Dieter Kersten - März 1995    
Oper: Gounod "Faust"
Theater: Scheu "Undines Abschied"
Theater: Thiesler "Fragen Sie Frau Irene"
 
     
 

Ich habe zwei Opernbücher zur Verfügung: einmal das von Günter Hausswald aus dem Jahre 1953, welches im Henschelverlag Berlin erschienen ist, und zum anderen das von Gerhart von Westerman, verlegt 1952 bei Droemers- Th. Knaur Nachf., München - Zürich . In beiden Opernführern ist Gounods Oper nach Goethes Faust im Stichwortverzeichnis unter Margarethe zu finden. Sie wurde 1859 als Faust et Marguerite in Paris aufgeführt und geriet in die nationalen Mühlsteine: die einen fanden sie zu deutsch, die anderen zu französisch. Und so mancher Deutscher regte sich darüber auf, daü ein Franzose ein Kulturgut der Deutschen beschädigt hat. Dieses Problem, hoffe ich jedenfalls, haben wir heutzutage nicht mehr. Musik hat es ja einfacher als die Sprache. Musik wird sehr schnell internationales Kulturgut. Denken Sie nur daran, mit welcher Inbrunst die Chinesen europäische Musik hören und spielen. Am 17. Februar 1995 habe ich mir die Oper von Chales Gounod angesehen und angehört. Für mich war es eine Premiere, das Stück selbst erlebte in dieser Inszenierung die 33. Aufführung seit der Premiere am 11. Juni 1988. In Berlin heiüt die Oper FAUST, mit dem Untertitel MARGARETHE, wird in französischer Sprache gesungen und dauert offiziell dreieinviertel Stunden (mit Pause). Da sich (zumindestens in Berlin) der Szenen - Applaus durchgesetzt hat, dauert bei einer so melodienreichen Oper die ganze Aufführung noch länger. Schauspielerisch waren alle Beteiligten sehr gut; stimmlich ragten nur zwei Interpreten heraus: Robert Hale, Baü, der den Mephistopheles und Hermine May, Sopran, die die Hosenrolle des Siebel sang. Alle anderen Stimmen waren blaü. Die Inszenierung besorgte John Dew. Er verwendet sehr viele technische Effekte und übertreibt es damit. Ich hatte manchmal den Eindruck, daü er das Opernhaus mit einer Disco oder einer Zirkusmanege verwechselt hat. Gut fand ich die Szene im 4. Akt, in der die Soldaten heimkehren. Sie wurden nicht als Helden dargestellt, sondern als die Gequälten, die Verwundeten, im Rollstuhl, mit ihren Verbänden. Die Musik des Soldatenmarsches bildet einen ergreifenden Kontrast. Eine Darstellung, die Chales Gounod sicher gefallen hätte.

Den nachfolgenden Text entnehme ich dem Programmheft der DEUTSCHEN OPER BERLIN, die diesen Text auch wieder dem Buch Chales Gounod, Aufzeichnungen eines Künstlers,Breslau/Leipzig/Wien 1896, entnommen hat. Dieser Text zeigt, daü der Mensch Chales Gounod, der von 1818 bis 1893 gelebt hat, den damals Herrschenden (Krieg 1870/1871) in seiner Menschlichkeit weit voraus war. Der Text lautet: London, den 24. Dezember 1870 - Ach! meine teuren Freunde! mit welchem Tage wir es auch abschlieüen, was für eine Schmerzenszeit ist für uns alle und für jeden einzelnen von uns das nun zu Ende gehende Jahr gewesen! Stets voneinander getrennt, hinter sich so viel unsägliches Unglück und Leid, stets von Angst und Sorgen umgeben, und von dem qualvollen Gedanken gepeinigt: was wird morgen kommen?! Fünf Monate lang hat die Menschheit das fürchterliche Schauspiel der tollsten Zerstörungswut mit angesehen! Und das alles in einem Zeitalter, das sich mit Stolz das Zeitalter des Fortschritts nennt, und das in der Geschichte die Erinnerung an die abscheulichsten Greuelthaten hinterlassen wird! Was ist denn der Fortschritt anders, als die fortschreitend, zunehmende Entwicklung der Intelligenz unter dem Licht und Wärmestrahl der Liebe? Was hat nun dieses Zeitalter - ich will nicht sagen für die Annehmlichkeit, sondern für das >>Glück<< der Menschen gethan? Napoleon I., Napoleon III., Wilhelm von Preuüen, Waterloo, die Mitrailleusen1), die Krupp'schen Kanonen!... Auf was für Ruinen werden wir unser Wiedersehen feiern!

1)französisches Salvengeschütz (1870/71), Vorläufer des Maschinengewehrs.

