Dieter Kersten - Juni / Juli 1996    
Theater: Thiesler "Herz mit Schnauze"  
     
  Die geneigte Leserin und der geneigte Leser weiü, daü ich an das Boulevardtheater mit langen Zähnen herangehe. Immer wieder versuche ich es - aber? Am 24. April 1996 sah ich im Berliner HANSA - THEATER Herz mit Schnauze von Sabine Thiesler. Im Programmheft steht als letzter Absatz über Sabine Thiesler: Seit Nov. 1994 ist sie zusammen mit Klaus J. Rumpf Gesellschafterin der Hansa - Theater GmbH und schreibt zielgerichtet Stücke für dieses Haus. Ihre Stücke "Don Camillo und Peppone" und "Fragen Sie Frau Irene" waren u.a. die gröüten Publikumserfolge der letzten Jahre. Klappern gehört bekanntlich zum Handwerk, auch bei Kultur und Kunst. Vielleicht wird auch auf das kurze und medienüberflutete Gedächtnis der Zuschauer spekuliert: wer sich den Kommentar- und Informationsbrief NEUE POLITIK aufhebt (und ich hoffe, das tun einige), die - bzw. derjenige kann in der Märzausgabe des Vorjahres nachlesen, was ich über "Fragen Sie Frau Irene" geschrieben habe. Publikumserfolg? Naja? Immerhin, ich kann berichten, daü das neue Stück Herz mit Schnauze wesentlich besser ist, spritziger, wenn es mir auch scheint, daü heutzutage ein Boulevard - Stück ohne Krawall nicht mehr schreibbar zu sein scheint. Es geht um die Aufarbeitung des Ossi - und Wessi - Geredes, um den Einriü der immer noch existierenden Mauer in den Köpfen der Menschen. Schade ist, daü in der Schluüszene die Mauer im Wohnzimmer wieder errichtet wird. Das Stück gibt - gewollt oder ungewollt - ziemlich viel von der Denkweise der Menschen von der Straüe wieder; es wird - mit Recht - viel gelacht; die Pointen sitzen. Deshalb waren auch etwas mehr Menschen als 40 von 200 Sitzplätzen (März vorigen Jahres) da - vielleicht 80 Zuschauer und erfreulicherweise viele junge Zuschauer (Theater der Schulen?). Die Bühnenbilder war angemessen gut.
Inzwischen habe ich mir - wie schon bekannt - das kleine Taschenbuch Theater Berlin aus dem FAB - Verlag zugelegt, aus dem ich mein Wissen über das Hansa- Theater in Berlin - Tiergarten beziehe. Ohne eine Jahreszahl zu nennen, wird berichtet, daü das Theater ursprünglich ein Tanzsaal der Berliner Kronen - Brauerei war, dann bald als Volkstheater genutzt wurde. Zeitweilig befand sich auch das Hansa-Kino in diesem Saal. Ich schätze, daü der Saal etwa hundert Jahre alt ist; er würde schöner aussehen, wenn er mehr gepflegt wäre. Aber dazu wird dem Privattheater das Geld fehlen.
Bleiben wir beim Boulevard-Theater und lassen wir einer schlechten Rezension die nächste folgen. Der nackte Wahnsinn, englisch Noises off, des englischen Dramatikers Michael Frayn könnte Die schlimmste Zumutung heiüen oder drastischer blöder kann das Publikum nicht verarscht werden. Im teuren Programmheft des Renaissance - Theaters las ich über diesen Dramatiker >> Schon als Kind entdeckte Frayn den Witz als eine Möglichkeit, mit schwierigen Lebensumständen (früher Tod der Mutter, ärmliche Verhältnisse) fertigzuwerden: Er spielte den Klassenclown << Frayn ist in dem Stück Der nackte Wahnsinn über die Attitüde eines Klassenclowns nicht hinausgewachsen, ja, ich denke, es gibt in der Realität so manchen besseren Klassenclown.
Das Stück ist eine Zumutung. Selbst die Schauspieler können mir nicht leidtun. Der Inhalt ist kurz erzählt: es geht um eine Theatergruppe auf Tournee, deren Generalprobe vor der Pause gespielt und deren Aufführung nach der Pause gespielt wird. Die einzelnen Charaktere, die Verletzungen untereinander, die Empfindsamkeiten, werden im zweiten Teil im gespielten Alkoholkonsum versteckt. Die Banalität des ersten Teiles wird abgelöst durch über 60 Minuten Alkoholszenen.
Ich habe das Stück am 2. Juni 1996 im Renaissance - Theater gesehen. Die Vor- stellung war gut besucht; das Publikum hat schallend gelacht und war offensichtlich sehr zufrieden. Es soll ja eine Komödie sein. Das Publikum bestand hauptsächlich aus den Rentnerinnen und Rentnern des Bürgertums der Nachkriegszeit. Es ist ein Publikum, welches sich selber gerne suggeriert, nach den Zerstörungen des 2. Weltkrieges bahnbrechende Aufbauarbeit geleistet zu haben, aber nicht zugeben will, daü es die Weichen zum Zerfall unserer Gesellschaft, zu unserer Kulturlosigkeit, selbst gelegt hat. Dieses Publikum will von seinem eigenen Versagen abgelenkt werden. Dieses Publikum ist selber banal, es ist primitiv, verfügt über viel Geld, ist aber (im Zirkelschluü) nicht in der Lage, kulturschaffend zu wirken.
 
     
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