Dieter Kersten - November / Dezember 1996    
Oper: Enescus "Oedipus"
Oper: Strauss "Salome"
Ballett: Henze "Undine"
 
     
 

Die Frage der Sphinx in Enescus Oper ist >>Was ist stärker als das Schicksal<< und die Antwort ist >>Der Mensch<< . Der historische Text von Sophokles, Oidipus Tyrannos ist laut dem Programmheft folgender:

Das Rätsel der Sphinx

Es gibt ein Wesen auf der Erde, zweifüüig und vierfüüig, dessen Stimme eine ist,
und dreifüüig; es verändert als einziges die Gestalt von allem,
was sich auf der Erde kriechend bewegt und in der Luft und im Meer.
Doch wenn es, sich auf die meisten Füüe stützend, geht,
dann ist am kraftlosesten die Schnelligkeit seinen Gliedern.

Die Lösung des Oidipus

Höre, auch wenn du es nicht willst, übelbeflügelte Muse der Toten,
von unserer Stimme deine Lösung für das Rätsel!
Vom Menschen hast Du gesprochen, der, da er auf die Erde kriecht,
zuerst vierfüüig ist, unverständig aus den Weichen.
Alt geworden stützt er sich auf einen Stab als dritten Fuü,
den Nacken belastend , vom Alter gebeugt.

In den alten Opern - Führern, beide nach 1949 erschienen, habe ich George Enescu vergeblich gesucht. Lediglich in meiner Brockhaus - Enzyklopädie von 1968 bis 1971 wurde ich fündig. Dort steht: Enescu, George, Violinist und Komponist, geb. Liveni (Rumänien) 9. 8. 1881, gest. Paris 4.5. 1955, war zunächst Schüler des Wiener, dann des Pariser Konservatoriums (J. Massenet, G. Fauré), lebte später als reisender Violinvirtuose und - pädagoge. Zu seinen Schülern zählt Y. Menuhin. E. gilt als der bedeutendste rumän. Komponist. 1912 stiftete er einen Preis für rumänische Komponisten. Unter Hauptwerke steht: Oper >Oedipus< (1937) , Orchesterwerke, Kammermusik, Klavierwerke.
Die Tageszeitung DIE WELT schrieb am 17. Oktober 1996: Der Geheimtip der abgelaufenen Opernsaison blieb nicht lange geheim. George Enescus "Oedipus", zurückgekehrt in den Spielplan der Deutschen Oper ..... . Ich sah und hörte den Geheimtip am 11. Oktober 1996 und bin sehr begeistert von dieser 7. Aufführung seit der Premiere am 10. Februar 1996. Leider war der Besuch der Vorstellung sehr gering; es waren höchsten ein Drittel der Plätze besetzt. Dieser schwache Besuch entspricht nicht der hohen Qualität der Oper, der ausgesprochen guten Inszenierung des Hausherrn Götz Friedrich und der vorzüglichen Ensembleleistung sowie aller Einzelleistungen. Es gibt selten eine Oper, in der die Musik die Handlung so deutlich trägt - und umgekehrt. Selbst bei den spielplantragende groüen Komponisten kommt in manchen Stellen vieler Werke Langeweile auf; das kann ich bei Oedipe nicht sagen. Der schlechte Besuch der Vorstellung ist wahrscheinlich darauf zurückzuführen, daü der Konsument Enescu nicht kennt. Ich bemerke, daü der Mensch der Jetztzeit viel weniger ein kulturelles Wesen ist als ein Konsument. Durch das Fernsehen, und nicht alleine dadurch, ist der Mensch unkreativ geworden und kann mit Unbekanntem viel weniger anfangen als früher. Dem Menschen ist darüber hinaus die Neugierde abhanden gekommen.
