Dieter Kersten - Januar 1999    
Ballett: "Welten und Gegenwelten"
Konzert: Mozart, Górecki, Respighi, Kreisler & Grieg
 
     
 

In der Wochenzeitschrift FREITAG vom 2. Oktober las ich den Bericht von Stefan Dornuf Kunstbausteine über den Hegel-Kongreü in Utrecht. Es ging auf diesem Kongreü um Hegels Vorlesungen zur Ästhetik, die posthum, in der Bearbeitung seines Schülers Hotho, zunächst 1835 herauskamen und die in der ersten vollständigen Ausgabe auüerhalb einer Edition gesammelter Werke, nämlich derjenigen des Ost-Berliner Aufbau-Verlags 1955 (besorgt von Friedrich Bassange, lektoriert von Wolfgang Harich, eingeleitet von Georg Lukács), immerhin gut tausend Seiten umfassen.
Ich will keine Hegel-Diskussion einleiten, denn dazu bin ich nicht kompetent. Ich fand nur den Hegel-Satz, mit dem der FREITAG - Beitrag eingeleitet wurde, nämlich >> Weit entfernt davon, bloüer Schein zu sein, ist den Erscheinungen der Kunst der gewöhnlichen Wirklichkeit gegenüber die höhere Realität und das wahrhaftigere Dasein zuzuschreiben << einen guten Beginn für die Beschreibung eines Ballettabends am 1. Oktober in der STAATSOPER, Unter den Linden, in Berlin - Mitte. Ich muü Sie, verehrte Leserin, verehrter Leser, noch mit einem kleinen Absatz aus dem Bericht von Stefan Dornuf bekannt machen: ... Der Einwand, daü Hegels Ästhetik einen nach wie vor unübertroffenen Maüstab darstelle, ist für die Gegenwart durchaus passend, mochte aber auüer einem erfrischend altmodischen Lukácsianer wie Guido Oldrini (Bologna) niemand so schlankweg behaupten. Dieser rekapitulierte noch einmal Hegels Verdienst, Kants gnoseologischen Subjektivismus (dem letztlich die sogenannte Rezeptionsästhetik verpflichtet ist) zugunsten einer historisch-systemantischen Werk- ästhetik überwunden zu haben, die eine doppelte Frontstellung beziehe: gegen die Schlegelsche Romantik wie gegen den Winckelmannschen Neoklassizismus. Wobei zu ergänzen wäre, daü die auf Autonomie pochenden Kunstschaffenden es in ihrer überwältigenden Mehrzahl mit den Erben der ersteren Strömung halten und Hegel selber als starren Neoklassizisten abstempeln - eben weil sie der von Oldrini ironisch (?) apostrophierten >> Weisheit des Volkes << miütrauen, derzufolge schön sei, was gefällt. Ich habe die entsetzlich langen und so wissenschaftlich klingenden Schachtelsätze nur zitiert, um Sie mit dem letzten Halbsatz zu konfrontieren, der unverständlich wäre, wenn ich das andere weggelassen hätte.
Die Weisheit des Volkes, der die höhere Realität und das wahrhaftigere Dasein zuzuschreiben ist? Ich sah und hörte das Ballett Welten und Gegenwelten in dem nur zu einem Drittel gefüllten schönen Opernhaus. Es sind drei unterschiedliche musikalische Themen, die in Tanz umgesetzt werden, jeweils durch eine Pause getrennt. Mir hat das modernste, nämlich Labyrinth, Buch frei nach André Gide, choreographiert von Mark Baldwin, mit der Musik von Hans Werner Henze, am besten gefallen. Ich hatte in der November/Dezember - Ausgabe 1996 schon einmal Henzes Musik gelobt. Damals war die Vorstellung auch sehr schlecht besucht. Auch damals schrieb ich, daü, wenn man Henzes Musik im Radio hört, nur das Abstellen hilft, weil, und das ist meine Meinung, die Musik nur mit szenischer Darstellung zu ertragen ist. Zu ertragen? Ich gehe noch weiter: sie, Henzes Musik, ist für diese Ballettaufführung ein geeignetes Medium, das griechische Thema Theseus, Ariadne und der Minotaurus dem Publikum zu vermitteln. Das Ballett der Berliner Staatsoper tanzte mit einer atemberaubenden Präzision.
Vielleicht verstehen Sie jetzt, weshalb ich Hegel zitiert habe. Ballett ist ja immer ein gekünstelter Tanz für die Obrigkeiten gewesen, die sich damit von dem plebejischen Volkstanz distanzieren wollten. Der Volkstanz ist, von Ausnahmen mal abgesehen, in dem üblen Dreieck zweier Weltkriege, der Vertreibungen und des Fernsehens in das Abseits gedrängt worden. Wo bleibt die erlösende Freude am Tanz, wenn man schon nicht selber tanzt?
Der zweite Teil des Abends wurde von William Forsythe choreographiert und hieü Steptext. Die Musik, Chaconne in d-Moll, stammt von Johann Sebastian Bach. Abgesehen davon, daü Bachs Musik meiner Ansicht nach verhunzt wurde, gefiel mir auch die Art und Weise des Tanzes nicht. Ich kann mein negatives Gefühl leider nicht ausdrücken.
Der dritte Teil des Abends wurde von Peter Martins choreographiert und hieü Fearful Symmetries. Die Musik stammt von John Adams. Dieser Teil brachte durch das Tempo auch das Blut der Zuschauer in Wallung. Farbenfroh und ohne jede Handlung wurde in unterschiedlichen Bildern getanzt, ich möchte fast schreiben: Volkstanz auf hohem Niveau.
Zum Schluü bleibt dem Chronisten noch anzumerken, daü es die 3. Vorstellung seit der Premiere am 24. September 1998 war.

