Dieter Kersten - Oktober 2005    
Editorial    
     
 

Liebe Freunde, sehr geehrte Damen und Herren,

immer wieder werde ich gemahnt, das Editorial mit einer guten Nachricht zu beginnen. Was ist eine gute Nachricht in unserer Welt? Wir finden sie fast nur außerhalb des "Menschlichen". Im ARGENTINISCHEN TAGEBLATT vom 6. August d.J. wird eine solche gute Nachricht abdruckt: Ein Nilpferdbaby, welches seine Mutter in den Tsunamiwellen an der kenianischen Küste verloren hatte, fand im Lafarge-Park eine neue Adoptiv-"Mutter", und zwar in der Gestalt einer 100-jährigen männlichen Riesenschildkröte, die ihren Adoptiv-"Sohn" nicht mehr aus den Augen läßt. > Die beiden sind unzertrennlich: Sie schwimmen, essen und schlafen zusammen", sagt die Ökologin Paula Kahumba, Verantwortliche der Tierstation <. Es muß doch soziale Signale zwischen so unterschiedlichen Tiergattungen geben, die, so scheint es mir manchmal, unter uns Menschen zu verkümmern drohen.

Zwei gute Nachrichten aus der Welt der Menschen sind in dem Schmierenstück Politgerangel Bundesregierung scheinbar untergegangen: Am 9. September hat sich der ehemalige US-Außenminister Collin Powell von seiner Irakrede vor dem UNO-Sicherheitsrat im Februar 2003 im Vorfeld des Irak-Kriegs distanziert. > Dem Sender ABC sagte Powell, er fühle sich "furchtbar" wegen seiner Argumentation, die sich später als unhaltbar herausgestellt habe. Powell hatte damals die Vereinten Nationen über die angeblich existierenden irakischen Massenvernichtungswaffen und die daraus resultierenden Bedrohung der Welt durch das Regime von Saddam Hussein informiert. Dies sei ein "Schandfleck" in seiner Karriere, betonte Powell. Schließlich sei er es gewesen, der für die Vereinigten Staaten der Welt diese Argumentation präsentiert habe. Das werde immer Teil seines Lebenslaufes sein. "Es war schmerzlich. Es ist jetzt schmerzlich", sagte Powell in dem Interview, das am Freitagabend ausgestrahlt werden soll. ... < Auch hat der frühere US-Außenminister die Vorbereitung auf den Hurrikan "Katrina" scharf kritisiert. In dem gleichen Interview sagte Powell, seiner Meinung nach habe es eine Vielzahl von Fehlern auf allen Ebenen gegeben. Es habe mehr als genug Warnungen vor den Gefahren für New Orleans vorgelegen. Beide Nachrichten habe ich der BASELER ZEITUNG entnommen.

Die Unfähigkeit der US-Bundesregierung, auf die Wirbelstürme Katrina, Rita und Cindy professionell zu reagieren und den Irak-Krieg endlich zu beenden, hat zu einer Massendemonstration am 24. September 2005 in Washington DC und anderswo geführt. In Washington kamen ca. 100 000 Menschen und in San Francisco, Los Angeles und Seattle gingen Zehntausende auf die Straße. Sabine Kebir berichtet darüber in FREITAG vom 30. September. Meine Recherche im Internet ergab, daß nur noch zwei deutschsprachige Zeitungen berichtet haben: das HAMBURGER ABENDBLATT am 26. September und die FRANKFURTER RUNDSCHAU am 25. September. Eine magere Ausbeute, die auf Nachrichtenunterdrückung hinweist.

Nun komme ich zur Innenpolitik und zu einem Versuch einer Wahlanalyse. Mir liegen keine anderen Zahlen vor, als in den Medien veröffentlicht wurden. Natürlich bin ich von den öffentlichen Diskussionen über das Wahlergebnis beeinflußt. Mir steht außerdem kein Apparat von Wahlanalytikern zur Verfügung, um Positionen nachprüfen zu lassen. Die Wahlbeteiligung ist mit 77,7 % erstaunlich stabil und zeugt von einem relativ großen Vertrauen in den parteiistischen Staat und in die parlamentarische Demokratie.

