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Ist Ihnen Wolfgang
Spier ein Begriff? Auüerhalb von Berlin ist er mit Sicherheit den
Fernsehzuschauern bekannt. In dem Programmheft, welches ich für teure
DM 5,-- erstand, wird er auf Glanzpapier und eingerahmt von vielen Geschäftsanzeigen,
mit Kinderbildern, wie es sich gehört, gefeiert. Der Schauspieler
und Regisseur ist im September d.J. 75 Jahre alt geworden. Eine Seite
des dicken DIN - A - 4 - Programmes ist überschrieben mit Der
König des Boulevards. Und das war's nämlich, ich habe mir
im Theater am Kurfürstendamm am 6. November 1995 eine Boulevardstück
angesehen, ein Lustspiel von Curth Flatow Faust ohne Gretchen.
Aber - leider, es war wieder eine Enttäuschung. Sicher, es wurde
diesmal nicht geschrien, sondern eher mal genuschelt, so daü ich
selbst in der 9. Reihe nicht alles verstanden habe. Es ging in diesem
Stück um einen alt gewordenen, sehr eitlen Schauspieler und seinen
Problemen sowohl mit dem Älterwerden als auch mit den diversen Verflossenen
und darum, daü er schlieülich eine 35 Jahre jüngere Frau
heiratet. Das Publikum hat gelacht. Ich auch; aber dennoch bin ich mit
diesem Lustspiel nicht sehr glücklich. Das Thema ist sehr flach abgehandelt,
mit ein paar Gecks aufgemotzt Die Schauspieler waren alle gut, sie verstehen
ihr Handwerk, das Bühnenbild war - mit Blick auf das Lustspiel -
viel zu bieder, aber akzeptabel.
Die Premiere des Stückes fand am 21. September 1995 statt. Es ist
eine Uraufführung. Gut die Hälfte der Plätze waren besetzt.
Einerseits ist das kulturelle Angebot in Berlin sehr umfangreich, andererseits
kann dann auch sehr schnell abgestimmt werden: wenn sich die Güte
einer Aufführung nicht rumspricht, dann bleibt das Publikum fern.
Das Theater am Kurfürstendamm ist ein Privattheater und gehört
zu dem kleinen Hamburger/ Berliner Kulturimperium der Familie Wölffer.
Die nachfolgenden Sätze entnehme ich dem Büchlein Theater Berlin
des Verlages FAB Boulevard: Der Theaterbau entstand 1921-23 nach Plänen
von Oskar Kaufmann aus einem 1905 errichteten, ab 1908 als Saaltheater
dienenden Gebäude. Dabei versah man die Wände des in seiner
Grundstruktur noch heute bestehenden, fast kreisrunden Zuschauerraums
mit eingeschnittenen Logen. Nach mehreren Umbauten in den 20er und 30er
Jahren sowie der Beseitigung der im II. Weltkrieg entstandenen Schäden
erfolgte seine vereinfachte Wiederherstellung. Im Verlauf der Errichtung
des Kudamm-Karrees 1969-74 wurde der gesamte Theaterkomplex in ein modernes
Hochhaus integriert. In den 20er Jahren war das Theater übrigens,
wie so viele in Berlin, eine erfolgreiche Reinhardt-Bühne.
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Ich hatte die Idee für reizvoll gehalten, die russischen Gäste,
die wir in Berlin zu betreuen hatten, zu einem Opernbesuch einzuladen
und zwar zu BORIS GODUNOW von MODEST MUSSORGSKIJ, ohne recht zu wissen,
um was es in dieser Oper eigentlich geht. Es geht um einen russischen
Zaren aus dem 16. Jahrhundert, um Schuld und Sühne, Reformen, politische
Versprechungen, die Macht der Kirche - aber vielleicht sollte ich zuerst
und vor allen Dingen aus dem Programmheft der Deutschen Oper Berlin zitieren.
Das Zitat stammt aus einem Beitrag von Sergej A. Romaschko, der die Überschrift
trägt Eine Volksoper und ihr Volk und die Unterüberschrift
Mussorgskijs Boris Godunow in der kulturhistorischen Perspektive::
Die historische Gestalt des Boris Godunow, wie sie in der russischen Kultur
des vorigen Jahrhunderts lebendig wird, ist offensichtlich mehr dem Mythos
als den historischen Tatsachen zuzuordnen. Dennoch sind diese mythischen
Gestalten auch Realität, aber in einem anderen als dem üblichen
Sinn: sie geben der russischen Mentalität (die berühmte >>russische
Seele<<) wieder. Deshalb sind sie trotz ihres mythischen Anscheins
integrale Bestandteile der russischen Geschichte. - Nur wenn man dieses
komplizierte Verhältnis berücksichtigt, kann man begreifen,
warum Boris Godunow und nicht etwa Iwan IV. (>>der Schreckliche<<)
zu einem exemplarischen Bösewicht auf der russischen Bühne geworden
ist. Erst dann bekommt man >>Verständnis<< für die
in jeder Epoche wiederkehrende Zwickmühle der russischen Reformpolitiker,
die in der Einsicht der absoluten Notwendigkeit der Reformen bei einer
gleichzeitigen Unmöglichkeit der praktischen Durchführung dieser
Reformen besteht. - Vom Westen aus gesehen, ist Ruüland ein Land
der verschwommenen, ambivalenten und gespaltenen Werte und Begriffe. Die
russische Tradition kennt z.B. kein stark ausgeprägtes Rechtsbewuütsein:
einen Russen interessiert meistens nicht die Rechtmäüigkeit,
sonder die Gerechtigkeit. Deshalb kümmert auch kaum jemanden im Drama
und in der Oper Boris Gudonow, daü Boris kein dynastischer Thronnachfolger
ist (der Form nach war Zarewitsch Dimitrij auch kein sicherer Nachfolger).
