Dieter Kersten - Januar 2004    
Theater: Maxim Gorki "Nachtasyl"  
     
  Maxim Gorki, eigentlich Alexei Maximowitsch Peschkow, geboren am 28. März 1868 in Nischni Nowgorod (ab 1932, ihm zu Ehren, Gorki genannt), gestorben am 18. Juni 1936 in Moskau, gilt als einer der größten Dichter der Sowjetunion. Oder sollte ich Rußland schreiben ? Eine äußerst komplizierte Angelegenheit !? Als Gorki als Sohn eines armen Handwerkers geboren wurde, war Nischni Nowgorod eine blühende Handelsstadt im alten Rußland mit großen sozialen Unterschieden und viel Elend, heute, 135 Jahre später, wird vermutlich Gorki eine arme Stadt im heutigen Rußland sein, mit wenigen sozialen Unterschieden, auch mit viel Elend, und mit genau so vielen unterschiedlichen Menschen, wie 1868. Gibt es heute, in der Stadt Gorki, ein Nachtasyl?

Maxim Gorki war nicht nur Dramatiker, Dichter und Schriftsteller, sondern er verstand sich auch als Sozialrevolutionär, was einem Freund Lenins gut anstand.

Maxim Gorki kam bei uns, im alten West-Berlin, öffentlich nicht vor. In der DDR, war Maxim Gorki ein bekannter Mann. Nicht nur, daß er und seine Werke vermutlich Bestandteil der Lehrpläne an den DDR-Schulen waren: es gab und es gibt im (ehemaligen) Ost-Berlin ein MAXIM-GORKI-THEATER, in der vormaligen preußischen Singakademie, unweit der Straße Unter den Linden, hinter der NEUEN WACHE, an exponierter Stelle.

Im Laufe der Jahrzehnten habe ich allerhand über Maxim Gorki gelesen, aber nie etwas von ihm selber.

Am 1. November 2003 sah und hörte ich sein Stück Nachtasyl im MAXIM-GORKI-THEATER in Berlin. Reclam bietet noch einen Untertitel an: Szenen aus der Tiefe in vier Akten und schreibt auf dem rückwärtigen Einband: Nachtasyl war Gorkis größter Bühnenerfolg in Rußland und seit der ersten Inszenierung Max Reinhardts 1903 auch in Deutschland. Es ist bis heute das meistgespielte seiner Stücke geblieben. > Das Nachtasyl bedeutet den Höhepunkt seines dramatischen Schaffens. Als Dichter des Nachtasyl ist Gorki dem Publikum vor allem ans Herz gewachsen <.“

Diese Sätze stammen von August Scholz, dem historischen Übersetzer des Nachtasyl, der 1902 extra den Dramatiker in Rußland besucht hatte, um die Übersetzung zu besprechen. In Knauers Lexikon der Weltliteratur steht, daß Nachtasyl 1950 ins Deutsche übersetzt worden ist, was auf keinen Fall stimmen kann. Das Programmheft meldet als Übersetzerin der aktuellen Aufführung Ulrike Zemme. Es würde den Rahmen dieses Berichtes sprengen, wenn ich diesen Merkwürdigkeiten nachspüren und vor allen Dingen den Unterschieden von wahrscheinlich vielen Übersetzungen nachgehen würde. Das teure Programmheft ist inhaltslos und liefert nur Geschwafel.

Im modernen (deutschen?) Theater werden die klassischen Stücke, zu dem ich das Nachtasyl zähle, heruntergespielt, ohne Punkt und Komma und ohne die Einteilung in Akte, die ja ursprünglich einen Sinn gehabt haben. Im ersten Teil vor der Pause kam das Stück nicht richtig in Fahrt. Sie müssen sich vorstellen: da sind mehrere Obdachlose unterschiedlichster Herkunft in einem Nachtasyl zusammengepfercht, zum Schlafen, Essen und Trinken, in einem Fall sogar zum Arbeiten, sie alle unterhalten sich über Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, sie alle sollen unterschiedliche Typen darstellen, bei fast allen ist Alkohol Gewohnheit. Vieles vom eigentlichen Leben spielt sich vor der Tür ab und manches wird berichtet. Alle sozialen Verwerfungen, Probleme, Lösungen und Utopien könnten fokussiert werden. Die unterschiedlichen Typen, in der Berliner Aufführung sind zwei Frauen darunter, könnten herausgearbeitet werden. Nichts aber geschieht. Im zweiten Teil nach der Pause wird die Handlung lebhafter Das reicht dann zu mehreren Vorhängen zum Schluß. Den guten Schauspielern sei’s gegönnt. Das Theater war übrigens gut besucht.

Die deutsche Uraufführung fand am 23. Januar 1903 im Theater Schall und Rauch, ebenfalls in Berlin, statt. Der Übersetzer Scholz berichtet im Reclam-Textbuch von 500 Aufführungen bis 1905. Es gab eben noch kein Fernsehen und Rundfunk, und der Film befand sich in den Kinderschuhen. Ich kann mir sehr gut vorstellen, daß dieses Nachtasyl in dieser Zeit eine Sensation war.

Ich habe diesmal den Text nach dem Theaterbesuch gelesen. Die moderne Aufführung läßt nicht nur die Akte weg, sondern auch Personen. Es gibt, außer Statisten, im Original 17 handelnde Personen, in der jetzigen Berliner Aufführung 12 Mitspieler. Eine Rolle wird anstatt von einem Mann von einer Frau gespielt. Alle diese Änderungen sind kein Gewinn für die Inszenierung, die ich gesehen habe.

Maxim Gorki, der selbst jahrelang als armer Gelegenheitsarbeiter durch Rußland gezogen war, hat die Typen, die er darstellen wollte, mit Sicherheit alle persönlich erlebt. Trotzdem, auch wenn es selbst heute als kulturell inkorrekt erscheinen sollte, einen großen Dichter zu kritisieren, ich finde nach der Lektüre des Textbuches: die unterschiedlichen Typen des Nachtasyls sind nicht herausgearbeitet.

Maxin Gorki hat damals den Nerv seiner Zeit getroffen; ich befürchte, er trifft nicht mehr den Nerv unserer Zeit - soweit die bürgerliche Gesellschaft überhaupt noch einen Nerv für soziale Fragen hat.

Trotzdem, es lohnt sich, in das MAXIM-GORKI-THEATER zu gehen, um dort Nachtasyl zu hören und zu sehen.
 
     
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