juristisch in die geistige Enge getrieben?

Verletzen wir nicht ständig die Rechte und die Würde fremder Völker, um unseren Reichtum zu mehren, der fast nur gestohlen ist ? Beispiele gibt es viele. Ein Beispiel will ich mit wenigen Worten schildern. Es stammt aus FREITAG vom 22. Dezember, der Artikel hat die Überschrift Schläge und Toilettenkarten und er wurde von Dietrich Weinbrenner aus Jakarta, der Hauptstadt Indonesiens, geschrieben. Er berichtet über entwürdigende Arbeitsbedingungen in den Zulieferbetrieben von Weltfirmen, so auch über die des Schuhherstellers Adidas, der 1999 knapp 800 Millionen DM Gewinn vor Steuern in Deutschland ausgewiesen hat. An den Stammtischen heißt das dann, nur die deutsche Tüchtigkeit führt zu unserem Wohlstand, die Tüchtigkeit ist Ergebnis unserer deutschen Kultur. Daß wir der indonesischen Arbeiterin nur DM 1,50 pro Tag zahlen und uns dafür auch noch Waffenlieferungen bezahlen lassen, wird als selbstverständlich angesehen. Wenn der neue CDU-Generalsekretär meint, er, seine Partei, müsse die Sprache der Stammtische reden, um sich dort verständlich zu machen, dann wissen Sie, was unter Leitkultur zu verstehen ist.

Um unseren Wohlstand und unsere Leitkultur zu bewahren, bilden wir jetzt mit anderen europäischen Staaten eine europäische Eingreiftruppe. Die Eingreiftruppe wird Rohstoffkriege führen. Offiziell heißt das natürlich, wir nehmen unsere berechtigten wirtschaftlichen Interessen auf der Erde wahr.. Es gibt dabei einen öffentlich gepflegten Dissens mit den USA. Das hängt damit zusammen, daß diese Eingreiftruppe neben der NATO gebildet wird, also nicht dem direkten Zugriff des us-amerikanischen NATO -Oberbefehlshaber ausgesetzt ist. Das ist etwa vergleichbar mit der Großjährigkeit des Juniors, der nun endlich auch ein Auto haben will. Eine Lizenz zum Töten haben beide.

Ist Töten Kultur ? Innerstaatlich ist es meistens unter Strafe gestellt. Es wird nicht nur die Nase gerümpft, wenn der Nachbar tötet, sondern es wird nach der Polizei gerufen. Zwischenstaatlich ist das Töten von Menschen üblich, ja sogar gewünscht; das Töten gehört nicht nur zur Geschichte der Menschen und der Völker, es ist leider Gegenwart. Früher stand auf den preußischen und französischen Geschützröhren ultima ratio regum = der Krieg "als das letzte Mittel der Könige". War das Kultur, ist das Kultur? Eine schöpferische Tat war und ist es auf keinen Fall.

Wenn wir der Gegenwart eine neue kulturelle Qualität geben wollen, die von unserem Land und von Europa aus auf andere Völker wirken soll, dann müssen wir uns von den Rohstoffkriegen abwenden bzw. wir dürfen uns nicht daran beteiligen. Wir müssen mit den Staaten und Völkern einen Wohlstandsausgleich jenseits militärischer Optionen suchen. Keine Wohlfahrt, keine Almosen, Hilfe nur zur Selbsthilfe, aber ehrliche Preise für Rohstoffe und Arbeitskräfte. Das hätte nicht nur für uns sondern auch für Indonesien Folgen. Die Schuhe werden so teuer werden, daß sie - einschließlich des Transportweges - in Europa schwerer abgesetzt werden. Aber in Europa werden wieder welche produziert, was den europäischen Arbeitsplätzen und der Erd-Umwelt zugute kommen würde.

Keine Eingreiftruppe und dafür ein Wohlstandsausgleich mit unseren Rohstofflieferanten, auch dann, wenn wir uns von den USA absetzen: ich möchte das als die neue, aktive, Neutralitätsbewegung bezeichnen; wir können die Kriege, die die USA gegen die Rohstoffländer wie auch gegen die Länder, die auf dem Wege liegen oder im Wege stehen, führen wird, nicht mit eigener Militärgewalt verhindern. Wir halten uns militärisch raus. Das wäre eine kulturelle Leistung, die uns selber, aber auch alle anderen beteiligten Völker voran bringen würde. Ich bitte wie immer um Diskussion.

Mit freundlichen Grüßen

Dieter Kersten

abgeschlossen am 11. Januar 2001

 
     
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