Dieter Kersten - Februar 1998    

Theater: Hauptmanns "Der rote Hahn"
Ballett: Prokofjew "Romeo und Julia"
Theater: Dorst "Herr Paul"

 
     
 

Ebenso groü wie meine intellektuelle Enttäuschung an den Antisemiten war meine ethnische. In den Volksversammlungen wetterten die Herren gegen die "jüdische Unmoral". Die Verführer der germanischen Jungfrauen, die Zerstörer der deutschen Familie, die Träger der orientalischen Lüsternheit wurden unter dem Jubel der Versammelten an den Pranger gestellt. War die Versammlung aus, so zog man zum deutschen Männertrunk in die antisemitische Weiberkneipe des Herrn Rieprich. Bald hatte jeder der deutschen Tugendwächter eine oder noch lieber zwei Kellnerinnen um sich oder auf sich , wozu dann, mit leichter Variante, das Westfalen-Lied angestimmt wurde:

"Glückselig, wessen Arm umspannt, Zwei Mägdlein aus Westfalenland."

Als ich erst angefangen hatte, kritisch dem Antisemitismus gegenüber zu werden, entdeckte ich auf Schritt und Tritt faule Stellen in seinem Fleische.
Unter den antisemitischen Führern habe ich nur wenig wirklich anständige Leute kennen gelernt, und die, deren Charakter ohne Makel war, waren wissenschaftlich so ungebildet, daü mich jungen Menschen die Empörung packte, als ich Gelegenheit hatte, sie aus der Nähe zu beobachten. Demagogen waren sie alle, die einen wider besseres Wissen, die andern infolge mangelnden Wissens.

Hellmut v. Gerlach über den Antisemitismus um die Jahrhundertwende.

Es ist ja kaum zu glauben! Es ist schon drei Jahre her, daü ich in den Kammerspielen in Berlin-Mitte Hauptmanns Der Biberpelz gesehen habe. Im Februar 1995 habe ich an dieser Stelle die Spielstätte und die Theateraufführung beschrieben.
Ich war wieder in den Kammerspielen, und zwar am Freitag, den 31. Oktober 1997 und habe mir Gerhart Hauptmanns Stück Der rote Hahn angesehen, oberflächlich betrachtet eine Fortsetzung des Stückes Der Biberpelz. Die Tragikomödie Der Rote Hahn ist etwa acht Jahre später, 1900/1901, als Der Biberpelz entstanden und am 27. November 1901 im Deutschen Theater, Berlin, uraufgeführt worden. Gesehen habe ich eine Neuinszenierung von Horst Lebinsky; es war eine gut besuchte Premiere. Das Ensemble der Kammerspiele bot wieder einmal überragende Schauspielkunst. Das Bühnenbild war dezent modern.
Mutter Wolffen im Biberpelz ist im Der rote Hahn die wiederverheiratete Frau Fielitz, inzwischen alt und krank, aber immer noch mit der schlesisch - berliner Kodderschnauze, nicht mehr ganz so natürlich wie im Biberpelz, sondern sichtbar müde. Während Mutter Wolffen im Biberpelz durch Diebstahl und Hehlerei den sozialen Aufstieg versuchte, so tut sie es mit Anstrengung im Der rote Hahn mit Brandstiftung und geplanten und vollendeten Versicherungsbetrug. Die degenerierte Obrigkeit, vertreten in beiden Stücken durch den Amtsvorsteher von Wehrhahn, ist keine Ordnung schaffende, sondern eine von Vorurteilen und Parteinahmen korrupte Instanz. Frau Fielitz sorgt dafür, daü der geistig behinderte Gustav, Sohn eines preuüischen Gendarms a.D. Rauchhaupt, dieser Brandstiftung beschuldigt wird, so daü Gustav aus der Obhut seines Vaters in die Irrenanstalt kommt. Am Schluü des Stückes stirbt Frau Fielitz, erschöpft, aber auch bedrängt von Rauchhaupt und von ihren Schuldgefühlen.
Viel kluges steht im Programmheft und in dem Textheft aus dem Verlag Ullstein, Reihe Ullstein Theater Texte. Im Letzteren schreibt Kurt Lothar Tank u.a. im Nachwort: Gerhart Hauptmann hat mit wachen, geschärften Sinnen die Veränderung im Klima seiner Epoche wahrgenommen. Er hat Zeitstücke geschrieben, die historische Dramen geworden sind, wobei die in ihnen steckende Geschichte im Sinne Dostrojewskys als Lehre von der Zukunft betrachtet werden kann. Illustriert wird diese Betrachtung durch die beiden Texte, die ich in die Rahmen gesetzt habe und die aus dem umfangreichen Programmheft stammen. Beide Texte passen, wie Hauptmanns Der rote Hahn, in unsere Zeit. Helmut von Gerlach, geb. 1866 und gest. 1935, war neben Friedrich Naumann Mitbegründer des Nationalsozialen Vereins. Wilhelm II,, dem Leser sicher bekannt als der unselige letzte Kaiser in Deutschland, ist durchaus als würdiger Vorgänger des ebenfalls unseligen Bundeskanzlers Erhardt mit seinem Pinscher - Gerede über die deutschen Intellektuellen bzw. Schriftsteller zu sehen, wie auch als Vorgänger der Beschmutzer abendländischer Kultur, wie Kohl, Hintze bzw. verschiedener Sprecher der herrschenden christlichen Parteien, im Blick auf die Reaktion auf die Rede von Günter Grass im Oktober 1997 in Frankfurt am Main. Biedermänner und Biederfrauen als Brandstifter und Brandstifterinnen.

