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Auf
einer Tagung der Evangelischen Akademie Tutzing, bei der es um die Bildung
von Werten beim Einzelnen und in der Gesellschaft ging, hielt Wolfgang
Thierse, Präsident des Deutschen Bundestages, das Einleitungsreferat
über "Grundwerte für eine gerechte Weltordnung". In
einem Nebensatz rühmte er die "Langsamkeit der Demokratie".
Diese stünde im Gegensatz zur "Schnelligkeit", mit der
in totalitären Staaten Gesetze und Maßnahmen aller Art verabschiedet
und durchgesetzt werden. Die von Thierse betonte Eigenart demokratischer
Willensbildung, der Entscheidungsfindung und der Gesetzgebung festgeschriebenen
Gewaltenteilung und einer dazu gehörigen sachgemäßen Aufgabenteilung.
Weil die Verfassungswirklichkeit nicht erst seit gestern vom Buchstaben
des Gesetzes abweicht, hat das Bundesverfassungsgericht schon vor langer
Zeit festgestellt: "Dem Verfassungsaufbau der Bundesrepublik entspricht
nicht eine absolute Trennung der Gewalten, sondern ihre gegenseitige Kontrolle
der Mäßigung".
Verfassung und Verfassungswirklichkeit
Daß alle Gewalt vom Volke ausgeht, ist im Artikel 20 GG festgeschrieben.
Das Volk delegiert seine "Souveränität" an die Volksvertretung
insgesamt, sprich das Parlament und seine Abgeordneten. Sie sind die Vertreter
des ganzen Volkes, wie es im Artikel 38 GG heißt, und an Aufträge
und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen. Auch
diese hehre Feststellung wird, wie jedermann weiß, von der Wirklichkeit
tagtäglich konterkariert. Kein Abgeordneter kann sich den Pressionen
entziehen, die Parteidisziplin, Hundertschaften von Lobbyisten und vor
allem auch das Fernsehen als Führungskraft in unserer "Mediendemokratie"
ausüben. Und dann ist da noch die Regierung, die "vollziehende
Gewalt" (Exekutive), der die Legislative, Bundestag und Bundesrat,
als gesetzgebende Gewalt gegenüber steht. Jedenfalls im Sinne des
demokratischen Grundprinzips der Gewaltenteilung.
Auch dem widerspricht die Verfassungswirklichkeit auf eine häufig
eklatante Weise. Ein Hauptgrund dafür ist die allmähliche Verwandlung
unserer "repräsentativen" Demokratie in eine "Parteiendemokratie",
in der "Fraktionen" die Gesamtheit des Volkes vertreten wollen
und das auch sollten. Nach Artikel 21 GG wirken sie bei der politischen
Willensbildung des Volkes mit. Was sie aber nur höchst unzureichend
tun, um es vornehm auszudrücken. Dazu müßte schon einmal
die innerparteiliche Demokratie "von unten nach oben" funktionieren.
Müßte man sich der Tugend der Langsamkeit erinnern, die politische
Prozesse in einer Demokratie auszeichnen sollte. Parteiaustritte en masse
und geringe Wahlbeteiligungen sind in dieser Beziehung tröstliche
Anzeichen dafür, daß viele Bürger demokratisches Gedankengut
verinnerlicht haben und sich von den Parteien nicht mehr repräsentiert
fühlen. Und keine Handlungsalternative zu ihrer Verweigerung erkennen.
Der Parteienstaat
Den Vätern des Grundgesetzes wir man keinen Vorwurf machen können,
daß die Parteien unsere Republik zunehmend in einen recht selbstherrlich
regierten Parteienstaat verwandeln. Nachsagen könnte man den Urhebern
der Verfassung höchstens, dass sie dieser Entwicklung Vorschub geleistet
haben. Denn: Das Volk wählt seine Abgeordneten nach Parteilisten
und entsprechend dem Wahlergebnis letztlich in den Bundestag. Dieser wiederum
wählt den Bundeskanzler, der als Chef der Regierung seine Minister
auswählt. Die Parlamentsmehrheit fühlt sich danach verpflichtet,
die Regierung zu stützen, und wird von deren Oberhaupt oft genug
bis zur Androhung von Sanktionen an diese Ihre Pflicht erinnert. Von der
Parlamentsmehrheit ist so gut wie keine Kontrolle der Regierungsarbeit
zu erwarten. Die fiele unter diesen Umständen vornehmlich der parlamentarischen
Opposition zu. Aber deren Kritik ist weniger konstruktiv denn auf prinzipielle
Gegnerschaft ausgerichtet und im Blick auch die nächsten Wahlen auf
Talk-Show-Niveau abgesenkt.