Im Gegensatz zu dieser Feststellung scheint das Wahlergebnis (Stimmenverteilung) vom 18. September und 2. Oktober zu stehen. Für jeden politisch denkenden und handelnden Menschen müßte schon lange sichtbar sein, daß es viele kleine gesellschaftspolitische Risse gibt. Das war in der alten Bundesrepublik so und das ist in der "neuen" Bundesrepublik seit 1990 auch nicht anders. Inzwischen gibt es zusätzlich einen sehr starken Riß in der deutschen Gesellschaft. Der befindet sich nicht nur zwischen Ost und West. Etwas abweichend von der "öffentlichen" Sprachregelung würde ich sagen, auf der einen Seite stehen die zukunftssicheren, zukunftsfreudigen und zukunftsbereiten Menschen und auf der anderen Seite die Menschen, die meinen, Ansprüche (welcher Art auch immer) erworben zu haben ("wir haben ein Recht darauf"), die sie auf jeden Fall und in jeder Form erheben und durchdrücken wollen, auch auf Kosten der Nachgeborenen.

Vielen von Ihnen wird diese Darstellung zu plakativ sein. So ist es auch und es kann auch nicht anders sein. Solange keine neuen gesellschaftspolitischen und wirtschaftspolitischen Ordnungsideen diskutiert und zum Bestandteil von Wahlkämpfen gemacht werden - und zwar auch von den "großen" Parteien - wird der Riß immer tiefer gehen und die Wähler werden immer ratloser sein.

Es fällt mir auf (und das ist schließlich auch in dem merkwürdigen Ergebnis sichtbar), daß die Bildungsfrage, Erziehung, Schule, Berufswahl und Universität, im Wahlkampf überhaupt keine Rolle gespielt haben. Wenn es möglich ist, die Erlangung von Wissen und Fertigkeiten (Bildung) mit der Überwindung der Arbeitslosigkeit in Konkurrenz zu setzen, dann würde ich zur Zeit der Erlangung von Wissen und Fertigkeiten einen weitaus höheren Stellenwert zuerkennen.

Das Folgende gehört schon gar nicht mehr in eine Wahlanalyse? Oder? Ein Sprichwort sagt > Unter Blinden ist der Einäugige König <. Auf Angela Merkel und Gerhard Schröder übertragen, könnte sogar der Cäsarenwahn eines putinisierten Schröder bewahrender sein als eine unsichere, rockefellerhörige Merkel. Es gibt keinen aus der medienpräsentierten "politischen Klasse", dem ich eine zukunftszugewandte Politik zutrauen würde.

Ebenfalls nicht zur Wahlanalyse gehört die Erkenntnis, daß wir mit der "politischen Klasse" viel stärker die Auseinandersetzung um mehr Demokratie und für ein umlaufgesichertes Geld, mit allen seinen Konsequenzen, z.B. der Neuformulierung des Eigentumsbegriffes, führen müssen. Wir müssen auch den Nebel, der sich auf Bildung und Kultur festgesetzt hat, lichten.

Für das alles will ich Sie, liebe Leserin, lieber Leser, gewinnen.

Ich freue mich, daß mit Wilfried Heidt, ein "alter" Autor der "alten" NEUEN POLITIK wieder einen Beitrag geschickt hat. Sie finden ihn auf Seite drei. Ich hoffe auf weitere Beiträge.

Die angekündigten Artikel über Oskar Lafontaine fehlen. Sie erscheinen möglicherweise in der nächsten Ausgabe.

Auf Seite vier finden Sie eine kleine und unvollständige "Wahlnachlese". Ich vermute, daß ich mich noch des öfteren mit dem Wahlausgang beschäftigen muß.

Auf Seite sechs veröffentliche ich einen Beitrag von Wolf von Fabeck, in der Hoffnung, Sie zu einer Diskussion im Kommentar- und Informationsbrief provozieren zu können. Leser Hartmut Meyer schreibt dazu: > hier ist ein Vorschlag in Sachen "neue Ideen zur Gestaltung der Wirtschaft (wie kann Arbeitslosigkeit beseitigt werden?) <.

Mit freundlichen Grüßen

Dieter Kersten

Abgeschlossen am 14. Oktober 2005

 
     
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