Eine Kunst, die sich über die von Mir bezeichneten Gesetze und Schranken hinwegsetzt, ist keine Kunst mehr, sie ist Fabrikarbeit, ist Gewerbe, und das darf die Kunst nie werden. Mit dem viel miübrauchten Worte "Freiheit" und unter seiner Flagge verfällt man gar oft in Grenzenlosigkeit, Schrankenlosigkeit und Selbstüberhebung.
Die Kunst soll mithelfen, erzieherisch auf das Volk einzuwirken, sie soll auch den unteren Ständen nach harter Mühe und Arbeit die Möglichkeit geben, sich an den Idealen wieder aufzurichten. Uns, dem deutschen Volke, sind die groüen Ideale zu dauernden Gütern geworden, während sie anderen Völkern mehr oder weniger verlorengegangen sind. Es bleibt nur das deutsche Volk übrig, das an erster Stelle berufen ist, diese groüen Ideen zu hüten, zu pflegen, fortzusetzen, und zu diesen Idealen gehört, daü wir den arbeitenden, sich abmühenden Klassen die Möglichkeit geben, sich an dem Schönen zu erheben und sich aus ihren sonstigen Gedankenkreisen heraus- und emporzuarbeiten.
Wenn nun die Kunst, wie es jetzt vielfach geschieht, weiter nichts tut, als das Elend noch scheuülicher hinzustellen, wie es schon ist, dann versündigt sie sich damit am deutschen Volke. Die Pflege der Ideale ist zugleich die gröüte Kulturarbeit, und wenn wir hierin den anderen Völkern ein Muster sein und bleiben wollen, so muü das ganze Volk daran mitarbeiten, und soll die Kultur ihre Aufgabe voll erfüllen, dann muü sie bis in die untersten Schichten des Volkes hindurchgedrungen sein. Das kann sie nur, wenn die Kunst die Hand dazu bietet, wenn sie erhebt, statt daü sie in den Rinnstein niedersteigt.

Kaiser Wilhelm II. am 18. Dez. 1901

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Berlin hat vier hochambitionierte und hochqualifizierte Ballett - Ensembles: in der Komischen Oper, in der Linden-Oper, in der Charlottenburger Oper und im Friedrichstadt - Palast. Am Sonntag, den 30. November 1997 sah und hörte ich in der Komischen Oper das Ballett Romeo und Julia von Sergej Prokofjew. Dieser klassische ewig gültige und somit auch ewig junge Stoff eines Shakespeare macht sich in dieser modernen Vertonung ausgesprochen gut. Choreografisch ist in dieser Berliner Inszenierung Prokofjews Ballett nach meiner Auffassung klassisch aufgeführt worden. Es war übrigens die 114. Aufführung seit der Premiere am 27. Dezember 1983. Die Musik ist voluminös, kräftig, zum Teil für mein Gehör disharmonisch, zum Teil sehr melodiös. Der Inhalt des Stückes ist ja auch nicht immer sehr harmonisch.
Sergej Prokofjew wurde am 23. April 1891 im russischen Gouvernement Jekaterino- slaw geboren und starb am 4. März 1953. Menschen, die mit Kindern zu tun haben und kulturell bewegt sind, kennen Prokofjew als Komponisten von Peter und der Wolf, ein sehr schönes russisches Märchen.

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Von der Musik nun wieder in das Sprech- theater und zwar in die Kammerspiele in Berlin-Mitte. Um es vorweg zu nehmen: die Ensemble - Leistung und. die einzelne schauspielerische Leistung ist wieder sehr zu loben. Das Stück heiüt Herr Paul und stammt von Tankred Dorst und wie es im Programmheft heiüt Mitarbeit Ursula Ehler. Inhaltlich ist dieses erstmals 1994 in Hamburg aufgeführten Stück skurril über authentisch bis surealistisch. Ein altes bildungsbürgerliches, völlig verlottertes, Geschwisterpaar lebt in einer alten, schon lange stillgelegten Seifenfabrik, die einstmals ihren Eltern gehörte und die nach dem Konkurs von einem Mann gekauft wurde, dessen Enkel nunmehr das Gebäude in Besitz nehmen will. Dieser junge Mann namens Helm, der durchaus einen gewissen Respekt vor dem Altbewohner Herrn Paul und seiner Schwester Luise hat, versucht, die Altmieter davon zu überzeugen, in das Vorderhaus zu ziehen, denn er will in der alten Fabrik zusammen mit einem Geschäftspartner eine Groüwäscherei eröffnen. Herr Paul, stur, geschickt, aber auch witzig, will nicht und versucht, die ganze Verhandlung zu torpedieren. Die Nerven des Jungeigentümers werden noch durch das exzentrische Verhalten seiner Freundin Lilo und durch das Auftauchen der geistig und körperlich behinderten Anita arg strapaziert. Schluüendlich begeht Helm Mord im Affekt an dem Herrn Paul, der dann, wundersam war es schon, nach einer Anstandsszene wiederauferstand. Vielleicht hat das was mit Weihnachten zu tun, Weiü Gott!
Daü im Programmheft diese Affäre einen aktuellen Bezug auf das Thema Alteigentümer in den neuen Bundesländern bekommen hat, war so sicher wie die berühmte Faust auf's Auge.
Tankred Dorst erblickte am 19. Dezember 1925 in Thüringen das Licht der Welt. Er hatte in den 50iger Jahren als Jungeigentümer in Wuppertal ein ähnliches Erlebnis gehabt (ohne Mord, versteht sich). Er ist in Deutschland als erfolgreicher Dramatiker, Drehbuchautor und Schriftsteller tätig.

 
     
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