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Drei unternehmungslustige
junge Leute haben sich am 6. August d.J. aufgemacht, um ein Stück der
Heimat zu erkunden. Diese drei jungen Leute waren Nils, 10 Jahre jung, Jan.
26 Jahre jung und Dieter, 59 Jahre jung, eine fröhliche, ausgeglichene
Truppe, auch wenn es dem Ältesten an diesem Tag nicht gerade sehr gut
ging. Aber solche Probleme werden durch Disziplin behoben, was ja auch ein
preußisch - brandenburgischer Begriff ist, heutzutage ungern gehört
und rechts geortet, aber dennoch unverzichtbar. Wenn nun jemand meint, der
Jüngste hätte den Ton angegeben, so muß ich verneinen. Er
war der Anlaß, just an diesem Tag nach Niederfinow zum Schiffshebewerk
zu fahren. Der Älteste war schon zweimal dagewesen und hatte Technik
und Natur genossen. Der Mittlere und der Jüngste waren absolute Greenhorns.
Die Fahrt ging mit dem Auto quer durch das groß gewordene Berlin,
über Bernau und Eberswalde bis zu unserem ersten Ziel. Im Internet
wird das Schiffshebe- werk folgendermaßen beschrieben: Technikbegeisterte
werden ihre Freude am Schiffshebewerk Niederfinow haben. 94 m lang, 27 m
breit, 60 m hoch, 14.000 t Stahl und 72.000 m3 Beton wurden beim Bau benötigt;
soweit die nüchternen technischen Daten. Doch trotz seiner gewaltigen
Größe, seiner imposanten Technik, Stahl und Wasser, fügt
sich das Hebewerk beinahe harmonisch in das Urstromland zwischen Oderbruch
und Barnim ein. Der erste Kanal, der die Havel mit der Oder verband, war
der bereits 1620 fertiggestellte Finowkanal. Der Kanal, durch den Dreißigjährigen
Krieg zerstört, geriet bald darauf in Vergessenheit. Erst Friedrich
der Große ließ 1743 den Kanal erneuern und wieder eröffnen.
Mit 2.720.767 t Güterdurchgang erreichte der Kanal 1906 schließlich
seine Kapazitätsgrenze. Kaiser Wilhelm II. verfügte einen neuen
zweiten Kanal, den Oder-Havel-Kanal zu bauen. Die Tragfähigkeit der
Schiffe konnte nicht nur von 170 t auf 600 t gesteigert werden, sondern
auch die Schleusenanzahl wurde von 17 auf nur noch fünf Schleusen verringert,
nämlich die Schleuse Lehnitz sowie die 4 Schleusen der Schleusentreppe
Niederfinow. Zwischen 1927 und 1934 wurde dann, mit der damaligen Rekordsumme
von 27,5 Mio. Reichsmark, die Schleusentreppe durch das Schiffshebewerk
ersetzt. Die gesamte Schleusung dauert nunmehr nur noch 20 Minuten, wobei
eine Höhe von 36 m überwunden wird. Besucher können auf dem
oberen Aussichtsbalkon das Heben und Senken der Schiffe genau mitverfolgen.
Die Binnenschiffe fahren in den gut 4300 t schweren Hebetrog hinein, und
werden dann, nachdem die Tore geschlossen sind, in gut 5 Minuten nach oben
gehoben bzw. nach unten gesenkt. Nach Öffnen der Schleusentore kann
dann das Schiff seine Fahrt wieder aufnehmen. Der Trog ist über 256
Stahlseilen mit einem gleich großem Gegengewicht verbunden. 4 Elektromotoren
von je 55 kW heben und senken den Trog über Ritzel- und Zahnstockleiter.
Das Schiffshebewerk ist täglich von 9 bis 17 Uhr geöffnet. Am
Eingang ist eine sehr gute Broschüre erhältlich, die alle technischen
Detailfragen klärt (2,- DM). Für die nähere Zukunft ist ein
ständiges Informationszentrum geplant, das die Besucher über Geschichte
des Hebewerks und die Technik aufklären soll.
"Wie viel Nieten wurden bei dem Bau verwendet" - ich konnte die
Frage von Nils nicht beantworten. Ich konnte ihm nur sagen, daß der
Beruf des Eisennieters in Deutschland ausgestorben ist. Was mir auffiel,
war, daß an diesem Wochentag, während unserer gut zweistündigen
Anwesenheit, nicht ein einziges Frachtschiff das Schiffshebewerk passierte.
In dieser Zeit donnerten zehntausende, wenn nicht hunderttausende von Tonnen
per Lkws über die Autobahnen und Landstraßen, zerstörten,
töteten und beschädigten. Das ist die Politik (fast) aller in
den Parlamenten vertretenen Parteien. Wie lange dauert dieser Irrsinn noch?
