Dieter Kersten - September 2004    
Theater: Curth Flatow „Nachspiel oder Das Ende einer ersten Ehe“
Oper: Alban Berg „Georg Büchners Wozzeck”
 
     
  Das (West-) Berliner Bürgertum reifen Alters hatte wieder seinen Boulevard-Tag in der Komödie am Kurfürstendamm. Curth Flatow hat kenntnisreich und mit handwerklichem Geschick ein Stück geschrieben, was dem Berliner Bürgertum sehr gut auf den Leib paßt. Zwei gut aussehende junge Leute, natürlich auch gut verdienend, lernen sich im Urlaub kennen und heiraten halsüberkopf, um dann festzustellen, daß sie sich eigentlich gar nicht kennen. Es ist eben nur ein bürgerlicher Traum, daß sich Urlaubsstimmung so ohne weiteres und ohne eigenes Mittun in den Alltag retten kann. Sie lassen sich scheiden, und merken dann, daß sie doch zueinander gehören und finden zu einem Happyend, wie es sich gehört, wieder zusammen. Ein Happyend ganz im Sinne des Publikums, von dem der größte Teil vermutlich seinen Traum von einem netten Schwiegersohn oder einer netten Schwiegertochter auf die Akteure projiziert, wobei der Dritte im Bunde, der schwule Freund des Hauses sogar auch noch gut dabei weg kommt.

Die Komödie heißt Nachspiel oder Das Ende einer ersten Ehe und ich sah sie am 26. Mai.

Das Haus war ausverkauft, das Spiel war flott und pointenreich; das Publikum war für jeden, aber auch jeden (blöden) Witz dankbar. Trotzdem ist es eine Leistung, wenn drei Schauspieler 300 Kunden mehr als zwei Stunden lang bei guter Laune halten.

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Am 19. Juni 2004 sah und hörte ich, zusammen mit meinem fast 16 Jahre alten Patensohn Nils, in der Komischen Oper in Berlin-Mitte Georg Büchners Wozzeck von Alban Berg. Der fettgedruckte Titel ist von Alban Berg so bestimmt worden, obwohl Georg Büchner sein Dramen-Fragment Woyzeck nannte, übrigens nach einem damals bekannt gewordenen Mordfall in Leipzig.

Ich bin es Georg Büchner schuldig, daß ich mit ihm anfange. Er war ein Dichter des Vormärz (bürgerliche Revolution 1848) und lebte von 1813 bis 1837, wurde also nur 24 Jahre alt. Weil er Gründer der geheimen "Gesellschaft für Menschenrechte" und Herausgeber und Verfasser des Hessischen Landboten mit dem Motto Friede den Hütten, Krieg den Palästen war, mußte er nach Straßburg flüchten. Georg Büchner hat dann 1833/34 in Gießen Naturwissenschaften, Medizin und Philosophie studiert, und als er 1837 in Zürich starb, war er Privatdozent für Anatomie.

Über das Fragment schreibt Joachim Großkreutz im Programmheft u.a. : Vermutlich im Sommer 1836, ein gutes halbes Jahr vor seinem frühen Tod, beginnt der 23-jährige Medizinstudent Georg Büchner in seinem Straßburger Exil an einem neuen Stück zu arbeiten, das er nicht mehr vollenden wird. Aber auch in seiner fragmentarischen Form ist das Woyzeck-Drama eines der bedeutendsten und am tiefsten nachwirkenden literarischen Werke des 19. Jahrhunderts. Büchner macht einen Menschen zur Mittelpunktfigur seines Dramas, der auf der niedrigsten Stufe der sozialen Hierarchie steht, deren Druck nur auf ihm zu lasten scheint. Woyzeck ist Soldat, was zur Zeit der Handlung des Stückes eine der am schlechtesten bezahlten Professionen (D.K. Beruf) ist, er verdingt sich ohne Zögern zu allerlei Nebengewerben, ja, er stellt sich für medizinische Versuche zur Verfügung, um das Geld seinem Mädchen Marie geben zu können, mit der er ein Kind hat und in einem eheähnlichen Verhältnis lebt (die Ehe ist den Soldaten verboten). Alle Quälereien und Demütigungen, seine ganze erniedrigte und gehetzte Existenz erträgt Woyzeck nur im Gedanken an Marie. Aber die Beziehung zu ihr ist bereits zerrüttet, denn Woyzeck ist nicht nur körperlich inzwischen ein Wrack, sondern auch seelisch deformiert und akut erkrankt. Der übermächtige Druck hat ihn in eine Psychose getrieben, läßt ihn Stimmen hören und die Fragmente seiner religiösen Erziehung zu abstrusen Visionen zusammenschießen. Es sind Bilder von tödlicher Bedrohung, Weltuntergang und Strafgericht, mit denen sein Unterbewußtsein die tief empfundene existentielle Gefährdung nach außen projiziert. Dieser körperlich und seelisch Kranke kann Maries Glücksverlangen nicht mehr erfüllen, ihre Gefühle für ihn sind erkaltet, sie gerät in den Bann des attraktiven Tambourmajors und verfällt ihm schließlich. Für Woyzeck bedeutet Maries "Verrat" das Kappen der letzten Bindung an das Leben, seine Stimmen befehlen ihm das Sühnen dieser "Sünde" - er tötet mit Marie nicht nur sein Liebstes und die Mutter seines Kindes, sondern auch sich selbst, denn die Mühlen der Justiz, in die er nun geraten wird, sind unerbittlich (Büchners Fragment endet nicht mit dem Selbstmord Woyzecks, sondern läßt vermuten, daß eine Gerichtsverhandlung das Stück beschließen sollte).

