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Liebe Freunde,
sehr geehrte Damen und Herren,
in den Tagen, in denen ich beginne, das Editorial zu schreiben, findet
in Berlin der Ökumenische Kirchentag statt. Es ist erfreulich, wie
viele Menschen sich im Namen des Friedens zusammengefunden haben. Aber
Frieden in der Welt ist mehr als Glaube; Friede ist in erster Linie praktische,
gesellschaftspolitische Tat. Selbst das Wort Gerechtigkeit reicht nicht
aus. Jeder versteht unter dem schönen Wort etwas anderes. Wir müssen
gesellschaftspolitische Regelkreise einführen, die durch ihre Funktion
die Menschen veranlassen, das zu tun, was zum Frieden führt.
Während in Berlin bei schönem Wetter fröhlich Halleluja
gerufen wurde, fanden bzw. finden im Gebiet des Kongo Massenmorde statt.
Diese Massenmorde sind die unmittelbaren Ergebnisse jahrhunderte dauernder
kolonialer Vergewaltigungen durch Christen. Die alten moralischen Regelkreise
(Sitten und Gebräuche) sind mit der militärischen Gewalt des
Kreuzes zerstört worden, damit der Mensch der westlichen Zivilisation,
also auch wir Deutsche, auch die Kirchentagsteilnehmer vom Mai 2003, billig
an die Rohstoffe des Kongo kommen. Der Ruf der 50iger und 60iger Jahre,
"Wohlstand für alle", galt ja nur für uns Deutsche
und nicht für die "Neger". Dabei ist die Tatsache, daß
Vater Bush, Christ, einigen Minengesellschaften besonders profitsüchtig
verbunden ist, nur eine Facette politischer Realität.
Gerechtigkeit und Arbeitslosigkeit??!! Wir haben bald 6 Millionen, in
zwei Jahren wahrscheinlich 8 Millionen Arbeitslose. Die Rationalisierung,
Automatisierung, Roboterisierung erhöht die Produktivität jeder
Betriebsstätte fast ins Unermeßliche, aber schafft keine Arbeitsplätze.
Selbst wenn alle Lohnnebenkosten wegfallen würden und es im Handwerk
nirgendwo mehr einen Meisterzwang gäbe, es würde kein Arbeitsuchender
mehr beschäftigt werden. Spöttisch sollte ich es begrüßen,
daß die Bürokraten, die Zwang bisher verwalten, bei Wegfall
des Zwanges das Arbeitslosenheer vergrößern.
In der Einleitung zu dem Schenke-Artikel aus dem Jahr 1950 auf Seite 2
schreibe ich - ich darf mich ausnahmsweise mal selbst zitieren - >
Schluß mit der geistigen Kapitulation, mit dem Verzicht auf die
Gestaltung des eigenen Schicksals! < - und fast gleichzeitig
erfahren wir, daß unser polnischer Nachbar einen Kotau vor dem Cäsar
der Gegenwart, George W. Bush, gemacht hat. Manche mögen es für
kaum erwähnenswert halten, daß der Stadtpräsident von
Krakau, erklärter Irak-Kriegsgegner, vom Empfang des Präsidenten
der USA in seiner Stadt (Krakau war polnische Krönungsstadt und hat
für die Polen heute noch Symbolkraft) von dem us-amerikanischen
Begleitkommando von der Begrüßung auf eigenen polnischen
Staatsgebiet ausgeschlossen wurde. Cäsars Wille gilt was in Polen.
Mir ist nicht bekannt, daß Staatspräsident Aleksander Kwasniewski
dagegen protestiert hat. Das würde ihm sicher schlecht bekommen,
denn die Gnade des Herr Bush würde von seinem Haupte abgezogen werden.
Werden wir es erleben, daß Bush auf dem Flugplatz Berlin-Tempelhof
landet und Bundeskanzler Schröder wird zugunsten der USA-hörigen
CDU-Vorsitzenden Merkel von der Begrüßung ausgeschlossen?
Dritte Macht oder Untergang - Die Alternative für Europa,
das ist die Überschrift, die 1950 von Wolf Schenke für seinen
Betrag gewählt wurde. Macht heißt nicht Gewalt, Macht sollte
Frieden heißen.
