Dieter Kersten - Juli / August 2005    
Editorial    
     
 

Liebe Freunde, sehr geehrte Damen und Herren,

seit Tagen schwirrt mir der Satz > Die Parteien verspielen ihr Dasein und ihre Daseinsberechtigung < im Kopf herum. Es war Hermann Schwann, rebellischer FDP-Bundestagsabgeordneter der 50er Jahre und ein politisch-väterlicher Freund von mir, der im August 1976 in der Zeitschrift für Lebensschutz - Das Gewissen einen umfangreichen Artikel veröffentlicht hatte, der diese Überschrift trug und in dem es um die Amtshaftung der Bundestagsabgeordneten in Sachen Atomenergie ging. Hermann Schwann warf den Abgeordneten grobfahrlässiges Verhalten bei ihrer Zustimmung zu diversen Gesetzen und Verordnungen zur Einführung der gesundheitsbedrohenden Atomkraftwerke vor. Fünf Jahre vorher hatte ich zusammen mit den damaligen Mitstreitern in dem Berliner Wahlprogramm der Aktionsgemeinschaft Unabhängiger Deutscher (AUD) ebenfalls die Amtshaftung der Politiker, aber auch aller im Öffentlichen Dienst tätigen Menschen verlangt.

Auch jetzt ist festzustellen, daß "die Politik" und ihre Macher weiterhin ohne Haftung für die Folgen ihres Handelns tätig sind. Ich dokumentiere auf Seite zwei die Rede des Abgeordneten Werner Schulz, noch Bündnis 90/Die Grünen. Werner Schulz war der einzige Bundestagsabgeordnete, der sich in "die Bütt" (an das Rednerpult des Bundestages) mit einem fulminanten Widerspruch gegen die "Vertrauensfrage" gewagt hat. Hut ab! Ich hoffe, er hört nicht auf die Schalmeienrufe der CDU/CSU, ausgerechnet dort Mitglied zu werden, bei den historischen Antidemokraten der alten BRD. Kommen Sie, verehrter Herr Schulz, in die außerparlamentarische Opposition und bauen Sie mit uns eine neue Demokratie auf!

Vierzehn Tage vor dem 1. Juli, am 17. Juni, einem historischen Datum, auch an einem Freitag (wie der 1. Juli) und in der Wochenzeitschrift FREITAG hat Christian Gampert unter der Überschrift > Demokratie von oben < und unter der Unterüberschrift > Affentänze: Gerhard Schröder und die Endspiele der Sozialdemokratie < mit der politischen Unkultur in Deutschland abgerechnet. So etwas kann man schon gar nicht mehr unter der Rubrik Politik veröffentlichen; es berührt vor allen Dingen unsere Kultur des Zusammenlebens. Auf der Seite elf in der Wochenzeitschrift FREITAG, auf einer der Kulturseiten, ist inmitten des Beitrages von Christian Gampert ein Foto zu sehen, auf dem ein Demonstrant ein Plakat mit einer Fotomontage hochhält: Schröder als Wilhelm II. mit dem Spruch: > Gerhartz Krönung: Ich führe euch spärlichen Zeiten entgegen! <.

Bevor ich aus dem Artikel zitiere, will ich innehalten, um zum wiederholten Mal festzustellen, daß die parteiistische Demokratie, nämlich diese Demokratie von oben von einer Demokratie von unten, einem nachbarschaftlich gegliederten Staat, ersetzt werden muß. Der Parteienstaat ist ein populistischer Staat, in dem Politiker so geformt werden, wie sie uns im Alltag begegnen: eitel, oberflächlich, ideenarm und herrschsüchtig, ja, vielleicht sogar des öfteren menschenverachtend.

Neben einer Demokratie von unten ist ein neues Geld- und Wirtschaftswesen notwendig, es darf keine Bodenspekulation mehr geben, ein Freies Schulwesen muß uns aus dem Bildungsnotstand führen, die Beamtenprivilegien müssen abgeschafft werden. Wie wäre es z.B., wenn Eindrittel des Geldes, welches für den Straßenbau eingesetzt wird, dem Zukunftsprojekt Bildung zukommen würde? Das Auto ist, so, wie es zur Zeit konzipiert wird und auf den Straßen herumfährt, kein Zukunftsprojekt.

