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Ich
bekenne meine Ratlosigkeit. Da gibt es, „fast im Kiez“, das
KLEINE THEATER AM SÜDWESTKORSO, ca. 92 Sitzplätze, mit einer
kleinen Bar (und gutem Rotwein), mitten in einem bürgerlichen Umfeld
- in der heiklen Konkurrenz mit dem Fernsehen - und da gibt es immer wieder
den verzweifelten Versuch des Theaters, originell zu sein, mit Stücken,
die witzig, unterhaltsam, „modern“ und ein wenig provokativ
sein sollen. Dafür bekam das KLEINE THEATER bisher 383 500 Euro im
Jahr Zuschuß vom Steuerzahler; zum Vergleich: die großen Boulevardtheater
am Kurfürstendamm, die KOMÖDIE und das THEATER AM KURFÜRSTENDAMM
bekommen keinen Zuschuß und sind meistens rappelvoll.
Avantgarde (= Vorhut; die Vorkämpfer einer Idee oder Richtung) ist
das KLEINE THEATER keinesfalls. Das wäre ja noch eine Möglichkeit,
für die es sich unter Umständen sogar zu kämpfen lohnen
könnte.
Ich sah am 1. November 2005 im KLEINEN THEATER „eine wahnwitzige
Wagneriade“ Cosimo und Ricarda von Berndt W. Wessling.
Über Berndt W. Wessling (* 25. 7. 1935 – † 13. 1. 2000)
steht im Programmheft: > Er war ein Münchhausen
des 20. Jahrhunderts.< Das scheint mir eine Übertreibung
des manchmal etwas überhitzten Literaturbetriebes zu sein. Wenn ich
dem Programmheft folgen darf, dann war Wessling ein Plagiator und ein
Fälscher. War das Münchhausen auch?
Zwei Frauen stehen auf der Bühne. Die eine stellt Richard Wagner
dar und die andere seine Frau Cosima. Was treibt den Autor, ein Theaterstück
über diese beiden kulturhistorischen Persönlichkeiten zu schreiben?
Sind es neue Erkenntnisse über das Eheleben der beiden Protagonisten?
Oder sind es neue Erkenntnisse über das schöpferische Tun des
Meisters? Nein, es geht um eine für die Menschen von Heute „entscheidende
Frage“, nämlich, ob Richard Wagner nicht nur ein Frauenheld
war, sondern ob er auch gerne Männer verführte. Ach, du gütiger
Gott, wie wichtig!!?
Wagner war ein schwieriger und sehr produktiver Künstler. Keine Frage:
der nachgeborene Berndt W. Wessling konnte ihm noch nicht einmal „ein
Glas Wasser“ reichen.
Die beiden Schauspielerinnen Vera Müller und Anna Simon haben gut
gespielt. Es gibt in diesem Theater keine Souffleuse und ich bewundere
das Gedächtnis der beiden Frauen.
46 der 92 Zuschauerplätze waren am 1. November nicht besetzt. Über
dem Theater blitzt das Damoklesschwert der Streichung des jährlichen
Zuschusses aus dem Steuersäckel. Soll ich nun in Tränen ausbrechen
oder empfehlen, sich nach einer Kleinkunst umzusehen, die sich wohltuend
von dem Fernsehangebot abhebt? Ein Kontrastprogramm muß her, welches
die Menschen in das Theater zieht. Andere Theater schaffen es ja auch,
ohne Zuschuß. Warum nicht das KLEINE THEATER AM SÜDWESTKORSO?
Mein optimistisch gemeinter Schluß wird von einer neuen Hiobsbotschaft
konterkariert, die besagt, daß der Immobilienfonds, der Eigentümer
des Kurfürstendamm-Karrees geworden ist, die beiden dort ansässigen
und erfolgreichen Theater-Häuser KOMÖDIE und THEATER AM KURFÜRSTENDAMM
gekündigt hat. Theater können nicht, so wird von den Managern
des neuen Eigentümers (hinter dem die Deutsche Bank steht) argumentiert,
eine so hohe Miete zahlen wie ein Kaufhaus oder eine Luxusboutique. Also
weg damit! Da kommt es zu der skurrilen Situation, daß das satte
Bürgertum, autobesessen und juwelengeschmückt, den eigenen Show-Room
zugunsten einer erhofften satten Rendite aufgibt, schimpfend natürlich,
weil die eigene, manchmal sogar professorale Intelligenz nicht ausreicht,
die Zusammenhänge zu erkennen.
Also doch Subventionen aus dem Steuersäckel für Theater? Die
Fürsten und die erst kürzlich vergangene Zeit des realen Sozialismus
haben sich ihre Theater „geleistet“, sehr stark aus den Frondiensten
der Völker subventioniert, die bürgerliche Parteiendemokratie
mit ihrem materiellen „Interesse“ sägt sich die Äste
ab, auf denen sie sitzt. Ohne Kultur gibt es keine geistige, moralische
und wirtschaftliche Entwicklung - nur Rückschritte.