Der Text der Oper stammt von dem französischen Schriftsteller Edmond Fleg (1874 - 1963). Fleg hat sich weitgehend an den Handlungsablauf der griechischen Tragödien von Sophokles gehalten; die Handlung muüte natürlich gestrafft werden. Inwieweit der antike Begriff von Schicksal und Schuld in das beginnende Zeitalter der Emanzipation der Menschen transformiert bzw. transportiert werden kann, bedarf einer ausführlichen Überlegung und Diskussion. Wenn dabei - was die Inszenierung suggerieren will - übrigbleibt: Erkenne dich selbst, dann ist das sehr viel. Ich fürchte jedoch, daü das Thema Oedipus noch nicht einmal das hergibt; der klassische Oedipus wird nur dazu dienen, vergangene Kultur und Geschichte zu erkennen.
In dem Programmheft unter Anmerkungen zur Regie steht folgendes: Der Kreislauf Geburt - Tod weist sogar auf buddhistische Gedankenanregungen hin. Der Altar des ersten Aktes ist der Altar im letzten. Die blutige Nabelschnur der Geburt ist zugleich der rote Strang, an dem sich die Mutter/Gattin Jokaste erhängt. Bilder des Unterbewuüten kommen immer wieder ins Spiel. Die versteinerten >>Ahnen<< archisieren die Gegenwart. Die Sphinx ist <<nur>> eine Stimme. Ödipus erscheint ihr Auge vervielfacht. Was ist stärker als das Schicksal? >>Der Mensch<<, antwortet das vermeintliche Findelkind. Enescus Oper erzählt davon, daü er, der Mensch, nur dann stärker ist als das Schicksal, wenn er sein Schicksal annimmt. Um das zu können, muü er sich selbst erkennen, und das, was als Schicksal gilt. Und an anderer Stelle heiüt es: Doch der Geistesrebell Ödipus nimmt seine unwissentlich begangene Schuld auf sich. Und George Enescu wird zitiert: Ein solches Sujet wählt man nicht aus, es wählt einen aus; es springt einen an, es trägt einen fort, es läüt einen nicht mehr los. Man kann ihm nur mit dem Bleistift in der Hand, das Notenpapier vor sich, entfliehen.
Die Oper ist am 13. Juni 1936 an der Pariser Oper uraufgeführt worden. Im Programmheft wird Emile Vuillermoz zitiert (aus der Kritik der Uraufführung): Enescu ist weder von Wagner beeinfluüt noch von Debussy, Strawinsky, Richard Strauss oder Ravel. Er ist selbst eine mächtige Quelle reiner Musik, die unversiegbar sprudelt, ohne Koketterien, ohne vorgefaüte Meinungen, ohne Kunsttheorien. Diese Musik gehört keiner Epoche und keinem Stil an. Es ist einfach Musik.
Leider muüte ich der schon zitierten Zeitung DIE WELT entnehmen, daü am 18. Oktober 1996 die letzte Aufführung der Saison war. Sie wurde werkgetreu in französischer Sprache gesungen. Ich kann für Sie nur hoffen, daü in der nächsten Opernsaison das Stück wieder aufgenommen wird. Es war übrigens eine Koproduktion mit der Wiener Staatsoper.

