Bertolt
Brechts und Kurt Weills Die Dreigroschenoper sah und
hörte ich bereits am 7. September 1995 im DEUTSCHEN THEATER. Sie
finden meine Besprechung auf der Webseite www.neuepolitik.com unter Kultur,
Oktober 1995. 2005, also zehn Jahre später, erlebte ich das gleiche
Theaterstück im MAXIM-GORKI-THEATER, nahe Unter den Linden, am 11.
September.
Im Gegensatz zu der damaligen Inszenierung ist die aktuelle
Aufführung eine sehr flotte, zum Teil "fröhliche"
und verständliche Darstellung sozialer Zustände, nicht nur im
alten London des 19. Jahrhunderts und früher. Dabei ist mir nicht
ganz klar, ob die saturierten Besucher einer solchen Vorstellung, nämlich
diejenigen, die sich einen Theaterbesuch leisten können, erkennen,
daß der bibelkundige Bettlerkönig Jonathan Jeremiah Peschum
und Straßenräuber mit dem Messer, Macheath, genannt Mackie
Messer, von dem es in der bekannten Moritat heißt > .... Mackie
Messer trägt'nen Handschuh, drauf man keine Untat liest ... <
sehr viele real existierende freilaufende Kopien in der Gegenwart haben.
Möglicherweise saßen sie im Zuschauerraum, lachten und klatschten.
> Was ist der Einbruch in eine Bank gegen eine Gründung
einer Bank.< läßt Brecht die Hauptfigur Macheath (Mackie
Messer) am Schluß des 3. Aktes sagen, vorher schon am Ende des 2.
Aktes > Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral <.
Das überraschende Ende, nämlich die Erhebung
Mackie Messers in den Adelsstand durch die Königin, hat eine gewisse
Ähnlichkeit mit Bundespräsident Horst Köhler, über
dessen > .... Handschuh, drauf man keine Untat liest ... < ich in
der September-Ausgabe des Kommentar- und Informationsbriefes NEUE POLITIK
berichtet habe. (Ähnlichkeiten sind rein zufällig und frei erfunden)
Die Dreigroschenoper hatte übrigens
eine Vorgängerin in The Beggar's Opera des englischen Schriftstellers
John Gay (1665-1732).
Dem Programmheft, mit 2 Euro preiswert, entnehme ich
zwei Verse aus dem Stück von John Gay, in der Übersetzung von
Hans Magnus Enzensberger:
Vor dem Gesetz sind alle gleich.
Wie kommt es dann, daß Arm und Reich
Sich unterm Galgen nicht einen?
Ja, warum hängt man nur die Kleinen?
Wenn man die reichen Schufte hinge,
Weiß Gott, die ganze Wirtschaft ginge
Gleich vor die Hunde, will mir scheinen.
Und darum hängt man nur die Kleinen.
Gut, daß der zweite Absatz im Konjunktiv geschrieben
ist: > ... die ganze Wirtschaft ginge nicht gleich vor die Hunde ...
und man bräuchte auch nicht ... die reichen Schufte hinge (n) ...
< wenn wir, das Volk, eine grundsätzlich neue Wirtschaftsordnung
einführen würden. (Leider wieder im Konjunktiv)
Die Regie der Aufführung im MAXIM-GORKI-THEATER
hatte die Enkelin von Bertolt Brecht, Johanna Schall. Die Premiere dieser
Inszenierung fand am 31. Januar 2004 statt.
Die Dreigroschenoper ist 1928 von Bertolt
Brecht geschrieben worden. Die Musik stammt von Kurt Weill. Sie ist eine
Auftragsarbeit von Ernst Josef Aufricht, dem damaligen Direktor des THEATER
AM SCHIFFBAUERDAMM.
Am 11. September waren fast alle Zuschauerplätze
besetzt; das Publikum schien zufrieden.