Von den Subventionen - gleich welcher Höhe - profitieren die Künstler
im weitesten Sinn, ihre Bürokratie und - wieder das satte Bürgertum
als Konsument. Ist dieses satte Bürgertum mit ihrem materiellen Interesse
und dem Börsenspektakel überhaupt noch zu einer geistigen und
moralischen Entwicklung fähig? Wäre es nicht wichtiger, einen
Großteil der Subventionen als stark verbilligte Karten an elternabhängige
Jugendliche und Geringverdiener weiter zu geben?
Es wäre sehr schön, liebe Leserin, lieber Leser, wenn Sie versuchen
würden, die Fragen in Leserbriefen oder auch redaktionellen Beiträgen
zu beantworten.
+ + +
Deutsches Theater zu Berlin, am 3. Dezember 2005: Auf dem Spielplan steht
Faust - Der Tragödie erster Teil von Johann Wolfgang
von Goethe. Ich war voller Erwartungen, diese Tragödie das erste
Mal auf der Bühne zu sehen, hatte ich doch bisher nur den Text gelesen.
Vor dem Vorhang erschien Faust, assistiert in wechselnder Reihenfolge
von Mephisto, Wagner und dem Schüler; sie alle schrien, sprachen,
flüsterten Textfetzen in nicht nachvollziehbaren Betonungen und vielfach
phonetisch schlecht zu verstehen. Weder Zueignung
noch Vorspiel auf dem Theater oder der Prolog
im Himmel waren von den Bruchstücken des Monologes des Faust
Habe nun, ach! Philosophie, Juristerei und Medizin,
und leider auch Theologie! ... zu unterscheiden. Keine Wissenschaftskritik,
keine ... Phantasie ... mit kühnem Flug ...
, keine Träume in der Gelehrtenstube und kein Widerspruch zum Göttlichen
waren Teil des schlecht angerichteten Wortsalats. Der von der Sprache
her so wohlgeformte Monolog des Faust, Der Osterspaziergang,
kam in zwei Sätzen vor, Studierzimmer und Pudel wurden gänzlich
verschwiegen, die Inhalte von Goethes Faust verschwanden im Nirwana der
totalen Unverbindlichkeit. Dieser Unverbindlichkeit fielen auch Auerbachs
Keller und die Hexenküche zum Opfer.
Der Vorhang ging erst hoch, als Gretchen (Margarete) und ihre Tragödie
in das Spiel kamen. Auch hier ging es der Regie (Michael Thalheimer) nicht
um die Inhalte, sondern nur um das Blut, welches theatralisch fließt.
Zusammenhänge zwischen den Mordtaten wurden nicht sichtbar. Die ganze
Inszenierung war nichts weiter als eine ungezügelte Selbstbefriedigung
sich modern gebender Theaterleute, denen auch in Zukunft, auch bei anderen
Themen, Dichtern und Stücken nicht über den Weg zu trauen ist.
Wer einem Herzstück der deutschen Klassik die Sprache raubt, tötet
kulturell auch anderswo.
Vermutlich paßt es in den Geist der Zeit, daß die berühmte
Gretchenfrage, die Frage von Gretchen an Faust: >
Nun sag, wie hast du’s mit der Religion < der Regie fast
peinlich gewesen sein muß. Fast zehnmal wurde die Frage vom Gretchen
dieser Aufführung geschrieen und zehnmal deshalb von Faust nicht
verständlich beantwortet, weil die Widerrede der doch etwas umfänglichen,
in Unterhaltungssequenzen unterteilten, Antworten, ohne Punkt und Komma
dahergeredet wurden.
Goethes Faust ist Teil unserer Sprache und unserer Kultur. Goethe ist
Goethe, Heiner Müller ist Heiner Müller (nur als Beispiel);
beide sind Teile deutscher Kultur und beide sind fair zu behandeln.
Noch mehr als die real vorhandene Inszenierung von Goethes Faust hat mich
das Publikum erschreckt. Es war ein fast ausverkauftes Haus, an einem
Sonnabend; das Publikum klatschte frenetisch, als ginge es darum, der
Deutschen Kultur noch zusätzlich einen Tritt in den Hintern zu verpassen.
Ich habe beim Hinausgehen aus dem Theater bedauert, nicht gebuht zu haben.
Zwei Stunden Aufführung in einem Stück, ohne Pause, das war
vielleicht der Trick, das Publikum, auch mich, zu benebeln.
All das geschah 2005 in Deutschland am Deutschen Theater. Was regen wir
uns über CIA-Flüge über Deutschland auf, wenn wir nicht
in der Lage sind, uns als Deutsche in Deutschland zu begreifen und zu
bewahren?! Wollen wir als Deutsche und als eine eigenständige Kultur
mit einer eigenen Sprache weiter existieren?! Können Sie mir die
Frage beantworten?
+ + +
Stich von Peter Cornelius, * 1783 in Düsseldorf und † 1867
in Berlin.