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Einen anderen Opern - Genuü konnte ich am 16. Oktober 1996 erleben: Salome, Musik von Richard Strauss, Text von Oscar Wilde, in der Staatsoper, Berlin - Mitte, Unter den Linden. Es handelt sich um eine Inszenierung von Harry Kupfer. Leider war es auch die letzte Vorstellung in der Saiison. Ich kann hier nur wiederholen, daü es sich um eine vorzügliche Inszenierung handelte, mit einer vorzüglichen Ensembleleistung und Einzelleistungen. Ebenfalls: Es gibt selten eine Oper, in der die Musik die Handlung so deutlich trägt - und umgekehrt. Das Opernhaus war in diesem Fall bis auf den letzten Platz besetzt. Das Sujet der galiläischen Prinzessin hat im Laufe der fast Zweijahrtausenden eine stetige Wandlung durchgemacht. Im Programmheft wird die Stelle aus dem Markus - Evangelium (VI. Kapitel) abgedruckt, wo von dem Ende Johannes des Täufers die Rede ist. Ebenfalls im Programmheft wird kolportiert, daü weder der Text des Markus - Evangeliums noch die Handlung bei Oscar Wilde historisch bewiesen ist. Dennoch ist es in allen seinen Facetten, in seinen Sagen, Mythen und Märchen eine interessante Gestalt, diese Salome.
Strauss hat den Text von Oscar Wildes Salome (Übersetzung Hedwig Lachmann) fast wörtlich übernommen und ist damit zweifach dem bigotten aber in Wirklichkeit lüsternen Bürgertum auf die Füüe getreten. War doch Oscar Wilde wegen seines Schwulseins ansich schon verrucht, so stellte die Darstellung der Salome auf der Sprechbühne und dann noch auf der Operbühne eine Steigerung der Sünde dar. Die Oper wurde 1905 vollendet in im gleichen Jahr in Dresden erfolgreich uraufgeführt..
Es sieht so aus, als wenn ich noch nie über den Bau der Staatsoper in Berlin-Mitte berichtet habe. Sollte es dennoch so gewesen sein, dann nehmen Sie die Fotografie; die mein Neffe, gelernter Fotograf, mir freundlicherweise zur Verfügung gestellt hat, als Anlaü für den neuerlichen Bericht. Die Baugeschichte des Hauses ist genau so wechselhaft wie die künstlerische Geschichte des Opernbetriebes., nur daü die Baugeschichte mit dürren Worten schneller wiedergegeben ist als die künstlerische Geschichte. Das Haus wurde ursprünglich von dem Preuüenkönig Friedrich II., noch als dieser Kronprinz war, bei dem Baumeister Georg Wenzeslaus von Knobelsdorff , in Auftrag gegeben und 1741 - 42 als Königliches Opernhaus erbaut, 1786 - 88 von Carl Gotthard Langhans gründlich modernisiert (Innenräume) und nach einem Brand am 18. August 1843 von Carl Ferdinand Langhans wiederaufgebaut. 1926 - 28 fand ein erweiternder Umbau statt, 1941 ging das Opernhaus im Bombenhagel in Flammen auf, 1942 war es wiederhergestellt, 1945 wurde es erneut stark beschädigt, von 1952 - 55 von Richard Paulick wiederaufgebaut, und zwar so, daü sich die erheblichen Erweiterungen von 1926 - 28 dem ursprünglich Äuüeren besser anpaüten. Natürlich wurden bei allen Veränderungen die technischen Einrichtungen verbessert, so daü die alte Königliche Oper heute eine moderne Staatsoper mit einem klassischen Interieur ist.
Die künstlerische Geschichte ist, wie geschrieben, weitaus facettenreicher und die Schilderung dieser Geschichte ist von mir in diesem Rahmen auch nicht zu leisten. Ein Stück aus dieser Geschichte: 1898 verpflichtete der damalige Generalintendant Bolko von Hochberg Richard Strauss als Kapellmeister. Richard Strauü wurde am 11. Juni 1864 in München geboren und starb am 8. September 1949 in Garmisch - Partenkirchen In dem Programmheft schreibt Stephan Kohler unter der Überschrift Von Geheimnissen der Liebe und des Todes : Im Herbst 1898 vertauschte Richard Strauss, 34 jährig, seinen Posten als Nachfolger Hermann Levis am Königlichen Hof- und Nationaltheater zu München mit der Position eines Preuüischen Hofkapellmeisters seiner Majestät des Kaisers Wilhelm II. in Berlin. Berlin hatte das spätbiedermeierliche München weit überflügelt, war zur intellektuellen Hauptstadt Deutschlands avanciert und zog Künstler aus allen Teilen des Deutschen Reiches an. Strauss war zweifellos der bedeutendste Komponist seiner Generation, und sein Wechsel von München nach Berlin wurde allgemein als spektakulärer Vorgang gewertet. Spektakulär waren auch die Erfolge, die Strauss um die Jahrhundertwende feierte - meist verbunden mit erbittert umkämpften Uraufführungsskandalen, die den Komponisten nicht unbedingt zum Höfling der wilhelminischen Ära prädestinierten. Daü die Berliner kaiserliche Hofverwaltung ein derartiges >>enfant terrible<< dennoch adoptierte, gereicht ihr noch nachträglich zur Ehre. Strauss hingegen geriet durch sein Berliner Engagement für viele nachfolgende Generationen in das dubiose Licht des erzreaktionären und auf bloüe Repräsentation bedachten Hohenzollernstaates, als dessen musikalischen Exponenten ihn manche neuzeitlichen Musikhistoriographen eilfertig brandmarkten ....... Ja, und noch etwas: Beim Lesen in dem Büchlein Theater Berlin aus dem Verlag FAB Boulevard: fiel mir ein Satz auf, der vielleicht in der aktuellen Kulturdebatte eine Bedeutung haben könnte: Bis zur Machtübernahme der Nationalsozialisten erfuhr die Staatsoper trotz der schwierigen finanziellen Lage eine künstlerische Blüte.

