Gottfried Hilscher / Februar 2004    
Verstummt der Deutsche Bundestag?  
     
 
Auf einer Tagung der Evangelischen Akademie Tutzing, bei der es um die Bildung von Werten beim Einzelnen und in der Gesellschaft ging, hielt Wolfgang Thierse, Präsident des Deutschen Bundestages, das Einleitungsreferat über "Grundwerte für eine gerechte Weltordnung". In einem Nebensatz rühmte er die "Langsamkeit der Demokratie". Diese stünde im Gegensatz zur "Schnelligkeit", mit der in totalitären Staaten Gesetze und Maßnahmen aller Art verabschiedet und durchgesetzt werden. Die von Thierse betonte Eigenart demokratischer Willensbildung, der Entscheidungsfindung und der Gesetzgebung festgeschriebenen Gewaltenteilung und einer dazu gehörigen sachgemäßen Aufgabenteilung. Weil die Verfassungswirklichkeit nicht erst seit gestern vom Buchstaben des Gesetzes abweicht, hat das Bundesverfassungsgericht schon vor langer Zeit festgestellt: "Dem Verfassungsaufbau der Bundesrepublik entspricht nicht eine absolute Trennung der Gewalten, sondern ihre gegenseitige Kontrolle der Mäßigung".

Verfassung und Verfassungswirklichkeit
Daß alle Gewalt vom Volke ausgeht, ist im Artikel 20 GG festgeschrieben. Das Volk delegiert seine "Souveränität" an die Volksvertretung insgesamt, sprich das Parlament und seine Abgeordneten. Sie sind die Vertreter des ganzen Volkes, wie es im Artikel 38 GG heißt, und an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen. Auch diese hehre Feststellung wird, wie jedermann weiß, von der Wirklichkeit tagtäglich konterkariert. Kein Abgeordneter kann sich den Pressionen entziehen, die Parteidisziplin, Hundertschaften von Lobbyisten und vor allem auch das Fernsehen als Führungskraft in unserer "Mediendemokratie" ausüben. Und dann ist da noch die Regierung, die "vollziehende Gewalt" (Exekutive), der die Legislative, Bundestag und Bundesrat, als gesetzgebende Gewalt gegenüber steht. Jedenfalls im Sinne des demokratischen Grundprinzips der Gewaltenteilung.

Auch dem widerspricht die Verfassungswirklichkeit auf eine häufig eklatante Weise. Ein Hauptgrund dafür ist die allmähliche Verwandlung unserer "repräsentativen" Demokratie in eine "Parteiendemokratie", in der "Fraktionen" die Gesamtheit des Volkes vertreten wollen und das auch sollten. Nach Artikel 21 GG wirken sie bei der politischen Willensbildung des Volkes mit. Was sie aber nur höchst unzureichend tun, um es vornehm auszudrücken. Dazu müßte schon einmal die innerparteiliche Demokratie "von unten nach oben" funktionieren. Müßte man sich der Tugend der Langsamkeit erinnern, die politische Prozesse in einer Demokratie auszeichnen sollte. Parteiaustritte en masse und geringe Wahlbeteiligungen sind in dieser Beziehung tröstliche Anzeichen dafür, daß viele Bürger demokratisches Gedankengut verinnerlicht haben und sich von den Parteien nicht mehr repräsentiert fühlen. Und keine Handlungsalternative zu ihrer Verweigerung erkennen.

Der Parteienstaat
Den Vätern des Grundgesetzes wir man keinen Vorwurf machen können, daß die Parteien unsere Republik zunehmend in einen recht selbstherrlich regierten Parteienstaat verwandeln. Nachsagen könnte man den Urhebern der Verfassung höchstens, dass sie dieser Entwicklung Vorschub geleistet haben. Denn: Das Volk wählt seine Abgeordneten nach Parteilisten und entsprechend dem Wahlergebnis letztlich in den Bundestag. Dieser wiederum wählt den Bundeskanzler, der als Chef der Regierung seine Minister auswählt. Die Parlamentsmehrheit fühlt sich danach verpflichtet, die Regierung zu stützen, und wird von deren Oberhaupt oft genug bis zur Androhung von Sanktionen an diese Ihre Pflicht erinnert. Von der Parlamentsmehrheit ist so gut wie keine Kontrolle der Regierungsarbeit zu erwarten. Die fiele unter diesen Umständen vornehmlich der parlamentarischen Opposition zu. Aber deren Kritik ist weniger konstruktiv denn auf prinzipielle Gegnerschaft ausgerichtet und im Blick auch die nächsten Wahlen auf Talk-Show-Niveau abgesenkt.

