Dieter Kersten - Oktober 1998    
Die Wahlen am 27. September
 
     
  Zwei/drei Tage vor den Bundestagswahlen rief mich ein Leser an, um mich zu fragen, ob ich mich auch so richtig freuen würde, wenn nach gelungenem Kanzlerwechsel wenigstens Teile der Forderungen des Kommentar - und Informationsbriefes erfüllt werden würden. Verblüfft antwortete ich, ja, natürlich, und kam mir anschließend vor wie einer, der dauernd meckert, dem nichts recht zu machen ist. Dabei liegen meiner Kritik immer grundsätzliche Überlegungen zugrunde, die nicht bei jeder Kritik in aller epischen Breite wiederholt werden können.
Während ich beginne, die Zeilen zu schreiben (28. September) ist eine Regierung Schröder nur in Ansatzpunkten erkennbar. Die berühmten 100 Tage Schutz - und Bewährungszeit haben noch nicht einmal begonnen. Es ist also Zeit bzw. Gelegenheit zu mahnen, daß ein Politikwechsel nicht nur ein Wechsel von Personen, Generationen, von Prozentsätzen bei der Einkommensteuer und den Ökosteuern ist, sondern daß Politikwechsel erst einmal ein Wandel auf der geistigen Ebene sein muß. Der Sozialdemokrat Willy Brandt, auch einmal Bundeskanzler, hat das als einen kleinen Teil dieser Wahrheit mit dem Slogan mehr Demokratie wagen umschrieben. Aber auch diese drei Worte gingen ins parteipolitisch Leere: wie sehr das Gift >> geistiger << Leere in der nun wahrscheinlich zustande kommenden Koalition verankert sein könnte, zeigt der anschließende Beitrag Bündnisgrüne Skepsis ist jetzt Programm, den ich der ZEITSCHRIFT FÜR DIREKTE DEMOKRATIE Nr. II/98 entnommen habe.
Je mehr Europa wir aufgezwungen bekom- men, desto mehr Demokratie brauchen wir unten. Das Substitutions - Prinzip, was heißt, daß das, was unten erledigt werden kann, auch unten erledigt werden muß, schreit nahezu nach direkter Beteiligung der Bürger. Je mehr Globalisierung uns aufgebrummt wird (was nicht nur eine Sache wirtschaftspolitischer Macht ist, sondern einen technisch-rationialen Hintergrund hat), desto mehr müssen wir durch Bildung lokaler Märkte Arbeitsplätze schaffen. Daß zu der Schaffung lokaler Märkte unterhalb der Globalisierungsfalle auch die Einführung von lokalem [ zinsfreiem ] (Tausch-) Geld nötig sein wird, müßte - bei Politikwechsel - einer Regierung Schröder auch klar sein. Sie muß die gesetzlichen Voraussetzungen dazu schaffen. Ach ja, zu den Voraussetzungen eines Politikwechsels gehört auch der Blick auf ein Rechts-Tohuwabohu, welches nur noch Rechtsunsicherheit bietet. Ein wesentlicher Teil eines neuen Rechtsbewußtseins ist das Genossenschaftsrecht, welches es, da im Kern nicht römisches Recht, als Gemeinschaftsrecht auszubauen gilt. Zur Zeit richten zügellose Individualrechte Schaden auf Schaden an; es muß gelingen, die Individualrechte mit den Gemeinschaftsrechten in Ausgleich und Einklang zu bringen.
Zu den Steuerplänen der SPD und Bündnis 90/Die Grünen kann ich gar nichts schreiben. Sie erscheinen mir als einfacher Bürger zu undurchsichtig. Wenn schon die Spekulation mit dem Grund- und Boden in einer möglichst baldigen Rechtsreform nicht verhindert werden kann, so sollten wenigstens die Spekulationsgewinne durch das Finanzamt abgeschöpft werden. Es ist unerträglich, daß mit unserer Mutter Erde ein so schwunghafter Handel getrieben wird. Wir haben zwar in unseren Breitengraden die Sklaverei bzw. die Leibeigenschaft unter Menschen abgeschafft; unsere wichtigste Lebensgrundlage behandeln wir, nicht nur bei der Spekulation, schlimmer als die archaischen Sklavenhalter.
