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Mitstreiterinnen, liebe Mitstreiter, sehr geehrte Damen und Herren,
am 17. November interviewte Katrin Bergenthal in FREITAG den chilenischen
Schriftsteller Antonio Skarmeta, der Botschafter seines Landes in Deutschland
geworden ist. Auf die Frage Sie sind nun Botschafter in Deutschland,
aber Sie sind kein Laufbahndiplomat, sondern Schriftsteller .....
antwortete Skarmeta: Meine Ernennung zum Botschafter steht in Zusammenhang
mit der Haltung, die Präsident Lagos der Kultur gegenüber einnimmt
..... Glückliches Chile, welches vermutlich eine so schwarze
Diskussion über Leitkultur nicht kennt, aber dennoch
kulturell handlungsfähig ist. Bundeskanzler Schröder wird zwar
nachgesagt, daß er eine enge Beziehung zu Kulturschaffenden hat. Es ist
auch zu begrüßen, daß die Bundesregierung das Amt eines Kulturstaatsministers
geschaffen hat. Damit ist wieder vielen Deutschen der Begriff Kultur in
das Gedächtnis gerufen worden. Dieser Erfolg ist von dem CDU/CSU-Fraktionsvorsitzenden
im Bundestag, Herrn Merz, konterkariert worden, indem er die Wortschöpfung
Leitkultur in die politische Auseinandersetzung einführte. Was
ist Kultur? Eine schöpferische Tat, die keiner Leitung bedarf.
Am wenigsten die Leitung eines Politikers, dessen Partei bzw. dessen vergangene
Regierung die Goethe-Institute ausgetrocknet hat, so daß deutsche Kulturarbeit
nur von nicht möglich bis zu sehr erschwert statt.nden kann. Trotz
des Lobes für Schröder: welcher Bundeskanzler oder Außenminister
hat es fertig gebracht, eine »chilenische« Haltung gegenüber
der Kultur einzunehmen, einen Schriftsteller, unbequem, vielleicht auch
vorlaut, als Botschafter Deutschlands in die Welt zu schicken. Günter
Grass z.B., oder auch Martin Walser, oder Botho Strauß. Die Sesselpuper
im Auswärtigen Amt und die adligen Laufbahnbeamten würden aufschreien.
Ein abgeschobener Politiker wie Rudolf Dreßler, mißliebiger Sozialexperte,
wird in der geschlossenen AA-Gesellschaft schon mal geduldet ... aber
mehr, und dann noch Kultur ... das ist Revolution !
Ach ja, Revolution ? Anstatt Vorbild zu sein, wird schwadroniert. An
den deutschen Stammtischen sowieso, aber auch in den deutschen Wohnzimmern.
Bleibt zwischen Urlaub, Autowaschen und tägliches Viereinhalbstunden-
Fernsehen überhaupt noch Zeit für Kultur ?. Ist Deutschsein Vorbild? Fühlt
sich ein Türke/eine Türkin moslemischen Glaubens veranlaßt, Deutsche/-r
christlichen Glaubens oder religionsfreier Weltanschauung zu werden?
Wir Deutschen haben nichts zu bieten. Noch nicht einmal eine Kultur des
Widerspruchs. Wir rennen der Globalisierung mehr als irgend ein anderes
Land hinterher, fast kritiklos. Wir geben ohne Zögern unsere Währung auf,
anstatt Geld in unserem Land umlaufsicher und damit spekulationsfrei zu
gestalten und zu einem pulsierenden Blut der Kunst, des Bildungswesens
und der Wirtschaft zu machen. Wo ist die schöpferische Tat,
Strukturen direkter Demokratie aufzubauen, damit wir uns von anderen Staaten
und Völkern wohltuend unterscheiden? Werden in Deutschland Verfassungsbegriffe
wie Eigentum verpflichtet, kulturell weiterentwickelt
und juristisch in die geistige Enge getrieben?