Kindertotenlieder
von Friedrich Rückert (1788 - 1866)

1
Nun will die Sonn`so hell aufgehn,
Als sei kein Unglück die Nacht geschehn.
Das Unglück geschah auch nur mir allein,
Die Sonne, sie scheinet allgemein,
Du muüt nicht die Nacht in dir verschränken,
Muüt sie ins ewige Licht versenken.
Ein Lämplein verlosch in meinem Zelt,
Heil sei dem Freudenlicht der Welt!

2
Nun seh ich wohl, warum so dunkle Flammen
Ihr sprühet mir in manchem Augenblicke,
O Augen!
Gleichsam um voll in einem Blicke
Zu drängen eure ganze Macht zusammen.
Doch ahnt ich nicht, weil Nebel mich umschwammen,
Gewoben vom verblendenden Geschicke,
Daü sich der Strahl bereits zur Heimkehr schicke,
Dorthin, von wannen alle Strahlen stammen.
Ihr wolltet mir mit eurem Leuchten sagen:
Wir möchten nah dir bleiben gerne,
Doch ist uns das vom Schicksal abgeschlagen.
Sieh uns nur an, denn bald sind wir dir ferne!
Was dir nur Augen sind in diesen Tagen,
In künftgen Nächten sind es dir nur Sterne.

3
Wenn dein Mütterlein
Tritt zur Tür herein
Und den Kopf ich drehe,
Ihr entgegensehe,
Fällt auf ihr Gesicht
Erst der Blick mir nicht,
Sondern auf die Stelle
Näher nach der Schwelle,
Dort wo würde dein
Lieb Gesichtchen sein,
Wenn du freudenhelle
Trätest mit herein
Wie sonst, mein Töchterlein.
Wenn dein Mütterlein
Tritt zur Tür herein
Mit der Kerze Schimmer,
Ist es mir, als immer
Kämst du mit herein,
Huschtest hinterdrein
Als wie sonst ins Zimmer.
O du, des Vaters Zelle
Ach du schnelle
Erloschner Freudenschein!

4
Oft denk ich, sie sind nur ausgegangen!
Bald werden sie wieder nach Hause gelangen!
Der Tag ist schön! O sei nicht bang!
Sie machen nur einen weiten Gang.
Ja wohl, sie sind nur ausgegangen
Und werden jetzt nach Hause gelangen.
O sei nicht bang, der Tag ist schön!
Sie machen nur den Gang zu jenen Höhn!
Sie sind uns nur vorausgegangen
Und werden nicht wieder nach Haus verlangen!
Wir holen sie ein auf jenen Höhn im Sonnenschein!
Der Tag ist schön auf jenen Höhn!

5
In diesem Wetter, in diesem Braus,
Nie hätt ich gesendet die Kinder hinaus;
Man hat sie getragen hinaus,
Ich durfte nichts dazu sagen.
In diesem Wetter, in diesem Saus,
Nie hätt ich gelassen die Kinder hinaus,
Ich fürchtete, sie erkranken,
Das sind nur eitle Gedanken.
In diesem Wetter, in diesem Graus,
nie hätt ich gelassen die Kinder hinaus,
Ich sorgte, sie stürben morgen,
Das ist nun nicht zu besorgen.
In diesem Wetter, in diesem Saus, in diesem Braus,
Sie ruhn als wie in der Mutter Haus,
Von keinem Sturme erschrecket,
Von Gottes Hand bedecket.