+++
Ich kann nun mal nichts daran ändern: Ich halte Kultur für eines
der wichtigsten Erziehungswerkzeuge und Erziehungsziele, für Jung
und Alt. Viele Dinge, die wir heute beklagen müssen, wie mangelnde
Aufmerksamkeit in der Schule bei Schülern und Lehrern, die mangelnde
Aufmerksamkeit in der Gesellschaft bei Jung und Alt, manche mitmenschlichen
Defizite in allen Altersklassen, die mangelnde Allgemeinbildung und schlechte
Ausbildung, das alles weist auf zu wenig "Kultur" hin.
Kultur ist Charakterbildung!
Deshalb habe ich in der Begegnung mit Kindern und Jugendlichen
immer das Bestreben gehabt, gemäß meinen sehr geringen Möglichkeiten,
Kultur zu vermitteln. Dabei versuche ich immer den Konsens herzustellen.
Es ist schon richtig, daß mein Kulturbegriff auch Ausgrenzungen
beinhaltet. Darüber könnte ich auch reden.
Kultur bedeutet auch Neugierde, was mit "Gier"
nach Leben zu tun hat! Kulturgenuß hat was mit Ruhe zu tun, und
nichts mit Betriebsamkeit. Kultur selbst schöpfen, zu initiieren,
hat mit Fleiß und Disziplin zu tun.
Ich erwarte nichts, aber ich hoffe auf alles.
Nachtrag: In der Berliner Tageszeitung DER TAGESSPIEGEL
hat am 31. Juli auf der Kulturseite Matthias Horx einen Essay unter der
Überschrift > Im Land der Miesmacher - Warum haben die Deutschen
keine Lust mehr auf die Zukunft? Eine optimistische Selbst-Diagnose <
geschrieben. Keine Angst, ich bringe nur ein paar Zeilen: >Seit einigen
Wochen hat Deutschland ein eigenes Depressions-Barometer im Internet.
Der Index pendelt zwischen "Gar nicht so schlimm" bis "pathologisch
depressiv". Zwar will der "Spiegel" in einer aktuellen
Serie "Wege aus der Krise" weisen, aber warum ist das eine so
seltene Ausnahme? Warum herrscht in unserem Land unbeirrt das Negative?
Und nicht erst seit gestern: 1981, also vor 24 Jahren, erschien im gleichen
Magazin eine der größten Serien, die das Blatt je publizierte.
Sie hieß "Die Deutsche Depression", erstreckte sich über
sechs Folgen und stolze 72 Seiten und las sich so: "Ein Bild zeichnet
sich ab: Gedrückte Stimmung. Versteinerung im Verhalten. Abkapselung.
Verbitterung. Verlust an Geborgenheit. Ungewißheit. Selbstzweifel.
(...) Ein Gefühl von Leere. Jammern und Lamentieren. Wahnhafte Ängste
um Gesundheit und Besitz..." Wie gut wir diesen Ton kennen. Schon
Heine formulierte über seine Landsleute: "Sie gehen so betrübt
und gebrochen herum, wie wandelnde Ruinen." Oder Voltaire: "Die
Deutschen sind die Greise von Europa." Aber wie weit sind solche
Zuschreibungen nur harmlose Aperçus, die wir auf Partys brauchen,
um eine Konversation in Gang zu bringen? Oder handelt es sich um zutreffende
Eigen-Diagnosen? <
Wenn keine Neugierde, keine Gier auf Kenntnis deutscher
und europäischer Kultur da ist, dann wisssen die Knaben und Mädels
nicht, wer Heinrich Heine und Jean-Michel Moreau = Voltaire gewesen sind.
Jeder muß wenigstens mal Heinrich Heine gelesen haben, um überhaupt
ein Fünkchen Idee von den Kulturleistungen des 18. Jahrhunderts zu
haben, auf der auch unsere technischen und wissenschaftlichen Erfolge
aufbauen. Die Mißachtung unserer Kultur führt unmittelbar zum
wirtschaftlichen und damit sozialen Niedergang des deutschen Volkes. Das
Gleiche vollzieht sich auf europäischer Ebene.
Was ist zuerst dagewesen? Die Deutsche Depression
oder die mangelnde Bereitschaft der Deutschen, sich mit
der Erziehung ihrer Kinder zu beschäftigen?
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