+ + +s

Den zwei guten Nachrichten aus dem Berliner kulturellen Leben eine Dritte hinzuzusetzen, ist mir eine groüe Freude. Gute Nachrichten gibt es ja leider selten. Am 1. November 1996 sah und hörte ich in der DEUTSCHEN OPER BERLIN das Ballett Undine von Hans Werner Henze. Die Ur - Choreographie stammt von Frederick Ashton. Ich bin kein Freund der Musik von Hans Werner Henze. Ich muü gestehen, daü ich das Radio ausmache, wenn Henze gespielt wird. Diese moderne Musik ist nichts für mein Ohr. Aber, und jetzt kommt ein wirklich groües Aber, ein ermunterndes Aber: die Musik verbunden mit einem so guten Ballett, wie es die DEUTSCHE OPER hat, und verbunden mit einem spannend dargestellten Handlungsablauf, das ist wirklich hörbar. Musik und Ballett sind eins. Im 1. Teil war es besonders deutlich; der Spannungsbogen wurde vom Anfang bis zur Pause durchgehalten. Danach fiel die Spannung etwas ab. Dadurch kam auch wieder etwas von meiner Ablehnung der Musik von Henze auf.
Hans Werner Henze ist am 1. Juli 1926 geboren, ist also in diesem Jahr (1996) 70 Jahre alt geworden. In der groüen Brockhaus - Enzyklopädie von 1968 - 72 steht, daü er sich seit 1949 mit der Zwölftonmusik befaüt. Danach ist Undine 1956 entstanden. Undine scheint 1958 vom Royal Ballet London uraufgeführt worden zu sein, mit der Primaballerina Margot Fonteyn in der Hauptrolle der Titelperson. Das Thema Undine geht ja auf den französischen Schriftsteller de la Motte Fouqué zurück. Das Thema ist auch von E. T. A. Hoffmann aufgegriffen worden. Interessanterweise hat der Berliner Choreograph nach seinem neuen Libretto, nach dem Märchen von Hans Christian Andersen "Die kleine Seejungfrau", choreographiert. Er schreibt im Programmheft unter der Überschrift Warum Undine? : Mich rührt weit mehr die Geschichte der kleinen Seejungfrau von Hans Christian Andersen, und ich finde in dieser Märchenüberlieferung das wieder .....: eine sehr ursprüngliche Logik und Klarheit der menschlichen Gefühle. Eine sehr subtile menschliche Problematik wird angesprochen. Liest man das Stück nur flüchtig, empfindet man tiefe Sympathie für die Meerjungfrau; liest man es kühler und aufmerksamer, entdeckt man, wie sehr sie selbst schuld ist an ihrem harten Schicksal. Was verlangt sie von anderen Menschen! Sie sollen, sie müssen ihre Sehnsucht mit ihr mitleben, ungefragt und ohne davon zu wissen!
Interessanterweise rettet und erlöst Hans Christian Andersen, wenn man ihn genau liest, seine "Kleine Seejungfrau" am Schluü nicht, sie kehrt nicht in ihr Wasserreich zurück und vergiüt, was sie erlebt hat, wie sie das bei Giraudoux tut, sondern er gibt ihr quasi ein eigenes "Purgatorium" auf. Sie muü ihre Schuld, ihren Wahnsinn, ihre unsinnige, vereinnahmende Sehnsucht abarbeiten, um erlöst und geläutert zu werden: "Zu wem komme ich?" fragt sie... "Zu den Töchtern der Luft!" antworten die anderen. "Eine Seejungfrau hat keine unsterbliche Seele, kann sie nie erhalten, wenn es ihr nicht gelingt, eines Menschen Liebe zu gewinnen! ...Die Töchter der Luft haben auch keine unsterbliche Seele, aber sie können sich selbst eine durch gute Handlungen verschaffen..."

Selbstverantwortlich, vor allen Dingen anderen gegenüber, leben? Sollte das nicht auch unser Motto sein?
Es war die 11. Aufführung nach der Berliner Premiere vom 24. Mai 1996. Leider war der Besuch schlecht: höchsten die Hälfte der Plätze waren belegt. Den Menschen fehlt die kulturell-intellektuelle Neugierde, was ich wohl schon mal schrieb. So findet sich der unpolitische Mensch in der Kultur auch nicht mehr wieder.

 
     
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