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Das (West-) Berliner
Bürgertum reifen Alters hatte wieder seinen Boulevard-Tag in der Komödie
am Kurfürstendamm. Curth Flatow hat kenntnisreich und mit
handwerklichem Geschick ein Stück geschrieben, was dem Berliner Bürgertum
sehr gut auf den Leib paßt. Zwei gut aussehende junge Leute, natürlich
auch gut verdienend, lernen sich im Urlaub kennen und heiraten halsüberkopf,
um dann festzustellen, daß sie sich eigentlich gar nicht kennen. Es
ist eben nur ein bürgerlicher Traum, daß sich Urlaubsstimmung
so ohne weiteres und ohne eigenes Mittun in den Alltag retten kann. Sie
lassen sich scheiden, und merken dann, daß sie doch zueinander gehören
und finden zu einem Happyend, wie es sich gehört, wieder zusammen.
Ein Happyend ganz im Sinne des Publikums, von dem der größte
Teil vermutlich seinen Traum von einem netten Schwiegersohn oder einer netten
Schwiegertochter auf die Akteure projiziert, wobei der Dritte im Bunde,
der schwule Freund des Hauses sogar auch noch gut dabei weg kommt.
Die Komödie heißt Nachspiel oder Das
Ende einer ersten Ehe und ich sah sie am 26. Mai.
Das Haus war ausverkauft, das Spiel war flott und pointenreich; das Publikum
war für jeden, aber auch jeden (blöden) Witz dankbar. Trotzdem
ist es eine Leistung, wenn drei Schauspieler 300 Kunden mehr als zwei Stunden
lang bei guter Laune halten.
+ + +
Am 19. Juni 2004 sah und hörte ich, zusammen mit meinem fast 16
Jahre alten Patensohn Nils, in der Komischen Oper in
Berlin-Mitte Georg Büchners Wozzeck von Alban Berg.
Der fettgedruckte Titel ist von Alban Berg so bestimmt worden, obwohl
Georg Büchner sein Dramen-Fragment Woyzeck
nannte, übrigens nach einem damals bekannt gewordenen Mordfall in
Leipzig.
Ich bin es Georg Büchner schuldig, daß ich
mit ihm anfange. Er war ein Dichter des Vormärz (bürgerliche
Revolution 1848) und lebte von 1813 bis 1837, wurde also nur 24 Jahre
alt. Weil er Gründer der geheimen "Gesellschaft für Menschenrechte"
und Herausgeber und Verfasser des Hessischen Landboten mit dem Motto
Friede den Hütten, Krieg den Palästen war, mußte
er nach Straßburg flüchten. Georg Büchner
hat dann 1833/34 in Gießen Naturwissenschaften, Medizin und Philosophie
studiert, und als er 1837 in Zürich starb, war er Privatdozent für
Anatomie.
Über
das Fragment schreibt Joachim Großkreutz im Programmheft u.a. :
Vermutlich im Sommer 1836, ein gutes halbes Jahr vor seinem frühen
Tod, beginnt der 23-jährige Medizinstudent Georg Büchner
in seinem Straßburger Exil an einem neuen Stück zu arbeiten,
das er nicht mehr vollenden wird. Aber auch in seiner fragmentarischen
Form ist das Woyzeck-Drama eines der bedeutendsten und
am tiefsten nachwirkenden literarischen Werke des 19. Jahrhunderts. Büchner
macht einen Menschen zur Mittelpunktfigur seines Dramas, der auf der niedrigsten
Stufe der sozialen Hierarchie steht, deren Druck nur auf ihm zu lasten
scheint. Woyzeck ist Soldat, was zur Zeit der Handlung des Stückes
eine der am schlechtesten bezahlten Professionen (D.K. Beruf) ist, er
verdingt sich ohne Zögern zu allerlei Nebengewerben, ja, er stellt
sich für medizinische Versuche zur Verfügung, um das Geld seinem
Mädchen Marie geben zu können, mit der er ein Kind hat und in
einem eheähnlichen Verhältnis lebt (die Ehe ist den Soldaten
verboten). Alle Quälereien und Demütigungen, seine ganze erniedrigte
und gehetzte Existenz erträgt Woyzeck nur im Gedanken an Marie. Aber
die Beziehung zu ihr ist bereits zerrüttet, denn Woyzeck ist nicht
nur körperlich inzwischen ein Wrack, sondern auch seelisch deformiert
und akut erkrankt. Der übermächtige Druck hat ihn in eine Psychose
getrieben, läßt ihn Stimmen hören und die Fragmente seiner
religiösen Erziehung zu abstrusen Visionen zusammenschießen.
Es sind Bilder von tödlicher Bedrohung, Weltuntergang und Strafgericht,
mit denen sein Unterbewußtsein die tief empfundene existentielle
Gefährdung nach außen projiziert. Dieser körperlich und
seelisch Kranke kann Maries Glücksverlangen nicht mehr erfüllen,
ihre Gefühle für ihn sind erkaltet, sie gerät in den Bann
des attraktiven Tambourmajors und verfällt ihm schließlich.
Für Woyzeck bedeutet Maries "Verrat" das Kappen der letzten
Bindung an das Leben, seine Stimmen befehlen ihm das Sühnen dieser
"Sünde" - er tötet mit Marie nicht nur sein Liebstes
und die Mutter seines Kindes, sondern auch sich selbst, denn die Mühlen
der Justiz, in die er nun geraten wird, sind unerbittlich (Büchners
Fragment endet nicht mit dem Selbstmord Woyzecks, sondern läßt
vermuten, daß eine Gerichtsverhandlung das Stück beschließen
sollte).