Karl Emil Franzos, Paul Landau und Georg Witkowsky haben sich dann in unterschiedlichsten Zeiten mit dem Fragment befaßt und zu vervollständigen versucht. Am nachhaltigsten hat sich Karl Emil Franzos durchgesetzt, über den im Programmheft Joachim Großkreutz u.a. schreibt: So ist es zweifellos nicht nur der fragmentarischen Überlieferung geschuldet, daß Büchners Woyzeck-Drama erst 43 Jahre nach dem Tod seines Autors in einer Buchausgabe erscheint. Zudem ist es eine Ausgabe voller Fehler. Ihr Herausgeber Karl Emil Franzos kann das verblichene Manuskript stellenweise nur durch chemische Mittel lesbar machen (was den Zustand der Handschrift für die spätere Forschung nicht verbessert), dennoch hat er Mühe mit der Entzifferung der Skizzen-blätter. So liest er z.B. den Namen der Hauptperson fälschlich als Wozzeck statt Woyzeck und vermag es nur partiell, die einzelnen Szenen in eine dramaturgisch sinnfällige Ordnung zu bringen. Schlimmer jedoch ist, daß sich Franzos an vielen Stellen dichterische Zusätze im moralisierenden Geschmack der Zeit erlaubt, die den Intentionen Büchners geradezu zuwiderlaufen. Das betrifft nicht nur die "Reinigung" des Textes von den bei Büchner ungeschminkt wiedergegebenen "Derbheiten", sondern vor allem die Charakteristik der Personen. So erhält die Wozzeck-Figur bei Franzos die Fähigkeit zur Selbstreflexion und damit zur mehr oder minder bewußten Bewertung der eigenen Tat, im Gegensatz zu Büchners poetischer Strategie, "daß nicht Woyzeck als handelndes Individuum, sondern die Gesellschaft als handelndes Kollektiv im Drama hervortritt. ... Auch die zweite Komponente, die Franzos dem Wozzeck andichtet, ist bei Büchner nicht angelegt und läuft dessen Figurenkonzeption zuwider. Büchners Woyzeck ist nicht religiös, wenngleich die biblische Bilderwelt ihm stets gegenwärtig ist. Die teils abergläubische, teils paranoide Bezogenheit auf die biblische Welt verweist auf entfremdete Wirklichkeit. Büchners Woyzeck betet nicht. Seine Weltuntergangsvisionen münden in Furcht, nicht in religiöser Einkehr. Büchner verweigert seiner Figur die Möglichkeit, Ruhe zu finden, Schutz durch Verinnerlichung zu gewinnen." (Petersen). In ähnlicher Weise negiert Franzos den bei Büchners Marie auch in der Bibelszene zutage tretenden Nihilismus ("Alles todt!") und verklärt sie zur reuigen Sünderin. Mit der Manipulierung der Kinderszene wird das als Waise zurückbleibende Kind als Identifikationsfigur aufgebaut. "Statt der Erschütterung und der Trauer über das Elend des Mörders Woyzeck stellt sich so möglicherweise das mit den bürgerlichen Anschauungsweisen leichter zu vereinbarende Gefühl des sozialen Mitleids mit dem armen Waisenkind ein." (Petersen). Schließlich legt Franzos definitiv einen von Büchner so nicht intendierten Schluß fest, indem er, wie bereits erwähnt, die Szene am Teich fälschlich als Selbstmord Woyzecks deutet.

Im Frühjahr 1914 hatte Alban Berg Woyzeck von Georg Büchner in der Fassung von Karl Emil Franzos gesehen und war begeistert. Alban Berg war Schönberg-Schüler. Schönberg gilt als Begründer der Zwölfton- oder auch Atonalen Musik. Alban Berg folgt seinem Lehrer in seiner Komposition. Bergs Musik ergänzt mit ihrer Dramatik das Libretto, ist aber - für meine Ohren - gewöhnungsbedürftig. Man muß den Inhalt des Stückes kennen und vor allen Dingen muß man über die Gedanken Büchners informiert sein. Ich hatte meinen Patensohn Nils nur über das informieren können, was ich vorher im Internet gelesen hatte. Nun mußten wir feststellen, daß die Inszenierung von dem Original abweicht, Obwohl die militärischen Bezeichnungen blieben, war nun eine Konservenfabrik für Bohnen der Hauptschauplatz. Wozzeck muß immer Bohnen essen. Er nimmt sich am Schluß in einem Container voller Konservendosen das Leben. Bei diesem szenischen Verwirrspiel geht nicht nur die eigentliche Handlung verloren, sondern auch der gesellschaftliche Hintergrund der Arbeit von Büchner und Berg. Hinzu kommt, daß die Sängerinnen und Sänger von heute fast alle nicht gelernt haben, deutlich akzentuiert zu singen. Die Texte sind meistens sehr schlecht zu verstehen.

Dieser Kulturspiegel ist Nils gewidmet, wobei ich hoffe, daß ich ihm die Lust auf einen zukünftigen Opernbesuch nicht genommen habe.

Übrigens, lieber Nils, im Programmheft steht: Für die Bereitstellung der Konservendosen danken wir der Firma Crown Nahrungsmitteldosen Deutschland GmbH.

Die Uraufführung von Georg Büchners Wozzeck von Alban Berg fand am 14. Dezember 1925 an der Berliner Staatsoper statt. Die Inszenierung, die wir gesehen haben, stammt von Richard Jones und war eine Koproduktion der Komischen Oper Berlin mit der Welsh National Opera. Es war die 6. Aufführung seit der Premiere am 23. Mai 2004.

Der Zuschauerraum war nur zu einem Drittel gefüllt, obwohl es Sonnabend war. Der Applaus war sehr verhalten.

 
     
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