Martin Rust - November / Dezember 2006    
 

West-Berliner Trümmerfrau Anno 2006

 
     
 

Ein nasskalter Abend Mitte April 1988. Jung und unschuldig – obwohl ich genug Gründe hatte, mich für welterfahren zu halten – war ich wenige Monate zuvor nach (West-)Berlin gekommen. An jenem Abend war es wieder mal soweit: erneut hatte mir das Berliner Leben nicht gut mitgespielt. Die näheren Umstände erinnere ich nicht mehr, aber noch einen halben Monat vor mir und von der Überweisung meiner Eltern entfernt hatte ich noch 50 Mark in der Tasche. Der Dispo bei der Bank war bereits ausgereizt. Keine Ahnung, wie es weiter gehen sollte. Deprimiert schlich ich die breite Hofjägerallee entlang. Oh, wie wenig war das damals eine Allee, sondern nur ein überdimensionierter Asphaltweg, windig, öde und verlassen. Die Brache, die zweimal im Jahr für einen freudlosen Rummelplatz genutzt wurde: in ihren Pfützen spiegelte sich die Tieftraurigkeit meiner Seele. Gegenüber, auf der anderen Seite lagen die Trümmer des Vorkriegsdiplomatenviertels mit ihren hohen Gräsern und der ungestörten Kaninchenpopulation mittendrin; am Ende der Straße erhob sich steil die wurzellose Siegessäule.

“Ey, Jungchen, haste mal `ne Kippe für mich?“ fragte eine rauchige Stimme. Ich blickte von meinen Füßen auf. Vor mir stand SIE: Berlin-verlebt, um die 50, dicke Schminke im Gesicht, grelle Lippen leuchtend im Laternenlicht, eine pompöse Perücke auf dem Kopf, Lackminirock und hohe Pumps. „Ey ja, ick meine Dich.“, setzte sie nach. Verwirrt gab ich ihr eine. „Haste ooch Feuer, Kleener?“  Die Flamme des Feuerzeugs beleuchtete unsere beiden Gesichter. „Na, janz glücklich siehste aber ooch nich aus, wa?, meinte SIE, rauchend. „Nee, bin ich auch nicht“, gab ich zurück. „Und ich hab auch kein Geld und kein Interesse“, fügte ich hinzu. „Na, macht doch nischt, mein Kleener. Hast mir ja schon `ne Fluppe gegeben. Wasn los?“ Und einsam und allein, wie ich war, erzählte ich ihr alles. Ich setzte mich auf die Bordsteinkante und SIE setzte sich daneben, obwohl doch ihr Lackrock so sehr spannte. Ich weiß noch, dass SIE meinen Erzählfluß mehrmals unterbrach mit „Det wird schon wieder, Jungchen“, oder so ähnlich. Wir rauchten auch noch eine zweite und eine dritte Zigarette auf dem Bordsteinrand und ich hätte die ganze Nacht dort sitzen mögen. Doch dann meinte SIE, es sei nun wieder Zeit etwas zu tun, und so ward ich entlassen. Das Wetter war nicht besser geworden, die Trümmergrundstücke waren noch nicht weggeräumt, doch ich fühlte mich so unsagbar getröstet: Don`t worry, be happy war ein Hit jenes Jahres, und der kam mir in den Sinn. Am nächsten Morgen wachte ich gutgelaunt auf und ich startete neu.

Die Jahre vergingen. Mauerfall. Wie oft fuhr ich mit dem Auto eben diese Strecke. Mein Leben änderte sich, entwickelte sich. SIE stand immer noch an ihrem Platz, ich sah SIE jedes Mal im Vorbeifahren. Dann verschwand die Currybude, auf der Brache entstanden das Parteihauptquartier der CDU und die mexikanische Botschaft,  die Kaninchen mußten letztendlich neuer Bebauung weichen und selbst die Siegessäule hatte wieder angefangen, historische Wurzeln zu schlagen. Aber SIE? Noch einige Zeit stand SIE an ihrer gewohnten Stelle, dann war auf dem neuen hellen Boulevard kein Platz mehr. Aber vielleicht konnten die neuen Straßenlampen auch einfach nur das dicke Make-up leichter durchdringen. Ich zog um, mußte jetzt in die Tiergartenstraße abbiegen, wenn ich aus der City-West auf dem Weg nach Hause in die City-Ost war, vorbei an Gebäuden des neuen Berlin, vorbei auch an der Halbruine der italienischen Botschaft, dunkel und seit Jahrzehnten vermauert. Und da stand SIE, ihr Gesicht genauso im Dunkeln, aber ihre pompöse Perücke und einen schimmernden Lackrock erkannte ich sofort. Jahre vergingen erneut, Jahre schaute ich nach, wenn ich vorbeikam. Immer war SIE da. Dann, eines Tages, beschlossen auch die Italiener, ihre Botschaft wiederaufzubauen, und Ländervertretungen und Parteistiftungen zogen an die Straße. Diesmal wich SIE nicht. Wohin hätte SIE auch gehen können?  SIE  stand doch bereits an der schummerigsten Stelle zwischen repräsentativer Hofjägerallee und der Glitzermeile des neuen Potsdamer Platzes. Die italienischen Trümmer wurden weggeräumt, neu aufgebaut und wieder hellrosa angestrichen. Damit kam mehr Helligkeit und beleuchtete ein zuckersüßes Italien. SIE blieb trotzdem - oder  vielleicht gerade deshalb: bella Italia und  fa l´amore?  Aber dort konnte ich mit dem Auto nicht wirklich halten  ...  allerdings wollte ich auch nicht.

Eines Abends, gute achtzehn Jahre nach jenem ersten Abend, kam ich von einem politischen Meeting, in Hemd und Krawatte. Ich hatte schon am hellen Nachmittag meinen Wagen der rosa Botschaft gegenüber abgestellt, doch alles hatte länger gedauert. Ich lief zum Wagen und diesmal führte mich mein Weg das erste Mal erneut zu Fuß an der vertrauten Gestalt vorbei. Ich tat, was ich schon lange hatte tun wollen. „Hallo, können Sie sich noch an mich erinnern? Sie haben mir mal vor langer Zeit geholfen.“ Natürlich konnte SIE sich nicht erinnern; wie viele Männer – und was für welche? - mochte SIE seither gesehen haben? Mindestens eine Epoche war versunken, mit ihr zwei halbe Städte, und eine neue Stadt war entstanden. Viele Kinder waren in dieser Zeit erwachsen geworden, Kinder einer neuen Generation, junge Konkurrentinnen wohl mit dabei. SIE hatte sich nicht verändert. „Nee. Aber haste vielleicht `ne Zigarette für mich?“ Die Perücke war so hochfrisiert wie eh und je. Wie mochte es darunter aussehen, wie unter ihrem Make-up? Wie alt war SIE eigentlich? Zeitlos? Alterslos? „Det is ja ma wa wat nettes“, kam ihr Kommentar, als ich schilderte, wie dankbar ich für jenes unvergeßliches Zusammentreffen all die Jahre gewesen war. „Aber wat zusammen machen willste immer noch nich?“, fragte SIE. Wie damals verneinte ich. „Na denn - war schön, daste da warst. Vielleicht ja demnächst ma. Ick steh immer hier, weeste ja . Allet jute.“

Das wünschte ich ihr auch, von ganzem Herzen. SIE stand bereits wieder in Warteposition, als ich den Wagen heimwärts wendete.

 
     
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