Karl Emil Franzos, Paul Landau und Georg Witkowsky haben sich dann in
unterschiedlichsten Zeiten mit dem Fragment befaßt und zu vervollständigen
versucht. Am nachhaltigsten hat sich Karl Emil Franzos durchgesetzt, über
den im Programmheft Joachim Großkreutz u.a. schreibt: So ist es
zweifellos nicht nur der fragmentarischen Überlieferung geschuldet,
daß Büchners Woyzeck-Drama erst 43 Jahre nach
dem Tod seines Autors in einer Buchausgabe erscheint. Zudem ist es eine
Ausgabe voller Fehler. Ihr Herausgeber Karl Emil Franzos kann das verblichene
Manuskript stellenweise nur durch chemische Mittel lesbar machen (was
den Zustand der Handschrift für die spätere Forschung nicht
verbessert), dennoch hat er Mühe mit der Entzifferung der Skizzen-blätter.
So liest er z.B. den Namen der Hauptperson fälschlich als Wozzeck
statt Woyzeck und vermag es nur partiell, die einzelnen
Szenen in eine dramaturgisch sinnfällige Ordnung zu bringen. Schlimmer
jedoch ist, daß sich Franzos an vielen Stellen dichterische Zusätze
im moralisierenden Geschmack der Zeit erlaubt, die den Intentionen Büchners
geradezu zuwiderlaufen. Das betrifft nicht nur die "Reinigung"
des Textes von den bei Büchner ungeschminkt wiedergegebenen "Derbheiten",
sondern vor allem die Charakteristik der Personen. So erhält die
Wozzeck-Figur bei Franzos die Fähigkeit zur Selbstreflexion
und damit zur mehr oder minder bewußten Bewertung der eigenen Tat,
im Gegensatz zu Büchners poetischer Strategie, "daß
nicht Woyzeck als handelndes Individuum, sondern die
Gesellschaft als handelndes Kollektiv im Drama hervortritt. ... Auch die
zweite Komponente, die Franzos dem Wozzeck andichtet,
ist bei Büchner nicht angelegt und läuft dessen
Figurenkonzeption zuwider. Büchners Woyzeck ist
nicht religiös, wenngleich die biblische Bilderwelt ihm stets gegenwärtig
ist. Die teils abergläubische, teils paranoide Bezogenheit auf die
biblische Welt verweist auf entfremdete Wirklichkeit. Büchners
Woyzeck betet nicht. Seine Weltuntergangsvisionen münden
in Furcht, nicht in religiöser Einkehr. Büchner
verweigert seiner Figur die Möglichkeit, Ruhe zu finden, Schutz durch
Verinnerlichung zu gewinnen." (Petersen). In ähnlicher Weise
negiert Franzos den bei Büchners Marie auch in der
Bibelszene zutage tretenden Nihilismus ("Alles todt!") und verklärt
sie zur reuigen Sünderin. Mit der Manipulierung der Kinderszene wird
das als Waise zurückbleibende Kind als Identifikationsfigur aufgebaut.
"Statt der Erschütterung und der Trauer über das Elend
des Mörders Woyzeck stellt sich so möglicherweise
das mit den bürgerlichen Anschauungsweisen leichter zu vereinbarende
Gefühl des sozialen Mitleids mit dem armen Waisenkind ein."
(Petersen). Schließlich legt Franzos definitiv einen von Büchner
so nicht intendierten Schluß fest, indem er, wie bereits erwähnt,
die Szene am Teich fälschlich als Selbstmord Woyzecks
deutet.
Im Frühjahr 1914 hatte Alban Berg Woyzeck von Georg
Büchner in der Fassung von Karl Emil Franzos gesehen und
war begeistert. Alban Berg war Schönberg-Schüler. Schönberg
gilt als Begründer der Zwölfton- oder auch Atonalen Musik. Alban
Berg folgt seinem Lehrer in seiner Komposition. Bergs Musik ergänzt
mit ihrer Dramatik das Libretto, ist aber - für meine Ohren - gewöhnungsbedürftig.
Man muß den Inhalt des Stückes kennen und vor allen Dingen
muß man über die Gedanken Büchners informiert
sein. Ich hatte meinen Patensohn Nils nur über das informieren können,
was ich vorher im Internet gelesen hatte. Nun mußten wir feststellen,
daß die Inszenierung von dem Original abweicht, Obwohl die militärischen
Bezeichnungen blieben, war nun eine Konservenfabrik für Bohnen der
Hauptschauplatz. Wozzeck muß immer Bohnen essen.
Er nimmt sich am Schluß in einem Container voller Konservendosen
das Leben. Bei diesem szenischen Verwirrspiel geht nicht nur die eigentliche
Handlung verloren, sondern auch der gesellschaftliche Hintergrund der
Arbeit von Büchner und Berg. Hinzu
kommt, daß die Sängerinnen und Sänger von heute fast alle
nicht gelernt haben, deutlich akzentuiert zu singen. Die Texte sind meistens
sehr schlecht zu verstehen.
Dieser Kulturspiegel ist Nils gewidmet, wobei ich hoffe, daß ich
ihm die Lust auf einen zukünftigen Opernbesuch nicht genommen habe.
Übrigens, lieber Nils, im Programmheft steht: Für die Bereitstellung
der Konservendosen danken wir der Firma Crown Nahrungsmitteldosen Deutschland
GmbH.
Die Uraufführung von Georg Büchners Wozzeck
von Alban Berg fand am 14. Dezember 1925 an der Berliner Staatsoper statt.
Die Inszenierung, die wir gesehen haben, stammt von Richard Jones und
war eine Koproduktion der Komischen Oper Berlin mit der Welsh National
Opera. Es war die 6. Aufführung seit der Premiere am 23. Mai 2004.
Der Zuschauerraum war nur zu einem Drittel gefüllt, obwohl es Sonnabend
war. Der Applaus war sehr verhalten.
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