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Es gibt eine besondere
Masche der Theaterleute, das Zeitgeistspiel. Da werden Klassiker dem Zeitgeist
angepaüt, oder besser gesagt, dem Zeitgeist des jeweiligen Regisseurs.
Ich gebe zu, daü diese beiden Einleitungssätze sehr provokativ
und negativ klingen. Dabei gibt es sicher da und dort eine Inszenierung,
bei der der alte Inhalt und der Zeitgeist übereinstimmen. Manchmal
aber werde ich mein Gefühl nicht los, daü es besser wäre,
ein Stück neu zu schreiben, als ein altes Stück umzubiegen. Sie
werden feststellen, daü mein Bericht zweideutig, vielleicht sogar
mehrdeutig, ist.
Am 13. September sah ich im gut besuchten MAXIM-GORKI-THEATER in Berlin
- Mitte, Lulu von Frank Wedekind. Lulu besteht aus zwei
Monstretragödien (der Ausdruck stammt von Wedekind), aus Erdgeist
und aus Die Büchse der Pandora. Um 1898 begannen die Aufführungen,
die sowohl von der damals noch teilweise vorhandenen Zensur als auch vom
Publikum als Skandale empfunden wurden. Es geht um die sexualverklemmte
spieübürgerliche Gesellschaft, die mit Hilfe des Menschenkindes
Lulu dem Publikum vorgeführt wird, dem Publikum, das als Theatergänger
auch weitgehend der kritisierten spieübürgerlichen Klasse angehört.
Ich kann aber auch den Satz anders formulieren: es geht um eine verruchte
Dirne Lulu, die die sexuell nicht befriedigten Männer verführt
und in den gesellschaftlichen und körperlichen Tod treibt. Im Prolog
wird Lulu als das Tier bezeichnet und sie selber nennt
sich auch so. Dazwischen liegt das Geschehen: Lulu wird als 12jährige
von einem Herrn bürgerlicher Herkunft, Dr. Schön (Manfred Karge),
von der Straüe und - unausgesprochen - durch sein Bett - in die Erziehung
einer (Puff?-) Pflegemutter geholt , anschlieüend mit einem Arzt,
Obermedinzinalrat Dr. Goll (Eckhart Strehle), verheiratet (wird nicht gespielt,
sondern durch die Akteure geschildert), steigt in ihrem Leben auf und ab,
ihre Ehemänner sterben allesamt den Tod aus Eifersucht und Liebe, bis
sie ihren "Entdecker" heiratet, den sie dann tötet. Wedekind
hat die beiden (Ur-) Stücke als Lesedramen bezeichnet.
In der MAXIM-GORKI-Fassung des vom Dichter hinterlassenen Stoffes wird der
Spanungsbogen, den Wedekind vorzüglich gestaltet hat, erhalten. Der
Spannungsbogen, auch getragen von dem vorzüglichen Ensemble, ist die
eine Seite, die positive Seite der Kritik. Auf der negativen Seite steht
die Sexualisierung des Stoffes. Die heutigen Theatermacher haben wahrscheinlich
das Gefühl, daü mit Erotik, bzw. mit erotischen Bezügen,
Anspielungen oder Spielereien kein Geschäft mehr zu machen ist. Sie
meinen, daü dem Publikum dargestellter Sex zugemutet werden kann.
Und das im Übermaü. Selbst ich rege mich ja nicht mehr auf, wenn
sich eine Frau oder ein Mann auf der Bühne auszieht - und die splitternackte
Lulu (Franca Kastein) war in der Tat gut anzusehen.
Das Publikum - vielleicht zu 60 % aus der Altersgruppe 65 bis 75 Jahre stammend
- feierte die Darbietungen fast mit standing ovation. Möglicherweise
fühlten sie sich alle an den Sexualverkehr und an die Sexualpraktiken
im Oval Office des Weiüen Hauses in der Hauptstadt der Vereinigten
Staaten von Amerika erinnert. Oder - waren das ihre eigenen Probleme, die
sie da sahen? Es ist ein Vorteil der heutigen Zeit, daü die Zurschaustellungen
gesellschaftlicher Verkrampfungen auf der Bühne nicht mehr als Skandal
empfunden werden. Denn das, was die sexuelle Privatangelegenheit des us-amerikanischen
Präsidenten sein sollte, das ist zugleich Spiegelbild einer Gesellschaft,
die, zumindestens in Teilbereichen One World ist, also auch uns
betrifft oder auf uns zutrifft.
Nun noch einige Worte zum Autor. Frank Wedekind, geboren am 24. Juli 1864
in Hannover und gestorben am 9. März 1918 in München, Journalist,
Reklameleiter, Zirkussekretär, Schauspieler, Reisebegleiter, war Zeit
seines Lebens ein Anwalt der Auüenseiter der Gesellschaft, der Dirnen,
der Zirkusleute, der Hochstapler. Er war ein Rebell seiner Zeit und saü
1899 wegen Majestätsbeleidigung in Festungshaft. Trotz des gewollten
wechselhaften Lebens schwankte er zwischen dem Wunsch, der Gesellschaft,
die ihn und andere bedrängte, den Spiegel vorzuhalten und dem Wunsch,
daü eben diese Gesellschaft bzw. die Akteure das im Spiel Reproduzierte
verstehen und beklatschen.
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