Dieter Kersten - September 1998    
Die Russische Krise  
     
  Kein Deutscher hat das Recht, auf Rußland und seine Menschen herabzublicken, was auch immer dort geschehen mag. Leider sitzt die antibolschewistische, antirussische bzw. antislawische Propaganda der Nationalsozialisten tief in dem deutschen Gemüt, verbunden mit der Angst vor dem Fremden, vor dem Unbekannten. Wir Deutschen täten gut daran, uns mit Rußland mehr zu beschäftigen.
Rußland ist ein (rohstoff) - reiches Land, mit einer alten Kultur und mit Menschen, die diese Kultur geprägt haben und von ihr geprägt wurden.. Rußland hat keinen Bruder-und Schwesterstaat, wie es die DDR in der BRD hatte, der/die ihr helfen kann. Aber auch hier: alleine die 40 Jahre deutscher Trennung hatten zur Folge, daß sich in DDR und BRD, ich schreibe es mal so, unterschiedliche Kulturstränge entwickelt hatten, eine Tatsache, die uns allen heute große Schwierigkeiten macht. In Rußland hat es z.B. achtzig Jahre lang keinen Hauch eines selbständigen Mittelstandes gegeben; auch vor der Revolution 1917 gab es nur eine sehr dünne Schicht eines selbstbewußten Bürgertums.
Das bitte ich zu beachten, wenn wir unseren Blick nach Rußland wenden. Da haben Politbürokraten, ehemals bekennende Kommunisten, wie sie auch heißen mögen, versucht, Kapitalismus pur einzuführen, ohne selbst zu wissen, was das ist. Da ist z.B. der ehemalige und nunmehr wieder - designierte - Ministerpräsident Tschernomyrdin, der unter Kapitalismus die persönliche Aneignung von russischem Volkseigentum und westlicher Hilfe versteht und zu einem der reichsten Männer Rußlands aufgestiegen ist. Er gehört der Fronde der neuen Millionäre an, die Jelzins Wahlkampf finanzierten und deren Gefolgsleute demzufolge in dem Beraterstab von Jelzin die Mehrheit haben.
In der Berliner Tageszeitung DER TAGESSPIEGEL beschreibt am 2. September Sonja Margolina unter der Überschrift Aufstieg der Amokläufer und unter der Unterüberschrift Die Hoffnung, daß in Rußland eine funktionierende Marktwirtschaft aufgebaut wird, muß vorerst aufgegeben werden. Keine Marktwirtschaft, kein Wachstum, keine Demokratie. Und Schuld daran haben fast alle - auch der Westen. Die Korruption in Rußland und die neuen Reichen. Ich brauche das, glaube ich, nicht zu wiederholen, weil das ja süffisant in vielen deutschen Medien ausgebreitet wird. Die Berichterstatterin schreibt aber auch, wie sich us-amerikanische Berater bereichert haben und daß sie, und dies ist noch schlimmer, in Unkenntnis der russischen Verhältnisse (Kultur) beraten haben. Interessant fand ich auch einen Absatz, den ich Ihnen nicht vorenthalten kann: Das schwierigste Erbe der Sowjetunion ist aber die Elite. Ihr desolates Niveau, behauptet der Moskauer Soziologe Lew Gudkow, habe die Elite dem sowjetischen Bildungssystem zu verdanken, das eine autoritär-utilitaristische (Utilitarismus = philosophische Lehre, die im Nützlichen die Grundlage des sittlichen Verhaltens sieht und ideale Werte nur anerkennt, sofern sie dem Einzelnen oder der Gemeinschaft nützen) Mentalität reproduzierte. Diese Bildung stimulierte nicht nur Selbstkultivierung, motivierte nicht zum Leistungsstreben, sondern sah die einzige Ressource lediglich in der Ausbeutung des Anderen. Den Großteil der Elite bildeten Ingenieure, das heißt Menschen, die alle sozialen und politischen Fragen technokratisch auffaßten: Die sozialen Institutionen orientierten sich immer noch auf die Konservierung des Systems und nähmen dafür die Einschränkung des menschlichen Potentials in Kauf. Vor diesem Hintergrund blühten Vetternwirtschaft und Korruption, und es entfaltete sich eine unglaubliche Arroganz der "Reformer" gegenüber der Bevölkerung und dem Schicksal des Landes.
Ich habe wenig Veranlassung, die Analyse eines Einheimischen als falsch abzutun, obwohl hier mal wieder Philosophie und Soziologie sehr auseinander zu laufen scheinen. Wenn ich mich als Außenstehender nur auf die Philosophie einlasse, dann kann ich nur sagen, sie braucht Futter zum Leben.