Moralisch ebenso stark untermauert ist der russische Begriff der Wahrheit
= prawda, der nicht die logische Adäquatheit (dazu gibt es ein anderes
Wort, istina), sondern die menschliche Wahrheit, die Wahrhaftigkeit bezeichnet,
und die wiederum fast mit dem Begriff der Gerechtigkeit identisch ist.
- Man strebt zwar die Freiheit an, aber auch dieser Begriff ist im russischen
Bewuütsein seltsamerweise zwiespältig. Der Ruf nach Freiheit
enthält nicht die Forderung nach einem demokratischen Rechtsstaat,
sondern etwas anderem: nach volja (= Wille, Absicht, Unabhängigkeit,
Streben), eine eher negative Gröüe, weil man sie nur durch
die Abwesenheit aller möglichen Schranken und Begrenzungen definieren
kann. Wie schauderhaft - beklemmend dieser volja - Zustand sein kann,
führt uns die letzte Szene der Oper plastisch vor. Kljutschewskij
bemerkt in diesem Zusammenhang, daü die Moskowiten traditionsgemäü
ihren eigenen Staat als etwas Fremdes, Äuüeres, als etwas,
was ihnen gar nicht gehörte, was kein Teil ihrer eigenen Existenz
bildete, betrachteten. Deshalb will man keine Mitverantwortung tragen
und neigt zu eskapistischen Lösungen (so entstand aus flüchtigen
Bauern das Kosakentum).
Wie sehr Kultur Politik ist, oder auch umgekehrt, daü ist aus diesem
Beitrags - Ausschnitt zu erkennen. Ich sah und hörte Boris Godunow
am Sonntag, den 1. Oktober 1995. Es wurde die Originalfassung in russischer
Sprache gespielt und gesungen. Der Text der Oper geht auf eine Dichtung
des groüen russischen Dichter Puschkin und auf Texte des ebenfalls
bedeutenden russischen Historikers Karamsin zurück, wobei der Komponist
Modest Mussorgskij eigene Texte hinzugefügt hat. Es war die 4. Aufführung
seit der Premiere am 16. September 1995 in Berlin - Charlottenburg und
es ist insofern eine Premiere besonderer Art, als Mussorgskijs Oper das
erste Mal in Deutschland in der Originalfassung aufgeführt worden
ist. Ich gebe zu, daü dazu die historischen Angaben im Programmheft
etwas ungenau sind. Bisher war es üblich, so habe ich es verstanden,
Boris Godunow in der von Rimskij - Korssakow überarbeiteten
Fassung aufzuführen. Das ist, so wird es bezeichnet, eine geglättete
Fassung, in der das Stück von angeblichen Dissonanzen gereinigt wurde
und die Gesangspartien gefälliger gemacht worden sind. Da
ich diese Fassung nicht kenne, fehlt mir jeder Vergleich. Die Musik erschien
mir sehr modern und es ist mir aufgefallen, wie sehr sich Text (Inhalt)
und Musik gegenseitig tragen. Sehr hilfreich war es, daü deutsche
Übertitel oberhalb des Bühnenraumes groüe Teile des Textes
wiedergaben. Alle Stimmen waren vorzüglich. Die muskalische Leitung
hatte Rafael Frühbeck de Burgos. Die Inszenierung besorgte der Intendant
Götz Friedrich. An das Bühnenbild muüte ich mich erst
gewöhnen und nachherein lobe ich es. Was ich nicht gut finde, ist
die Manie heutiger Theaterleute, die Handlung durch Versatzstücke
in die Gegenwart aufzupeppen. So trägt die Streifenwache
Rotarmistenuniformen, wohl um den dummen Opernbesucher auf die Aktualität
des Themas hinzuweisen.
Wir hatten zwei russische Partner unserer Energieforschung eingeladen.
Der eine Partner verlieü sehr empört in der Pause die Oper
mit dem Bemerken und mit dem Hinweis auf die Rotarmisten, das
wäre kein Boris Godunow, sondern ein Boris Jelzin.
Er hielte das nicht aus. Mehr war nicht herauszubekommen, was vermutlich
auch ein sprachliches Problem war. Der andere Partner blieb und äuüerte
sich nicht weiter - was vielleicht auch eine Äuüerung ist.
Soweit ich es verstanden habe, ist Boris Godunow durchaus eine
nationale russische Oper. Sie gehört zum russischen Kulturgut.
Sie macht einen Deutschen nicht zum Ruülandkenner, aber vielleicht
macht sie manches an Ruüland und dem russischen Menschen verständlicher.
Modest Petrowitsch Mussorgskij wurde am 9. März 1839 in Karewo geboren
und starb am 16. März 1881 in St. Petersburg. Über ihn steht
in der Brockhaus - Enzyklopädie von 1961: Seine Eltern gehörten
dem Landadel an. Er war 1856-58 Gardeoffizier und widmete sich dann in
St. Petersburg unter Anleitung von M. Balakirew ganz der Musik. Nach Aufhebung
der Leibeigenschaft der Bauern (1861) seines Vermögens beraubt, nahm
er 1863 eine untergeordnete Beamtenstellung an. Daneben trat er als Konzertpianist
auf. Nach seinem Ausscheiden aus dem Beamtendienst (1880) geriet er bald
in ärgste Not und starb völlig verarmt in einem Militärhospital.
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