Dieter Kersten - Februar 1996    
Theater: Gardner "Gespräche mit meinem Vater"  
     
 

Pogrom und Jiddisch

In dem alten Meyers Konversationslexikon von 1890 findet sich keine Eintragung zu diesem Begriff. In Meyers Konversationslexikon von 1909 steht: >> Pogrom bedeutet in russischer Sprache Verwüstung. Der Ausdruck wurde seit 1905 regelmäüig für Judenverfolgung, Zerstörung und Plünderung jüdischer Wohnungen und Läden in Ruüland angewendet << In der Brockhaus-Enzyklopädie von 1969/1972 steht fast das Gleiche. In dem ausführlichen Programmheft, in dem auch der gesamte Text enthalten ist, steht unter der Überschrift DAS POGROM VON ODESSA: Schon 1881 hatte es in Ruüland Pogrome gegeben, von der Regierung tolerierte Massaker an Juden. Danach kam es zur ersten groüen Auswanderungswelle russischer Juden; allein in den Jahren 1881/82 flohen 107 000 von ihnen nach Amerika. Ein prominenter Vertreter der Russischen Orthodoxen Kirche prophezeite 1891, "ein Drittel der Juden werde konvertieren, ein Drittel sterben und ein Drittel das Land verlassen". Zwischen 1903 und 1906 brachen erneut zahllose Pogrome aus. Das Pogrom von Odessa - der Stadt, die sich im 19. Jahrhundert zum Zentrum des jüdischen Lebens in Ruüland entwickelt hatte - war das blutigste. Hier wurden im Oktober 1905 achthundert Juden ermordet. - Diesmal ergriffen Hunderttausende die Flucht, und fast alle hatten dasselbe Ziel - Amerika. Insgesamt verlieüen zwischen 1881 und 1924 2,5 Millionen Menschen Ruüland; das sind 78 % der russischen Juden. <<
Über das Jiddische steht in den beiden alten Lexika von 1890 und 1909 gar nichts. Der Text in dem von 1969/1972 ist sehr lang. Ich greife wieder auf den Text dazu in dem Programmheft zurück: >> Jiddisch ist die Sprache der nicht - assimilierten aschkenasischen, das heiüt mittel und osteuropäischen Juden; sie besteht zu rund drei Vierteln aus Mittelhochdeutsch, ca. 16 % Hebräisch und der Sprache des jeweiligen Landes; sie wird in hebräischer Schrift notiert. Die Juden aus den östlichen Teilen Europas hatten demnach in ihrem Jiddisch einen höheren Anteil an slawischen Worten als beispielsweise die Juden in Amsterdam. .... <<

In dem Theaterstück, welches ich am 23. Januar 1996 im Berliner RENAISSANCE - THEATER gesehen habe, spielen die russischen Pogrome gegen Menschen jüdischen Glaubens von 1881, 1891 und 1906, aber auch das gröüte Pogrom, welches in der Menschheitsgeschichte stattgefunden hat, das von 1933 bis 1945 in Deutschland, eine groüe Rolle. Das Theaterstück heiüt >> Gespräche mit meinem Vater << und wurde geschrieben von Herb Gardner. Herb Gardner hat das Stück ganz im Zeichen des >> Political Correctness << geschrieben: meine Frage, die im ersten Satz dieses Berichtes steckt, wird natürlich nicht beantwortet. Kein Wort von der Rolle von Banken im Besitz von Menschen jüdischen Glaubens bei der Machtergreifung von Hitler. Dafür aber viele empörte Worte gegen die Kampagne vor und während des 2. Weltkriegs in den USA zur >> jüdischen Weltverschwörung <<.
Es ist die Geschichte einer jüdischen Familie, die aus Odessa stammt und infolge einer der russischen Pogrome in die USA geflohen war. Es ist ein flott gespieltes Stück, welches mir, trotz meiner >> politischen << Bedenken gut gefallen hat. Es hat mir auch deshalb gut gefallen, weil ich jiddische Lieder und Sprachfetzen hören konnte und weil ich viele Wörter meiner Berliner Muttersprache - alles jiddische Wörter - wiederfand, wie Maloche, Mischpoke, Schlamassel, Moos, Zoff, reibach, abnibbeln, ausbaldowern, schnorren, zocken, kabbeln, meschugge, nebbich und vieles andere mehr. Es ist auch kein trauriges Stück, obwohl trauriges darin vorkommt. Es ist ein Stück mit vielen unterschiedlichen Charakteren, mit viel >> jüdischem Witz <<. Es ist eine geschickte Erzählung in der Erzählung. In drei Stunden wird eine Familiengeschichte von etwa 1906 bis etwa 1966 gespielt und der Spannungsbogen wird durchgehalten. Es ist ein sehenswertes Stück; leider war die Vorstellung schlecht besucht: nur knapp die Hälfte der Plätze waren besetzt.
Die Uraufführung des Stückes fand 1991 in Seattle/USA statt, wurde über vierhundertmal am Broadway gespielt, dann 1994 in Scarborough (Groübrittannien) und im Londoner Westendtheater >> Old Vic <<. Die Premiere in Berlin fand am 20. Januar 1996 statt. Die Regie in Berlin führt Peter Kühn. Die Schauspielerinnen und Schauspieler waren alle gut.
Das Renaissance-Theater ist 1922 dort gegründet worden, wo es heute noch ist, nämlich in Berlin-Charlottenburg, Knesebeck - Ecke Hardenbergstraüe, so zwischen dem Ernst-Reuter-Platz (dem alten Knie) und dem Bahnhof Zoo. Es hat keine spektakuläre Geschichte, wenn man davon absieht, daü viele bekannte Schauspieler an diesem Haus gespielt haben und daü Heinrich George 1943 bis 1945 Direktor war.
 
     
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