Was Rußland braucht, das sind genau die Ideen, die auch uns aus unserer Krise helfen würden: ein umlaufgesichertes Geld (ohne Zinsen), eine Regionalisierung der Wirtschaft, einen basisdemokratischen Staatsaufbau, ein Eigentumsrecht (insbesondere auch das an Grund-und Boden), welches mehr an der Gemeinschaft der Menschen orientiert ist als an sachfremden Profit - Interessen.
Da wir selbst das nicht schaffen, was für Rußland notwendig ist, ist Gelassenheit erste Bürgerpflicht. Was uns zu beunruhigen hat, daß ist der rote Knopf in Jelzins Koffer, mit dem ein atomares Inferno ausgelöst werden kann. Was uns auch zu beunruhigen hat, ist, daß sich in der russischen Politik das Gefühl breitmachen kann, - als größtes Opfer und schließlich als Sieger des 2. Weltkrieges - international ungerecht behandelt zu werden. So wie sich die Deutschen nach dem 1. Weltkrieg durch den üblen Versailler Vertrag in Drittklassigkeit abgedrängt sahen. Es gibt da eine hohe internationale Verantwortung, aber es gibt, aus der Geschichte heraus, eine besondere deutsche Verantwortung. Zum wiederholten Mal z.B.: Das sogenannte alliierte Museum in Berlin - Dahlem berücksichtigt nur die Franzosen, Briten und US-Amerikaner, nicht die Sowjetunion, als wenn wir Deutschen unter Hitler der Sowjetunion nicht den Krieg erklärt, und im Gegensatz zu den westlichen Ländern, nicht unendlich viel Leid über die sowjetischen Völker gebracht hätten. Ich habe das ungute Gefühl, daß dieses durch und durch unpolitische deutsche Volk diese Verantwortung nicht begriffen hat. Es gibt noch einen dritten Punkt der Beunruhigung: solange wir keine wirtschaftlichen und staatspolitischen Alternativen für uns und bei uns diskutieren, und nach reiflicher Überlegung bei uns verwirklichen, werden sie bei den Russen auch nicht diskutiert und eingeführt. Solange wird uns die russische Krise erhalten bleiben und solange werden wir auch im kapitalistischen Sinn draufzahlen müssen.
Einspruch: (Auch wieder -) solange wir z. B. Erdöl und Erdgas aus der ehemaligen Sowjetunion so billig beziehen, wie zur Zeit, so billig, daß es uns eigentlich die Schamröte ins Gesicht treiben müßte, solange ist es schon Recht, wenn in Zukunft die Steuern für die Normalverdiener erhöht werden, damit die Normalverdiener die Verluste der Banken und Großindustrie aus dem Rußlandgeschäft bezahlen, die dann wieder Leute wie Tschernomyrdin zu Millionären machen.
Zudem muß ich Sie auf eine Sache aufmerksam machen, die eigentlich bekannt ist, nun aber nach meiner Meinung eine besondere Aktualität erlangt. Bestechungsgelder, die deutsche Firmen im Ausland zahlen, sind im deutschen Inland steuerlich absetzbar. Sogar ohne unterschriebene Quittung. Das wird damit begründet, daß in solchen Ländern wie Rußland nichts ohne Bestechung läuft. Die Bestechungsgelder werden natürlich, auch wenn sie in Deutschland steuerwirksam sind, von den deutschen Firmen in die Aufträge eingerechnet. Gezahlt werden sie also indirekt vom deutschen und russischen Volk. Nutznießer dieser Bestechungsgelder sind in Rußland die neuen Millionäre, die ihr Einkommen natürlich nicht versteuern. Dieses Verfahren ist in Rußland weitgehend bekannt und trägt natürlich nicht dazu bei, den Russen auf der Straße von unserem Rechtssystem und der bei uns praktizierten Demokratie zu überzeugen.
Natürlich ist das nur eine Facette des Fasses ohne Boden in Rußland. Sie zeigt aber unsere - der Deutschen - direkte Verantwortung für bestimmte Entwicklungen. Wir können uns nicht hinstellen und mit dem Finger auf Jelzin zeigen. Der Finger sollte auf uns selber gerichtet sein.
Schlußbemerkung: Die eingerechneten Bestechungsgelder sind natürlich durch die Bürgschaften der Bundesregierung abgesichert und werden, falls Rußland nicht zahlen kann, vom deutschen Steuerzahler aufgebracht. Toll, was, oder, da bleibt einem die Spucke weg, so ist es nun einmal, so funktioniert unsere Parteien-Demokratie und das ist das Arbeitsergebnis unserer heren Redenschwinger.
 
     
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