+ + +

Am 21. Oktober 1998, also mitten in der Woche, hörte ich ein Kammerkonzert im Schauspielhaus am Gendarmenmarkt in Berlin-Mitte. Es gibt in diesem Groüen Schauspielhaus am Gendarmenmarkt einen Kammermusiksaal (400 Plätze; sie waren an diesem Abend alle besetzt) im 3. Stock. Es spielte das Deutsche Kammerorchester unter der Leitung von Burkhard Glaetzner. Das Programm hatte die Überschrift Meisterhafte Stil - "Blüten" und war ein musikalischer Ritt durch die Jahrhunderte. Wolfgang Amadeus Mozarts Adagio und Fuge c-Moll KV 546 ist ja bekanntlich eine seiner Auseinandersetzungen mit Bachs Kunst der Fuge. Von mir aus gehört, war es fast das modernste Stück an diesem Abend. Es folgten Drei Stücke im alten Stil von Henryk Mikolaj Górecki, einem 1933 bei Katowice geborener Komponisten, von dem ich das erste Mal etwas gehört habe. Auch der Komponist des nächsten Stückes, Ottorino Respighi, geboren 1879 in Bologna, gestorben 1936 in Rom, ist mir bis zu diesem Konzert unbekannt gewesen. Seine Komposition Antiche Arie e Danze - Suite Nr. 3 geht auf Lautentabulaturen italienischer und französischer Meister aus dem 16. und 17. Jahrhundert zurück und verarbeitet auüerdem ein Gitarrenwerk des Komponisten Lodovico Roncalli aus dem Jahr 1692. Diese Suite hat vier Sätze und ist musikalisch sehr farbig. Das kann ich durchaus auch von dem ersten Stück nach der Pause schreiben, welches von Fritz Kreisler (geb. 1875 in Wien und gest. 1962 in New York) stammt. Sein Konzert für Violine und Orchester C-dur "Im Stil von Antonio Vivaldi" adaptiert den "meisterhaften Stil" Vivaldis. Der Violinvirtuose Fritz Kreisler hat lange verschwiegen, daü dieses Stück und andere aus seiner Feder stammen, weil die Kritik gleichwertige Stücke mit seinem Namen verriü. Der Violinvirtuose des Abends und 1. Geiger, Knut Zimmermann, 36 Jahre alt, war leider nicht ganz so virtuos, wie es sich ein Musikfreund vorstellen kann. Am bekanntesten mag den Leserinnen und Lesern Edvard Grieg sein, der berühmte norwegische Komponist der von 1843 bis 1907 lebte. Sein Stück "Aus Holbergs Zeit" Suite für Streichorchester G-Dur op. 40 war mit seinen 5 Sätzen der flotte Abschluü eines schönen Musikabends.
Zum Schluü muü ich noch etwas über den Gendarmenmarkt und das Schauspielhaus schreiben. Das Schauspielhaus wird heute meistens Konzerthaus genannt, weil fast nur Konzerte in dem schönen, auf Schinkel zurückgehenden Bau stattfinden. Zusammen mit den Deutschen und dem Französischen Dom ergibt es ein einmalig schönes Ensemble. Ich zitiere aus dem Berlin-Stadtführer des VEB - Tourist - Verlages: Der Mittelpunkt bildet das Schauspielhaus, eines der schönsten Bauwerke, das Karl Friedrich Schinkel geschaffen hat (1818/21). Der Baumeister stand vor der schwierigen Aufgabe, ein neues Theater an der Stelle des 