Die "Langsamkeit der Demokratie" hat abgedankt. Die Regierung Schröder läßt ihr auch gar keine Zeit. Es mag ja sein, dass das Reformpaket mit der Aufschrift Agenda 2010 höchst eilbedürftig ist. Aber das hat dann auch seine Ursachen. Nicht zuletzt in den angedeuteten Schwächen unserer parlamentarischen Demokratie und den eingebildeten Stärken der Parteien und Ihrer Manager, die wider besseres Wissen die unangenehmen Aufräumungsarbeiten, und schon deren Ankündigung auf die immer neuen Nach-Wahlzeiten verschoben haben. Mit mehr oder weniger radikalen Umsteuermaßnahmen lassen sich halt keine Wahlen gewinnen.
Angesichts der erkennbar notwendigen großen Weichenstellungen für eine "nachhaltige" Zukunft der Gesellschaft und ihrer Wirtschaft ist in diesem politischen Milieu nicht viel zu erhoffen. Eine kraftvoll sich gerierende Regierung, deren Handlungsspielräume in Wirklichkeit durch mächtige nationale und globale Wirtschaftsinteressen gewaltig eingeschränkt sind, wirkt da samt ihrer Parteienvertreter zuweilen geradezu lächerlich. Die "Demokratie von unten" verwirklichen und die demokratische Langsamkeit pflegen würde dagegen solidere Fundamente für politische Entscheidungen schaffen und deren inhaltliche Qualität verbessern. Frühzeitig die breite demokratische Diskussion eröffnen oder/und sich entwickeln lassen, wäre eine der Voraussetzungen dafür. Bestimmt nur dasjenige die politische Debatte, was die Regierung per "Agenda setting" auf die Tagesordnung schreibt, steht die Demokratie in der Praxis Kopf.

Parlament in Not
Der Leser möge mir das lange "Vorwort" nachsehen, auch wenn er das bisher Gesagte nicht als solches erkannt hat. Ich glaubte auf einige Wesensmerkmale unserer "freiheitlich demokratischen Grundordnung" verweisen zu sollen, damit deutlich wird, wie ein zentrales Element unserer Demokratie zunehmend an Bedeutung verliert: das Parlament. Ausgerechnet das höchste Verfassungsorgan der Republik, der Bundestag, ist von einer gefährlichen Erosion bedroht.

Fragen Sie sich selbst, wie der Bundestag an der Reform der Sozialgesetzgebung beteiligt war und ist. Statt demokratischer Langsamkeit und gründlicher Erörterung von Gesetzesvorhaben, die das ganze Volk betreffen, sorgt Kanzler Schröder für eine kaum noch zu überbietende und völlig unangemessene Hektik. Superminister, Regierungskommissionen und Ratgeber aller Art - diese ohne öffentliches Mandat - formulieren Zielvorhaben und Gesetzesinhalte, die von den Parlamentariern nur noch abgenickt werden sollten. Alternativen dazu gebe es ja ohnehin nicht. Wo bleibt da die Würde und die Kompetenz des Hohen Hauses?

Verfällt der deutsche Parlamentarismus? Unter dieser Frage stand die Herbsttagung 2003 des Politischen Clubs der Evangelischen Akademie Tutzing, dessen Leiter der Bundesminister a.D. Heiner Geißler ist. Endlich, so kann man nur dankbar feststellen, hat sich eine qualifizierte Konferenzrunde dieser - seltsamerweise - bislang kaum thematisierten Existenzfrage unserer Demokratie zugewendet. Leistet sich die Bundesrepublik einen permanenten Verfassungskonflikt, fragte Akademiedirektor Friedemann Greiner einleitend. Ist die Gewaltenteilung aufgehoben? Und Heiner Geißler, der 1965 das erste Mal in den Bundestag gewählt wurde, betonte, daß das Parlament, und nicht die Regierung im Zentrum stehen sollte. Er sorgt sich um die Entmachtung und Selbstentmachtung des Parlaments, darum, dass es zunehmend zum längeren Arm der Regierung degradiert werden könnte.