Nun aber Zitate aus dem FREITAG-Artikel Demokratie von oben: > Noch ist unklar, unter welchem Label die momentanen Zuckungen der Sozialdemokratie in die Geschichte eingehen werden: als seltsame Seifenoper, als absurdes Theater oder einfach als Satyrspiel, Posse und Kasperlestück. Zu einem richtigen Schurkendrama Kohlscher Dimension (Die Parteienfinanzierung) reicht es nicht; zu einem glitschigen Lügenmärchen über die angeblich verlorene parlamentarische Mehrheit allemal ... Versetzen wir uns in die Lage eines normalen halblinken SPD-Bundestagsabgeordneten: alles hat er mitgemacht, jeden Nonsens mitgetragen, vom Kosovo-Krieg über die Homo-Ehe bis zu Gesundheitsreform, Hartz IV und Agenda 2010. Und jetzt soll er, der seinem Herrn sieben Jahre treu gedient, gegen die eigene Überzeugung immer mit der Fraktion gestimmt hat, auf Anweisung von oben dem Chef das Vertrauen verweigern. Wie mag es um die Selbstachtung dieser Personen bestellt sein? Der ärmste Schlucker, der voller Demut immer noch auf einen 1-Euro-Job hofft, damit sich demnächst auch ihm ein Arbeitsplatz auftue, hat wahrscheinlich mehr Selbstbewußtsein als diese disponible Bundestags-Masse. Gestern Kanzler-Wahlverein, heute Kanzler-Abwahlverein, wie´s gerade beliebt. ... Daß Schröder nicht warten will, sondern lieber Poker spielt, hat mehrere Gründe. Er hat keine Lust mehr, will aber nicht einfach zurücktreten, sondern erpressen. Er liebt die große Pose, das Melodram. Er will entweder den tragischen, den theatralischen Abgang - als Held einer nicht zu Ende gebrachten Reform abtreten, auf daß man ihn nicht an seinen eigenen Kriterien messe, nämlich der Arbeitslosenzahl. Oder aber die minimale Chance nutzen, eine Mehrheit für Hartz IV zu bekommen - mit der alten Sozen-Daumenschraube: Unter der CDU wird´s noch schlimmer! Vor allem aber will er zeigen, daß in Deutschland Politik von oben gemacht wird. Man fragt nicht mehr die Partei, der man verantwortlich ist und deren Wahlprogramm man angeblich vertritt, man entscheidet allein im Kämmerlein, mit Adjutant Münte. Man setzt Fakten. < Der eine Satz ist von mir fett geschrieben worden.

Die nächste Ausgabe des Kommentar- und Informationsbriefes NEUE POLITIK erscheint erst wieder im September und zwar nach dem anvisierten Termin für die Bundestagswahl. Bedauerlicherweise habe ich nicht eine einzige beantwortete Liste der Fragen bekommen, die ich Ihnen für die Befragung der Bundestagswahlkandidaten zur Verfügung gestellt habe. Ich bin nach wie vor daran interessiert, auch dann, wenn Sie mir die Antworten erst nach der Bundestagswahl zuschicken. Eine Wahlempfehlung für eine der "staatstragenden Parteien" einschließlich der "neuen Linken" gebe ich nicht! Für mich ist keine der Parteien wählbar, die die Chancen haben, in den Bundestag zu kommen. In diesem Satz steckt schon einer der möglichen Hinweise: wählen Sie eine so genannte Splitterpartei. der zweite Hinweis ist der, ungültig zu wählen: Sie gehen also zur Wahl, aber Sie streichen den Wahlzettel durch. Der dritte Hinweis würde sich ergeben, wenn ein Wahlkreiskandidat Ihre Fragen so positiv beantwortet, daß Sie ihm Ihr Vertrauen schenken wollen. Dem Wahlstreikaufruf von Mehr Demokratie e.V. kann ich nicht folgen, obwohl ich diese Gruppe sehr schätze. Es widerstrebt mir, gar nichts zu tun.

Mit freundlichen Grüßen

Dieter Kersten

( abgeschlossen 15. Juli 2005)

 
     
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