+ + +

Kommen wir vom Musiktheater zum Sprechtheater. Ich werde versuchen, zwei völlig unterschiedliche Veranstaltungen zusammen zu besprechen, weil beide zur Kategorie Volkstheater gehören und weil ich einige allgemeine Bemerkungen machen will. Ich war am 23. Februar 1995 im Berliner Hansa-Theater im Berliner Bezirk Tiergarten (Stadtteil Moabit) und am 8. März 1995 sah und hörte ich im alten Rathaus des Bezirkes Berlin-Steglitz eine Theatergruppe der Victor-Gollancz-Volkshochschule. Ich persönlich messe dem Volkstheater eine hohe Bedeutung bei. Volkstheater, gut gemacht, bietet die Chance, Kultur an weite Kreise des Volkes, auch den Teilen, die eine groüe Scheu haben, die Musik - Theater und die "klassischen" Sprech - Theater zu besuchen, zu vermitteln. Das ist jedoch nicht alles. Volkstheater sollte Kultur von unten sein, eine real existierende Kultur, kein aufgesetztes Schönheitsideal, von irgendwelchen Intellektuellen geschaffen. Die Idealform wird ja nur selten erreicht, daü begnadete oder auch nur befähigte Dichter dem Volk auf das Maul schauen und daraus ein kulturelles Ereignis machen. Am 8. März - übrigens dem 75igsten Welt - Frauentag, sah die Theatergruppe "Thrillertanten" der Volkshochschule zwei ganz unterschiedlichen Dichtern auf das Maul, und führte eine "bewegte" szenische Lesung auf. Das "Stück" hieü Undines Abschied und auf dem kostenlosen Programmzettel steht: Eine Bearbeitung von Ingeborg Bachmanns Erzählung "Undine geht" mit einem Prolog, frei erzählt nach Hans - Christian Andersens Märchen "Die kleine Seejungfrau". Inszeniert wurde das Stück von Martina Scheu. Setzen wir Maüstäbe! Die Frauen aus dem Volkshochschulkursus waren mit Engagement, Elan und Freude dabei. Vom Anfang bis zum Ende, es dauerte ungefähr eine Stunde, war ich mit aufmerksamer Spannung ein zufriedener Zuschauer. Volkstheater pur, von Laien gespielt! Das ist genau das, was ich als Maüstab nehmen muü, wenn ich ein kommerzielles Theater besuche, wie das genannte Hansa - Theater. Das Stück hieü Fragen Sie Frau Irene. Der Text stammt von der Mitgesellschafterin der Hansa - Theater GmbH., Frau Sabine Thiesler. Es ist ein Ein - Personen - Stück, welches die ganze Zeit, ich weiü nicht mehr, wie lange - viel zu lang!!, vor ein und derselben Kulisse gespielt wurde. Inszeniert wurde das Stück von dem anderen Mitgesellschafter Klaus J. Rumpf. Das Stück ist ein solcher Schmarren, daü ich mich frage, ob Absicht besteht, das Volk aus dem Volkstheater zu vertreiben, vor die Fernseher oder in das Kino? Dagmar Biener spielt eine Alkoholikerin, die, dem gesprochenen Text zufolge, Zeit ihres Lebens ihr Leben nie in den Griff bekam. Die "Handlung" ist ohne jeglichen Spannungsbogen. Das Publikum bestand aus ca. 40 Zuschauerinnen und Zuschauern bei ca. 200 Theatersitzen, wobei in der Pause mindestens 10 Personen das Theater verliessen. Am 10. März 1995 habe ich mit einem FAX - Brief des Hansa - Theater gebeten, mir etwas über die Geschichte des Hauses mitzuteilen, weil ich in meiner Bibliothek darüber leider nichts gefunden habe. Leider hat es das Hansa - Theater nicht für nötig befunden, mir zu antworten.

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Zum reichen Kulturleben in Berlin gehört auch die Berliner Philharmonie. Ich war am Sonntag, den 26. Februar 1995 eingeladen und habe des Berliner Philharmonische Orchester unter der Leitung von Bernard Haitink gehört, und zwar die Kindertotenlieder von Gustav Mahler (1860 - 1911) und seine Symphonie Nr. 6 a - Moll. Die Gesangs-Solistin war Marjana Lipovsek. Ich gebe die Kritik wieder, die in der Berliner Morgenpost erschienen ist. Sie trifft in etwa meinem Eindruck. Hinzufügen muü ich jedoch, daü das Orchester die Solistin manchmal "überspielt" hat. Dort aber, wo sie deutlich zu hören war, verstand ich sie nicht. Ich weiü nicht, warum die Sängerinnen und Sänger so ausgebildet werden, daü der Text selten zu verstehen ist.
Die Berliner haben lange Zeit die Philharmonie im Bezirk Tiergarten Zirkus Karajani genannt. Es war auch Herbert von Karajan, der das Eröffnungskonzert am 15. Oktober 1963 am Kemperplatz dirigierte. Dieser Stadtteilbereich ist in den Zeiten der real existierenden Mauer in Berlin als Kulturforum geplant gewesen. Neben der Philharmonie und dem Kammermusiksaal (Kleine Philharmonie) sind bereits Nationalgalerie und Staatsbibliothek gebaut. Die Philharmonie ist von Hans Scharoun, einem ehemaligen Bauhaus - Architekten, gebaut worden. Betonbauarchitektur nenne ich so etwas, und es soll schon ein wenig abfällig klingen. Zugeben muü ich jedoch, daü ich mich inzwischen an das Äuüere des Hauses gewöhnt habe. Der Konzertsaal selbst hat mir von Anfang an besser gefallen, als das Äuüere. Nicht verschweigen möchte ich, daü es seit 1963 immer wieder Kultur - Diskussionen zu der äuüerungen und inneren Architektur gegeben hat.
Zum Programmheft gab es die Philharmonischen Blätter 1994/95, Heft 3. In dieser Publikation ist ein vorzügliche Rede von Paul Hindemith (1895 - 1963) über Johann Sebastian Bach enthalten, die er 1950 in Hamburg gehalten hat. Die Philharmonischen Blätter werden von dem Berliner Philharmonischen Orchester, Presse - und Öffentlichkeitsarbeit, Matthäikirchstraüe 1, 10785 Berlin, Telefon 030/254 88 - 0, Telefax 030/ 261 48 87 herausgegeben.

 
     
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