Dieter Kersten - Oktober 1998    
Theater: Wedekind "Lulu"  
     
  Es gibt eine besondere Masche der Theaterleute, das Zeitgeistspiel. Da werden Klassiker dem Zeitgeist angepaüt, oder besser gesagt, dem Zeitgeist des jeweiligen Regisseurs. Ich gebe zu, daü diese beiden Einleitungssätze sehr provokativ und negativ klingen. Dabei gibt es sicher da und dort eine Inszenierung, bei der der alte Inhalt und der Zeitgeist übereinstimmen. Manchmal aber werde ich mein Gefühl nicht los, daü es besser wäre, ein Stück neu zu schreiben, als ein altes Stück umzubiegen. Sie werden feststellen, daü mein Bericht zweideutig, vielleicht sogar mehrdeutig, ist.
Am 13. September sah ich im gut besuchten MAXIM-GORKI-THEATER in Berlin - Mitte, Lulu von Frank Wedekind. Lulu besteht aus zwei Monstretragödien (der Ausdruck stammt von Wedekind), aus Erdgeist und aus Die Büchse der Pandora. Um 1898 begannen die Aufführungen, die sowohl von der damals noch teilweise vorhandenen Zensur als auch vom Publikum als Skandale empfunden wurden. Es geht um die sexualverklemmte spieübürgerliche Gesellschaft, die mit Hilfe des Menschenkindes Lulu dem Publikum vorgeführt wird, dem Publikum, das als Theatergänger auch weitgehend der kritisierten spieübürgerlichen Klasse angehört. Ich kann aber auch den Satz anders formulieren: es geht um eine verruchte Dirne Lulu, die die sexuell nicht befriedigten Männer verführt und in den gesellschaftlichen und körperlichen Tod treibt. Im Prolog wird Lulu als das Tier bezeichnet und sie selber nennt sich auch so. Dazwischen liegt das Geschehen: Lulu wird als 12jährige von einem Herrn bürgerlicher Herkunft, Dr. Schön (Manfred Karge), von der Straüe und - unausgesprochen - durch sein Bett - in die Erziehung einer (Puff?-) Pflegemutter geholt , anschlieüend mit einem Arzt, Obermedinzinalrat Dr. Goll (Eckhart Strehle), verheiratet (wird nicht gespielt, sondern durch die Akteure geschildert), steigt in ihrem Leben auf und ab, ihre Ehemänner sterben allesamt den Tod aus Eifersucht und Liebe, bis sie ihren "Entdecker" heiratet, den sie dann tötet. Wedekind hat die beiden (Ur-) Stücke als Lesedramen bezeichnet.
In der MAXIM-GORKI-Fassung des vom Dichter hinterlassenen Stoffes wird der Spanungsbogen, den Wedekind vorzüglich gestaltet hat, erhalten. Der Spannungsbogen, auch getragen von dem vorzüglichen Ensemble, ist die eine Seite, die positive Seite der Kritik. Auf der negativen Seite steht die Sexualisierung des Stoffes. Die heutigen Theatermacher haben wahrscheinlich das Gefühl, daü mit Erotik, bzw. mit erotischen Bezügen, Anspielungen oder Spielereien kein Geschäft mehr zu machen ist. Sie meinen, daü dem Publikum dargestellter Sex zugemutet werden kann. Und das im Übermaü. Selbst ich rege mich ja nicht mehr auf, wenn sich eine Frau oder ein Mann auf der Bühne auszieht - und die splitternackte Lulu (Franca Kastein) war in der Tat gut anzusehen.
Das Publikum - vielleicht zu 60 % aus der Altersgruppe 65 bis 75 Jahre stammend - feierte die Darbietungen fast mit standing ovation. Möglicherweise fühlten sie sich alle an den Sexualverkehr und an die Sexualpraktiken im Oval Office des Weiüen Hauses in der Hauptstadt der Vereinigten Staaten von Amerika erinnert. Oder - waren das ihre eigenen Probleme, die sie da sahen? Es ist ein Vorteil der heutigen Zeit, daü die Zurschaustellungen gesellschaftlicher Verkrampfungen auf der Bühne nicht mehr als Skandal empfunden werden. Denn das, was die sexuelle Privatangelegenheit des us-amerikanischen Präsidenten sein sollte, das ist zugleich Spiegelbild einer Gesellschaft, die, zumindestens in Teilbereichen One World ist, also auch uns betrifft oder auf uns zutrifft.
Nun noch einige Worte zum Autor. Frank Wedekind, geboren am 24. Juli 1864 in Hannover und gestorben am 9. März 1918 in München, Journalist, Reklameleiter, Zirkussekretär, Schauspieler, Reisebegleiter, war Zeit seines Lebens ein Anwalt der Auüenseiter der Gesellschaft, der Dirnen, der Zirkusleute, der Hochstapler. Er war ein Rebell seiner Zeit und saü 1899 wegen Majestätsbeleidigung in Festungshaft. Trotz des gewollten wechselhaften Lebens schwankte er zwischen dem Wunsch, der Gesellschaft, die ihn und andere bedrängte, den Spiegel vorzuhalten und dem Wunsch, daü eben diese Gesellschaft bzw. die Akteure das im Spiel Reproduzierte verstehen und beklatschen.
 
     
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