Natürlich - wir drei Reisenden sind auch mit dem PKW gefahren und haben
damit die Umwelt nicht ganz ungeschoren gelassen. Was ich eigentlich hätte
wissen müssen, das ist die Tatsache, daß Niederfinow etwa 80
km von Berlin (Mitte) entfernt ist. Wir sind an diesem Tag alles in allem
etwa 25O km gefahren, weil wir uns noch mehr als das Schiffshebewerk angesehen
haben. Besser ist es, eine Nacht in der landschaftlich so schönen Gegend
zu bleiben. Auch dann, wenn Sie das "öffentliche" Fahrangebot
aus dem Internet annehmen sollten - von Berlin-Lichtenberg mit dem RE 3
nach Eberswalde Hbf., von dort mit der RB 60 nach Niederfinow - werden Sie
sich abhetzen.
Die Gegend, mit Laub und Fichtenwäldern überzogen, hügelig,
daß sogar die Straßen in Serpentinen gebaut worden sind, heißt
der Barnim. Fachleute unterscheiden noch den Neubarnim und den Altbarnim,
auch von Niederbarnim habe ich schon gehört, aber ich will mich mit
solchen Details nicht aufhalten. Der Barnim ist 1230 von den Markgrafen
Johann I. und Otto III. von Herzog Barnim I. von Pommern-Stettin erworben
worden. und gehörte seitdem ununterbrochen zu Brandenburg. Nils fand
die Landschaft romantisch.
Das Schiffshebewerk war der Hit des Tages. Trotz fehlender Frachtschiffe:
die Betreiber wissen, was sie Touristen schuldig sind; der Trog wurde zweimal
gesenkt und gehoben, mit einem dafür extra menschen - gefüllten
Ausflüglerschiff. Nils kam also auf seine Kosten. Seine künstlerischen
Bemühungen, das Hebewerk zu zeichnen, scheiterten an dem heftigen Wind
und den für solche Witterung unzureichenden Zeichenutensilien. Es muß
eben immer noch viel gelernt werden.
Sonst war das Wetter sehr schön. Wir fuhren, nachdem wir Mittag gegessen
hatten, über Liepe und Oderberg zum Parsteiner See. Bevor die Mönche
das Kloster Chorin 1272 gründeten (über dieses Kloster berichtete
ich bereits früher im Kleinen Kulturspiegel) gründeten sie im
Jahre 1258 das Kloster Mariensee auf der "Ziegeninsel" im Parsteiner
See. Mit der Information versehen, daß dort Reste des Klosters zu
sehen sind, waren wir schließlich enttäuscht, insbesondere unser
Jüngster, der sich ein besonderes Abenteuer vorgestellt hatte. Wir
fanden nur spärliche Mauerreste vor. Keine Geheimgänge oder phantasieanregende
Ruinen. Kostenlosen Zugang bekamen wir durch eine freundliche Dame in der
Rezeption eines umfangreichen und sauberen Campingplatzes, der die "Ziegeninsel"
bedeckt. Der Parsteiner See soll einer der saubersten Seen der Umgebung
sein. Dicht dabei ist das "Ökodorf Brodowin". Auf der ganzen
Fahrt begegneten wir Hinweisen auf ökologische Landwirtschaft. Demeter-Erzeugnisse
aus Brodowin werden in Berlin angeboten. Die Regionalisierung unserer Ernährung
durch ökologischen Anbau ist eine große Chance für unsere
Wirtschaft und Kultur.
Unsere Reise war noch nicht zuende. Informationen zufolge, die Jan hatte,
gab es in der Nähe Reste eines alten Eisenwerkes, das Karlswerk heißt
und welches zur Zeit Friedrich des Großen errichtet wurde und Kanonen
und Munition produzierte. Zwischen Niederfinow und Hohenfinow fanden wir
schließlich das Hinweisschild Karlswerk, ganz offensichtlich keine
selbständige Gemeinde, sondern, wie Hohenfinow, zu Eberswalde gehörig.