"Die Wahrheit ist zumutbar"
Norbert Lammert, Vizepräsident des Bundestages, mochte die Frage nicht beantworten, ob das Parlament in der Krise ist. Stattdessen zitierte er Umfrageergebnisse, nach denen zwei Drittel der Bevölkerung der Ansicht seien, "daß es so nicht weitergehen könne". Und, daß kein einziger der diskutierten Vorschläge eine Mehrheit im Volk fände. Rita Süssmuth, ehemalige Bundestagspräsidentin mit 16 Jahren Parlamentserfahrung, stellt eine zunehmende Schwächung des Parlaments fest, und diese werde auch vom Bürger und den Abgeordneten selbst wahrgenommen. In der Bevölkerung wachse der Wunsch nach mehr Eigenbeteiligung am politischen Geschehen: auf Scheinanhörungen könne man verzichten. Viele diskutable Vorschläge kämen aus der Bürgerschaft, aber dieses Potenzial werde gewaltig unterschätzt.

Bei allen Einwänden genereller Art gegen Plebiszite solle man dieses demokratische Instrument nicht vorschnell verwerfen. Im übrigen sei die Wahrheit zumutbar, meint Süssmuth, man müsse die Menschen nur darauf vorbereiten. Dazu bedarf es einer angemessenen Zeit, versteht sich. Aber: Die Lösung grundlegender Probleme und das Streben der Parteien nach Machterhalt vertragen sich nicht, erlauben diese Zeit der Vorbereitung nicht. Sonst hätte man sich bereits vor vielen Jahren den Reformen widmen müssen, die derzeit schnell vom Tisch sollen. Müssen, sagt die Regierung. Süssmuth, die die handelnden Personen offenbar genau beobachtet, glaubt feststellen zu können, daß die Parteien und ihre Fraktionen selbst wenig Vertrauen in ihre Abgeordneten haben. Von einer Entwicklung hin zu demokratischer Streit- und Diskussionskultur könne keine Rede sein.

Kompetenzverlagerung auf die Regierung
Von höchster Warte sozusagen, aber keineswegs abgehoben, verglich Hans Jürgen Papier, Präsident des Bundesverfassungsgerichtes, den Verfassungsanspruch mit der Verfassungswirklichkeit in Bezug auf die Parlamente. Die Bundesrepublik sei eine parlamentarische Demokratie, unterstrich er, aber es vollziehe sich eine "partielle Kompetenzverlagerung" vom Parlament auf die Regierung. Wahlen entschieden manchmal gar nichts. Sowohl die Parlaments- als auch die Regierungsarbeit würde durch die "Kooperation" mit gesellschaftlichen Gruppen gefährdet. "Räte" umkreisen die Regierung wie Satelliten, die "Kommissionitis" sei zu einem Phänomen der Entparlamentarisierung geworden.

Wenn es zur Inszenierung der Regierungspolitik gehört, daß das Parlament die Gesetzesvorlagen eins zu eins umsetzen müsse oder solle, muß man sich mit Papier zu Recht fragen, wo denn da das Parlament bleibe. Die Verfassung werde durch diesen "Kooperationsliberalismus" zwar nicht gebrochen, aber, so Papier, die Inhalte (der Gesetze) werden Not leiden. Allgemeine Interessen dürften nicht Gruppeninteressen überlassen werden, lautet eine generelle Forderung des obersten Verfassungsrichters.

Sowohl Regierung als auch Parlament müssen externen Sachverstand zu Rate ziehen. Aber wie steht es um den Verstand der Parlamentarier, fragt sich Papier vor den Konferenzteilnehmern - ohne freilich darauf zu antworten. Welche sachbezogene Vorarbeit denn die Bundestagsausschüsse für die Abgeordneten leisten, wollte der Autor wissen. Die indirekte Antwort darauf hatte Papier bereits in seinem Vortrag gegeben: Die Ausschüsse sind der parlamentarischen Kontrolle entzogen. Dem ließe sich auch vom Nicht-Eingeweihten hinzu fügen, dass sie - wie alles - vom machtpolitischen Kalkül der Parteien bestimmt werden.

Eine Parteien-Oligarchie, schreibt Hildegard Hamm-Brücher, die sich seit mehr als einem halben Jahrhundert für eine gesittete Demokratie einsetzt, beherrsche Staat und Gesellschaft. Kanzler Schröder bestätigt das für seine SPD an der Spitze der Regierung durch Machtworte, die Erklärung wichtiger Angelegenheiten regeln Expertenkommissionen.

Für den deutschen Parlamentarismus wäre der Notstand auszurufen. Schnell, damit sich die Langsamkeit der Demokratie wieder bewähren kann.
 
     
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