Verletzen wir nicht ständig die Rechte und die Würde fremder Völker,
um unseren Reichtum zu mehren, der fast nur gestohlen ist ? Beispiele
gibt es viele. Ein Beispiel will ich mit wenigen Worten schildern. Es
stammt aus FREITAG vom 22. Dezember, der Artikel hat die Überschrift Schläge
und Toilettenkarten und er wurde von Dietrich Weinbrenner aus Jakarta,
der Hauptstadt Indonesiens, geschrieben. Er berichtet über entwürdigende
Arbeitsbedingungen in den Zulieferbetrieben von Weltfirmen, so auch
über die des Schuhherstellers Adidas, der 1999 knapp 800 Millionen DM
Gewinn vor Steuern in Deutschland ausgewiesen hat. An den Stammtischen
heißt das dann, nur die deutsche Tüchtigkeit führt zu unserem Wohlstand,
die Tüchtigkeit ist Ergebnis unserer deutschen Kultur. Daß wir der indonesischen
Arbeiterin nur DM 1,50 pro Tag zahlen und uns dafür auch noch Waffenlieferungen
bezahlen lassen, wird als selbstverständlich angesehen. Wenn der neue
CDU-Generalsekretär meint, er, seine Partei, müsse die Sprache der Stammtische
reden, um sich dort verständlich zu machen, dann wissen Sie, was unter
Leitkultur zu verstehen ist.
Um unseren Wohlstand und unsere Leitkultur zu bewahren,
bilden wir jetzt mit anderen europäischen Staaten eine europäische Eingreiftruppe.
Die Eingreiftruppe wird Rohstoffkriege führen. Offiziell heißt das natürlich,
wir nehmen unsere berechtigten wirtschaftlichen Interessen auf der Erde
wahr.. Es gibt dabei einen öffentlich gepflegten Dissens mit den USA.
Das hängt damit zusammen, daß diese Eingreiftruppe neben der NATO gebildet
wird, also nicht dem direkten Zugriff des us-amerikanischen NATO -Oberbefehlshaber
ausgesetzt ist. Das ist etwa vergleichbar mit der Großjährigkeit des Juniors,
der nun endlich auch ein Auto haben will. Eine Lizenz zum Töten haben
beide.
Ist Töten Kultur ? Innerstaatlich ist es meistens unter Strafe gestellt.
Es wird nicht nur die Nase gerümpft, wenn der Nachbar tötet, sondern es
wird nach der Polizei gerufen. Zwischenstaatlich ist das Töten von Menschen
üblich, ja sogar gewünscht; das Töten gehört nicht nur zur Geschichte
der Menschen und der Völker, es ist leider Gegenwart. Früher stand auf
den preußischen und französischen Geschützröhren ultima ratio
regum = der Krieg "als das letzte Mittel der Könige".
War das Kultur, ist das Kultur? Eine schöpferische Tat
war und ist es auf keinen Fall.
Wenn wir der Gegenwart eine neue kulturelle Qualität geben wollen, die
von unserem Land und von Europa aus auf andere Völker wirken soll, dann
müssen wir uns von den Rohstoffkriegen abwenden bzw. wir dürfen uns nicht
daran beteiligen. Wir müssen mit den Staaten und Völkern einen Wohlstandsausgleich
jenseits militärischer Optionen suchen. Keine Wohlfahrt, keine Almosen,
Hilfe nur zur Selbsthilfe, aber ehrliche Preise für Rohstoffe und Arbeitskräfte.
Das hätte nicht nur für uns sondern auch für Indonesien Folgen. Die Schuhe
werden so teuer werden, daß sie - einschließlich des Transportweges -
in Europa schwerer abgesetzt werden. Aber in Europa werden wieder welche
produziert, was den europäischen Arbeitsplätzen und der Erd-Umwelt zugute
kommen würde.
Keine Eingreiftruppe und dafür ein Wohlstandsausgleich mit unseren Rohstofflieferanten,
auch dann, wenn wir uns von den USA absetzen: ich möchte das als die neue,
aktive, Neutralitätsbewegung bezeichnen; wir können die Kriege, die die
USA gegen die Rohstoffländer wie auch gegen die Länder, die auf dem Wege
liegen oder im Wege stehen, führen wird, nicht mit eigener Militärgewalt
verhindern. Wir halten uns militärisch raus. Das wäre eine kulturelle
Leistung, die uns selber, aber auch alle anderen beteiligten Völker voran
bringen würde. Ich bitte wie immer um Diskussion.
Mit freundlichen Grüßen
Dieter Kersten
abgeschlossen am 11. Januar 2001 |
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