Es begann eine kleine, abenteuerliche Fahrt auf einer Betonplattenpiste,
die wir als Kinder als Panzerstraße bezeichnet hätten (die aber
für einen Panzer fast zu schmal wäre), in ein (auch fast) romantisches
Tal mit einer zum Teil alten Bebauung aus den letzten zwei Jahrhunderten
Es waren da und dort Reste von früherer gewerblicher Tätigkeit
zu sehen. Wenn nicht gelegentlich ein Mittelklasseauto der Jetztzeit vor
einem der Häuser gestanden hätte, wäre das Gefühl sehr
groß gewesen, Jahrzehnte zurückversetzt zu sein. Wir fragten
einen alten Mann am Ausgang des Ortsteiles nach dem historischen Karlswerk,
aber, obwohl der versicherte, er wäre hier geboren, er wußte
von nichts. Wir fuhren ein Stück zurück, stiegen aus, erkundeten
das Gelände. Das Tal muß einstmals durch einen starken Bach durchflossen
gewesen sein. Über einen maroden Holzsteg sahen wir in einen Wald,
der von alten Wegen durchzogen ist. Wir sahen auf ein zugewachsenen Talbereich
und waren der Auffassung, wenn überhaupt, dann war das der Platz des
historischen Eisenwerkes, wenn auch nichts, gar nichts, zu sehen war. Wir
fuhren zurück; an einem Hinweisschild Mühle machten wir halt;
kein Mensch zum Fragen, nichts Besonderes zum Sehen. Weiter. Wir waren fast
wieder auf der Hauptstraße, da begegnete uns wieder ein alter Mann:
ja, als Kind war er mal an diesem Karlswerk, ja, er könnte sich erinnern.
Er machte sogar eine ziemlich klare Standortangabe, die mit unserer Idee
gut übereinstimmte. In den Baracken des alten Eisenwerkes, so berichtete
uns der Mann, wurden früher die polnischen Schnitter untergebracht.
Jan und Nils fragten mich, was Schnitter sind: polnische Saisonarbeiter
in der Landwirtschaft. Also, noch einmal zurück, noch einmal eine Geländeinspektion,
so gut es ging und soweit es unsere (vielleicht übertriebene) Vorsicht
zuließ. Das Eisenwerk war selbst in spärlichen Resten nicht mehr
vorhanden. Wieder enttäuscht liefen wir weiter, bei unserer ersten
Auskunftsperson vorbei, die inzwischen reichlich Bier genossen hatte, dem
anderen Ortsausgang zu. Auf einem Grundstück arbeitete eine alte Frau,
die wir noch einmal fragten; sie holte ihren Mann, der sich als eine interessante
und sehr freundliche Auskunftsquelle erwies. Die Reste des alten Karlswerkes
sind im Laufe der Jahrzehnte von den Einheimischen demontiert und in ihren
Häusern verbaut worden. Wir hatten die Lage richtig bestimmt. Die alten
Tonkartuschen, die Gießformen für die Geschosse, die noch lange
zu Hunderten herumgelegen haben. wurden sehr oft in Gartenmauern verarbeitetet
(wir sahen keine). Noch in den fünfziger Jahren gab es zwei große
Karpfenteiche im Tal, die von einem Bach gespeist wurden und deren Wehren
geöffnet wurden, wenn die Wassermühle am unteren Ausgang des Tales
Wasser zum Mahlen brauchte. Die Teiche waren aber irgendwann geborsten und
seitdem wäre auch die Mühle nicht mehr in Betrieb. Der Wald, der
mit alten Wegen durchzogen ist, gehört zum Schloßpark. Was für
ein Schloßpark? Ja, hier hat des Schloß des Reichskanzlers von
Bethmann Hollweg gestanden, welches von den Russen so schlecht behandelt
wurde, daß es später abgerissen wurde. Zuhause sah ich im Lexikon
nach: Theobald von Bethmann Hollweg, geb. am 29. November 1856 in Hohenfinow,
gestorben ebenda am 2. Januar 1921, wurde am 14. Juli 1909 Reichskanzler
und preußischer Ministerpräsident und am 13. Juli 1917 "gestürzt".
Bethmann Hollweg gehört nicht zu den deutschen Politikern, die sich
sowohl in den Augen vieler seiner Zeitgenossen als auch rückblickend
mit besonderen Ruhm bekleckert haben. In meinen Augen gehörte er zu
denjenigen, die treu und brav die Vorgaben des Großkapitals erfüllt
haben und somit den Blutzoll des 1. Weltkrieges und den rasanten Fortgang
der kulturellen Zerstörung Ost- und Mitteleuropas auf dem Gewissen
haben. Tatsache ist aber auch, daß solche Leute und Familien maßgeblich
daran beteiligt waren, solche herrlichen Gegenden wie den Barnim zu einer
Kulturlandschaft zu machen, deren nachhaltige Zerstörung noch nicht
einmal dem Nationalsozialismus und dem realen Sozialismus
marxistisch-leninistischer Prägung gelang. Heute müssen
wir mühsam die Wurzeln unseres Herkommens freilegen und die zarten
Pflänzchen einer neuen kulturellen Entwicklung pflegen und uns stärker
als alle Generationen vor uns gegen einen internationale Gleichmacherei
wehren, die nun Globalisierung heißt. |
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