Faust und Margarete, vorübergehend
Faust: Mein schönes Fräulein, darf ich wagen, Meinen Arm und
Geleit Ihr anzutragen?
Margarete: Bin weder Fräulein, weder schön, Kann ungeleitet
nach Hause gehn. Sie macht sich los und ab.
Faust: Beim Himmel, dieses Kind ist schön! So etwas hab
ich nie gesehn. Sie ist so sitt- und tugendreich Und etwas schnippisch
doch zugleich. Der Lippe Rot, der Wange Licht, Die Tage der Welt vergeß
ich's nicht! Wie sie die Augen niederschlägt, Hat tief sich in mein Herz
geprägt; Wie sie kurz angebunden war, Das ist nun zum Entzücken gar!
Faust scheint mich festzuhalten. Am 28. Januar 2006 sah
und hörte ich in der Staatsoper unter den Linden
die > Oper in einer Nacht und elf Nummern, Text und Musik von Pascal
Dusapin < faustus, the last night. Der
Komponist und Dichter Pascal Dusapin ist das französische, kulturelle
Glanzlicht am europäischen Opernhimmel, den, das schreibe ich gleich
zu Beginn, zu kritisieren, ein Sakrileg sein wird. Die Oper faustus,
the last night ist eine Auftragsarbeit der Staatsoper unter den
Linden und der Opera National de Lyon.
Pascal Dusapin legt großen Wert darauf, als Vorlage für seine
Oper das Faustdrama des englischen Dichters Christopher Marlowe (1564
bis 1593), eines Zeitgenossen William Shakespeares, als Vorbild genommen
zu haben. Im Mittelpunkt der Handlung steht der Teufelspakt „Wissen
gegen Seele“, und zwar the last night
des Doktor Faustus, der mit großer Hilflosigkeit diese „letzte
Nacht“ auf einem überdimensionalen Zifferblatt zusammen mit
Mephistopheles, dem Teufel, mit Angel, einem gefallenen Engel und den
Figuren Sly und Togod, die dem surrealistischen Sujet entsprungen sind,
verbringt. Die Textmontage enthält Wortfetzen und Textteile von Marlowe,
aus dem deutschen Volksbuch > Historia von D. Johann Faustus <,
aus den zahlreichen Faust- Puppenspielen des Mittelalters bis hin zu Goethe
und späteren Dichtern. Das Bühnenbild ist mehr als sonst Teil
der Handlung; es ist ein überdimensionales Zifferblatt einer Bahnhofsuhr,
deren Zeiger, an denen sich die Protagonisten klammern, sich bewegen,
vor und zurück. Das Zifferblatt soll - so verstehe ich es - die „Würdigkeit“
der „Fragen“ und die „Fragwürdigkeit“ des
Seelenhandels unterstreichen und natürlich auch die Vergänglichkeit
des Lebens und der Zeit. Wenn ich oben von „großer Hilflosigkeit“
schreibe, dann meine ich, daß der Stoff, der hinter der Formulierung
„Wissen gegen Seele“ stecken könnte, nicht bewältigt
worden ist. Die „große Hilflosigkeit“ bezieht sich nicht
auf die turnerischen Fähigkeiten der einzigen Sängerin und der
vier Sänger, die ich bewundert habe. Sie mußten auf dem schrägen
Zifferblatt kontrolliert rutschen und kräftig hochkriechen.
Die Musik, Sie nehmen es mir hoffentlich nicht übel, ist nicht meine
Musik. Sicher, die Handlung wird an vielen Stellen durch das Orchester
unterstützt. Die Musik der Singstimmen ist von der untermalenden
Musik streng getrennt. Die Sopranistin Caroline Stein muß im Liegen
spitze Schreie intonieren - ich frage mich, ob das nicht ein Mißbrauch
von Musik und Stimme ist.
Diesmal fand ich auf der Webseite der Staatsoper die Pressestimmen zu
faustus, the last night. Ich habe den Eindruck,
daß die Kritiker durchgehend den „Eiertanz“ übten.
Keiner schien das Stück verstanden zu haben und keiner wollte es
sagen und eine schlechte Kritik schreiben. In dem Programmbuch sind hochintellektuelle
Texte abgedruckt, deren Vorteil es ist, daß ich vieles nicht verstehe.
Je „moderner“ eine Oper ist, desto mehr Fremdwörter werden
verwendet. Das Beste an dem Programmbuch, welches übrigens €
7,- kostet, ist die höchst interessante Zeittafel der Künstler,
die sich mit dem Thema Faust befaßt haben.
Am 28. Januar waren die Hälfte der Zuschauerplätze des Hauses
besetzt, obwohl es eine Sonnabend-Vorstellung war. Es war die 3. Vorstellung
seit der Uraufführung am 21. Januar 2006. Die Texte werden in englischer
Sprache gesungen. Eine Leuchtschrift über der Bühne gibt die
deutsche Übersetzung wieder
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