1817 abgebrannten, von Langhans d. Ä. stammenden Nationaltheaters zu errichten und dabei die Grundmauern und ionischen Säulen des Portikus zu übernehmen. Wie bei anderen Bauten übertrug Schinkel auch hier sinnvoll und schöpferisch die Formen griechischer Architektur auf den Boden seiner Heimat - eine gelungene Synthese, die Theodor Fontane, Schinkels Bauleistungen überhaupt im Blick, mit den Worten würdigte: >> Berlin im Inneren trägt den Stempel Schinkels.<< Von Christian Friedrich Tieck stammen die Reliefs der Giebelfelder und der Musengestalten auf dem Dach, von Christian Daniel Rauch die Giebel des Theatersaales, der Apoll mit dem Sonnenwagen. Das Schauspielhaus, im April 1945 stark zerstört, ist nach seinem 1984 abgeschlossenen Wiederaufbau ein Zentrum der Pflege philharmonischer Musikkultur geworden. Es wird dann noch berichtet, daü der groüe Konzertsaal zu Schinkels Zeiten 600 Plätze hatte; nach der Rekonstruktion finden 1900 Besucher Platz. Es ist aber, ich kann es bezeugen, bei der Neuerrichtung des Gebäudes darauf geachtet worden, daü der klassizistische Stil Schinkels auch beim Innenausbau originalgetreu wiedergegeben wird.
Es heiüt dann in dem Stadtführer weiter: Der Deutsche Dom ist 1701/08 von Martin Grünberg für die reformierte lutherische Gemeinde als barocker Saalbau errichtet worden. Auf seinen Stufen waren am 18. März 1848 die Särge der auf den Barrikaden an der Friedrich-, der Jäger- und der Breiten Straüe Gefallenen aufgebahrt, bevor sie der Trauerzug zum Friedhof der Märzgefallenen im Friedrichshain geleitete.... Auch der Deutsche Dom wurde 1945 nahezu völlig zerstört. Über den Französischen Dom, ebenfalls Opfer des Krieges, lesen wir u.a. folgendes: Für die Hugenotten-Gemeinde entstand 1701/05 nach Plänen von J.L. Cayrat und A. Quesnay die Französische Friedrichstadtkirche, der heutige Französische Dom ..... Die Kuppeltürme vor dem Französischen wie vor dem Deutschen Dom waren nach Entwürfen von Karl v. Gontard 1780/85 den Bauwerken angefügt worden. In der Kuppel des Französischen Domes befindet sich ein Restaurant, welches ich schon zweimal unbedient verlassen habe. Aus diesem Restaurant lieüe sich ein attraktiver Treffpunkt von Konzertbesuchern und Theatergängern machen, wenn die Bewirtschaftung freundlich und interessiert wäre.
Als Literatur über den Gendarmenmarkt ist mir das Buch Die Groüen vom Gendarmenmarkt - Biographie eines Platzes von Peter Auer empfohlen worden. Ich biete dieses Buch in der Bestelliste an.

 
     
  Diesen Artikel als PDF-Datei herunterladen Download  
     
  Alle Artikel liegen als PDF - Datei zum herunterladen vor. Um PDF - Dateien zu lesen, benötigen Sie den "Acrobat Reader". Falls das Programm nicht auf Ihrem PC installiert ist, können Sie es sich hier kostenfrei herunterladen. Hompage_Acrobat