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Die geneigte Leserin
und der geneigte Leser weiü, daü ich an das Boulevardtheater
mit langen Zähnen herangehe. Immer wieder versuche ich es - aber? Am
24. April 1996 sah ich im Berliner HANSA - THEATER Herz mit Schnauze
von Sabine Thiesler. Im Programmheft steht als letzter Absatz über
Sabine Thiesler: Seit Nov. 1994 ist sie zusammen mit Klaus J. Rumpf
Gesellschafterin der Hansa - Theater GmbH und schreibt zielgerichtet Stücke
für dieses Haus. Ihre Stücke "Don Camillo und Peppone"
und "Fragen Sie Frau Irene" waren u.a. die gröüten
Publikumserfolge der letzten Jahre. Klappern gehört bekanntlich
zum Handwerk, auch bei Kultur und Kunst. Vielleicht wird auch auf das kurze
und medienüberflutete Gedächtnis der Zuschauer spekuliert: wer
sich den Kommentar- und Informationsbrief NEUE POLITIK aufhebt (und ich
hoffe, das tun einige), die - bzw. derjenige kann in der Märzausgabe
des Vorjahres nachlesen, was ich über "Fragen Sie Frau Irene"
geschrieben habe. Publikumserfolg? Naja? Immerhin, ich kann berichten, daü
das neue Stück Herz mit Schnauze wesentlich besser ist, spritziger,
wenn es mir auch scheint, daü heutzutage ein Boulevard - Stück
ohne Krawall nicht mehr schreibbar zu sein scheint. Es geht um die Aufarbeitung
des Ossi - und Wessi - Geredes, um den Einriü der immer noch existierenden
Mauer in den Köpfen der Menschen. Schade ist, daü in der Schluüszene
die Mauer im Wohnzimmer wieder errichtet wird. Das Stück gibt - gewollt
oder ungewollt - ziemlich viel von der Denkweise der Menschen von der Straüe
wieder; es wird - mit Recht - viel gelacht; die Pointen sitzen. Deshalb
waren auch etwas mehr Menschen als 40 von 200 Sitzplätzen (März
vorigen Jahres) da - vielleicht 80 Zuschauer und erfreulicherweise viele
junge Zuschauer (Theater der Schulen?). Die Bühnenbilder war angemessen
gut.
Inzwischen habe ich mir - wie schon bekannt - das kleine Taschenbuch Theater
Berlin aus dem FAB - Verlag zugelegt, aus dem ich mein Wissen über
das Hansa- Theater in Berlin - Tiergarten beziehe. Ohne eine Jahreszahl
zu nennen, wird berichtet, daü das Theater ursprünglich ein Tanzsaal
der Berliner Kronen - Brauerei war, dann bald als Volkstheater genutzt wurde.
Zeitweilig befand sich auch das Hansa-Kino in diesem Saal. Ich schätze,
daü der Saal etwa hundert Jahre alt ist; er würde schöner
aussehen, wenn er mehr gepflegt wäre. Aber dazu wird dem Privattheater
das Geld fehlen.
Bleiben wir beim Boulevard-Theater und lassen wir einer schlechten Rezension
die nächste folgen. Der nackte Wahnsinn, englisch Noises
off, des englischen Dramatikers Michael Frayn könnte Die schlimmste
Zumutung heiüen oder drastischer blöder kann das Publikum
nicht verarscht werden. Im teuren Programmheft des Renaissance - Theaters
las ich über diesen Dramatiker >> Schon als Kind entdeckte
Frayn den Witz als eine Möglichkeit, mit schwierigen Lebensumständen
(früher Tod der Mutter, ärmliche Verhältnisse) fertigzuwerden:
Er spielte den Klassenclown << Frayn ist in dem Stück Der
nackte Wahnsinn über die Attitüde eines Klassenclowns nicht
hinausgewachsen, ja, ich denke, es gibt in der Realität so manchen
besseren Klassenclown.
Das Stück ist eine Zumutung. Selbst die Schauspieler können mir
nicht leidtun. Der Inhalt ist kurz erzählt: es geht um eine Theatergruppe
auf Tournee, deren Generalprobe vor der Pause gespielt und deren Aufführung
nach der Pause gespielt wird. Die einzelnen Charaktere, die Verletzungen
untereinander, die Empfindsamkeiten, werden im zweiten Teil im gespielten
Alkoholkonsum versteckt. Die Banalität des ersten Teiles wird abgelöst
durch über 60 Minuten Alkoholszenen.
Ich habe das Stück am 2. Juni 1996 im Renaissance - Theater gesehen.
Die Vor- stellung war gut besucht; das Publikum hat schallend gelacht und
war offensichtlich sehr zufrieden. Es soll ja eine Komödie sein. Das
Publikum bestand hauptsächlich aus den Rentnerinnen und Rentnern des
Bürgertums der Nachkriegszeit. Es ist ein Publikum, welches sich selber
gerne suggeriert, nach den Zerstörungen des 2. Weltkrieges bahnbrechende
Aufbauarbeit geleistet zu haben, aber nicht zugeben will, daü es die
Weichen zum Zerfall unserer Gesellschaft, zu unserer Kulturlosigkeit, selbst
gelegt hat. Dieses Publikum will von seinem eigenen Versagen abgelenkt werden.
Dieses Publikum ist selber banal, es ist primitiv, verfügt über
viel Geld, ist aber (im Zirkelschluü) nicht in der Lage, kulturschaffend
zu wirken.
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