Ich gebe zu, daß ich den fast erdrutschartigen Sieg der SPD und PDS nicht erwartet hatte. Ich hatte sogar die Sorge, daß die PDS nicht den Sprung in den Bundestag schafft oder auch weiterhin nur als Gruppe und nicht als Fraktion tätig sein kann. Ich hatte mir diese Sorge gemacht, weil in meinen Augen die PDS eine wichtige Klammerfunktion zwischen Ost und West in Deutschland wahrnimmt. Mehr bei der SPD als bei der PDS drückt sich in diesem Wahlergebnis der Wunsch der Wählerinnen und Wähler nach einem echten Politikwechsel aus. Vielleicht sind es nur die 4,5 % Wähler, die die SPD gegenüber 1994 zugelegt hat, also auf die Gesamtzahl der Wahlberechtigten ca. knapp 3 %. Das wäre ja was, um Veränderungen zu erreichen.
Vielleicht wollen Sie noch etwas über die DVU von mir hören? Natürlich gibt es einen Bodensatz von Rechtsradikalen in unserem Land, Leute ohne (geschichtliche) Bildung, die noch totaler den Resten deutscher Kultur entrissen sind als der Großteil der Deutschen. Es scheinen mehr und mehr Jugendliche zu sein, die den rechtsradikalen Parolen folgen. Neben der spätpubertären Protesthaltung gegenüber den Alten, den nicht zu unterschätzenden sozialen Verwerfungen, der mangelnden Erziehung und des fehlenden Vorbilds durch die Erziehungsberechtigten spielen auch die diffuse sowjetische und us-amerikanische Umerziehung der Nachkriegszeit eine Rolle. Die Unsicherheit der Erwachsenen, z. B. gegenüber der Pädagogik, schlägt auf die Jugend durch. Deshalb ist es auch Aufgabe eines Politikwechsels, die Wurzeln unserer Kultur offenzulegen und eine mühsame Rekultivierung einzuleiten. Das hat was mit Bildung und mit Schule zu tun. Und mit Freiheit. Politikwechsel kann also nicht nur Steuerreform sein und mehr Geld in den Lohntüten. Politikwechsel ist vor allen Dingen ein geistiges Problem. Werden das Schröder, die SPD und Bündnis 90/Die Grünen schaffen? Ich fürchte, wir müssen als außerparlamentarische Opposition noch sehr viel tun, um wenigstens einige Teile des Politikwechsels zu erreichen.
Ich freue mich, daß keiner der rechtsradikalen Parteien, wie DVU, NPD und Republikaner, in den Bundestag und in den mecklenburgischen Landtag gekommen sind. Die Wähler haben politische Reife bewiesen. Die Wahl der DVU in Sachsen-Anhalt hat Protestwähler so erschrocken, daß sie ihren Protest wieder mehr bei der PDS abgeladen haben. Ich kann nur hoffen, daß der Schreck von Sachsen - Anhalt lange wirksam ist.
Ich bin gegen eine große Koalition, obwohl, ich schreibe das sehr einschränkend, sie u.U. den Vorteil hätte, die außerparlamentarische Opposition zu stärken. Über den GRÜNEN Trittin kann ich mich nur wundern: in der Bonner Runde am Wahl- abend hat er bei der Frage, bei welcher Mehrheit er koalieren würde, einen ganz merkwürdigen Eiertanz aufgeführt. Seine Antwort hätte lauten müssen: selbst bei einer Stimme Mehrheit im Bundestag koaliere ich mit der SPD. Der bei mir nicht sehr beliebte SPD-Vorsitzende Lafontaine hat, und das begrüße ich sehr, möglichen Koalitionsverhandlungen mit der PDS in Mecklenburg - Vorpommern nicht nur zugestimmt, sondern die Diskriminierung der PDS als beendet erklärt. Das kann der politischen Kultur in Deutschland nur gut tun. Herr Schröder hat dann am 28. September in einer Fernsehsendung wieder fast einen Rückzieher gemacht, was gegen seine politische Weitsicht spricht.
Auch bei der CDU/CSU tut sich einiges: Kohl, Waigel, Porzner und Hintze treten zurück. Kohl hat sich in der Bonner Runde am Wahlabend beachtlich gut gehalten. Am 28. 9. wirkte Kohl nahezu locker, entspannt und vom Amt befreit. Wir werden sehen, was mit der CDU/CSU passiert. Diese zwei Parteien, die sich selber immer als Union bezeichnen, sind in sich widersprüchlich. Vielleicht gehen wir politisch spannenden Zeiten entgegen. Vielleicht ist in Zukunft manche Reform mit der CDU besser machbar als mit der SPD. Aber - es gibt nichts, was mich zu Spekulationen veranlassen könnte.
 
     
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