Frieden und Neutralität war eine Forderung der Vergangenheit und
muß wieder eine Forderung der Gegenwart und der nahen Zukunft werden.
Die Dokumentation, die ich über Die Grünen,
über Adenauer und Friedensvertrag, Blockfreiheit,
Neutralität. unter der Überschrift Landesverrat auf
Seite 3 zusammengestellt habe, ergänzt Schenkes Beitrag. Manche mögen
meinen,. daß sei alles Geschichte und auf die Gegenwart nicht mehr
anwendbar. Mir liegt ein Zeitungsbeitrag von Antje Vollmer vor, heute
noch Mitglied der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen
im Deutschen Bundestag und Vizepräsidentin des Parlamentes. Dieser
Beitrag erschien am 11. November 1984 in der inzwischen nicht mehr existierenden
Zeitschrift Deutsches Allgemeines Sonntagsblatt und beschäftigt sich
durchaus positiv mit dem Thema Neutralität.
Ist Antje Vollmer durch die Macht zu korrumpiert, daß sie nicht
mehr an den Frieden denkt?
Es sind die Weltherrschaftspläne der amtierenden us-amerikanischen
Regierung, die Neutralität wieder zu einem spannenden
Thema machen. In der Debatte über Frieden und Neutralität
haben wir es nicht mehr nur mit den Regierungen zu tun. Ich fürchte
, daß die Weltherrschaft der Bush-Clique von den multinationalen
Konzernen konterkariert wird, die, Dank der internationalen Verträge,
geschlossen von den "demokratisch gewählten" Regierungen,
mächtiger und machtbewußter sind, als wir es uns im Traum vorstellen.
Am Beispiel Iraks ist es ganz deutlich geworden: der Krieg und seine Kosten
werden von den Völkern bezahlt, über Verschuldung und Steuereinnahmen,
der Profit der Ölquellen wird aber von den großen Ölgesellschaften
eingestrichen. Dieses Beispiel und die Verstrickung der Bush-Clique mit
der Ölindustrie zeigt besonders intensiv, daß es, wie der Berliner
sagt, "Jacke wie Hose ist", wer da Macht ausübt. So ist
Forderung nach Neutralität auch Widerstand
gegen Globalisierung.
Auf Seite 4 mache ich auf den Tod von Renate Riemeck aufmerksam. Eines
ihrer Themen war die Geschichte Europas des 19. und 20. Jahrhundert, und
was wir politisch aus dieser Geschichte lernen müssen. Natürlich
hat Renate Riemeck noch mehr geschrieben, als das Buch, welches ich anbiete.
Ich bin gerne bereit, Ihnen, meinen Leserinnen und Lesern, nach bestem
Wissen und Gewissen, eine Aufstellung der Veröffentlichungen Renate
Riemecks zu machen, die im Buchhandel erhältlich sind.
Die Nachricht über den Tod von Phil Berrigen auf Seite 5, die ich
Leser Hans-Jürgen Lange, Vorsitzender des Vereins DEUTSCHER BUND
ZUR RETTUNG DES LEBENS, verdanke, wollte ich Ihnen nicht vorenthalten.
Phil Berrigen wollte in den USA Schwerter zu Pflugscharen machen;
er war zeitweise eine Säule der Friedensbewegung, schnell vergessen
in unserer sensationslüsternen Zeit.
So wie der intellektuelle und moralische Niveau unseres politischen Personals
in den letzten 50 Jahren "deutschlich" gesunken ist, so ist
auch das Niveau der Sensationen nicht mehr das, was es mal war. Die Nachrichten
der letzten vierzehn Tage wurden von der überaus "spannenden"
Diskussion über das gemeinsame Abendmal von protestantischen und
katholischen Christen beherrscht, und, was vielen noch wichtiger erschien,
davon, ob der "Weltenherrscher", >Cäsar< Bush dem
Vasallen Bundeskanzler Schröder die Hand gibt oder nicht.
Mit freundlichen Grüßen
Dieter Kersten
abgeschlossen am 13. Juni 2003
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