Die "Langsamkeit der Demokratie" hat abgedankt. Die Regierung
Schröder läßt ihr auch gar keine Zeit. Es mag ja sein,
dass das Reformpaket mit der Aufschrift Agenda 2010 höchst eilbedürftig
ist. Aber das hat dann auch seine Ursachen. Nicht zuletzt in den angedeuteten
Schwächen unserer parlamentarischen Demokratie und den eingebildeten
Stärken der Parteien und Ihrer Manager, die wider besseres Wissen
die unangenehmen Aufräumungsarbeiten, und schon deren Ankündigung
auf die immer neuen Nach-Wahlzeiten verschoben haben. Mit mehr oder weniger
radikalen Umsteuermaßnahmen lassen sich halt keine Wahlen gewinnen.
Angesichts der erkennbar notwendigen großen Weichenstellungen für
eine "nachhaltige" Zukunft der Gesellschaft und ihrer Wirtschaft
ist in diesem politischen Milieu nicht viel zu erhoffen. Eine kraftvoll
sich gerierende Regierung, deren Handlungsspielräume in Wirklichkeit
durch mächtige nationale und globale Wirtschaftsinteressen gewaltig
eingeschränkt sind, wirkt da samt ihrer Parteienvertreter zuweilen
geradezu lächerlich. Die "Demokratie von unten" verwirklichen
und die demokratische Langsamkeit pflegen würde dagegen solidere
Fundamente für politische Entscheidungen schaffen und deren inhaltliche
Qualität verbessern. Frühzeitig die breite demokratische Diskussion
eröffnen oder/und sich entwickeln lassen, wäre eine der Voraussetzungen
dafür. Bestimmt nur dasjenige die politische Debatte, was die Regierung
per "Agenda setting" auf die Tagesordnung schreibt, steht die
Demokratie in der Praxis Kopf.
Parlament in Not
Der Leser möge mir das lange "Vorwort" nachsehen, auch
wenn er das bisher Gesagte nicht als solches erkannt hat. Ich glaubte
auf einige Wesensmerkmale unserer "freiheitlich demokratischen Grundordnung"
verweisen zu sollen, damit deutlich wird, wie ein zentrales Element unserer
Demokratie zunehmend an Bedeutung verliert: das Parlament. Ausgerechnet
das höchste Verfassungsorgan der Republik, der Bundestag, ist von
einer gefährlichen Erosion bedroht.
Fragen Sie sich selbst, wie der Bundestag an der Reform der Sozialgesetzgebung
beteiligt war und ist. Statt demokratischer Langsamkeit und gründlicher
Erörterung von Gesetzesvorhaben, die das ganze Volk betreffen, sorgt
Kanzler Schröder für eine kaum noch zu überbietende und
völlig unangemessene Hektik. Superminister, Regierungskommissionen
und Ratgeber aller Art - diese ohne öffentliches Mandat - formulieren
Zielvorhaben und Gesetzesinhalte, die von den Parlamentariern nur noch
abgenickt werden sollten. Alternativen dazu gebe es ja ohnehin nicht.
Wo bleibt da die Würde und die Kompetenz des Hohen Hauses?
Verfällt der deutsche Parlamentarismus? Unter dieser Frage stand
die Herbsttagung 2003 des Politischen Clubs der Evangelischen Akademie
Tutzing, dessen Leiter der Bundesminister a.D. Heiner Geißler ist.
Endlich, so kann man nur dankbar feststellen, hat sich eine qualifizierte
Konferenzrunde dieser - seltsamerweise - bislang kaum thematisierten Existenzfrage
unserer Demokratie zugewendet. Leistet sich die Bundesrepublik einen permanenten
Verfassungskonflikt, fragte Akademiedirektor Friedemann Greiner einleitend.
Ist die Gewaltenteilung aufgehoben? Und Heiner Geißler, der 1965
das erste Mal in den Bundestag gewählt wurde, betonte, daß
das Parlament, und nicht die Regierung im Zentrum stehen sollte. Er sorgt
sich um die Entmachtung und Selbstentmachtung des Parlaments, darum, dass
es zunehmend zum längeren Arm der Regierung degradiert werden könnte.
"Die Wahrheit ist zumutbar"
Norbert Lammert, Vizepräsident des Bundestages, mochte die Frage
nicht beantworten, ob das Parlament in der Krise ist. Stattdessen zitierte
er Umfrageergebnisse, nach denen zwei Drittel der Bevölkerung der
Ansicht seien, "daß es so nicht weitergehen könne".
Und, daß kein einziger der diskutierten Vorschläge eine Mehrheit
im Volk fände. Rita Süssmuth, ehemalige Bundestagspräsidentin
mit 16 Jahren Parlamentserfahrung, stellt eine zunehmende Schwächung
des Parlaments fest, und diese werde auch vom Bürger und den Abgeordneten
selbst wahrgenommen. In der Bevölkerung wachse der Wunsch nach mehr
Eigenbeteiligung am politischen Geschehen: auf Scheinanhörungen könne
man verzichten. Viele diskutable Vorschläge kämen aus der Bürgerschaft,
aber dieses Potenzial werde gewaltig unterschätzt.
Bei allen Einwänden genereller Art gegen Plebiszite solle man dieses
demokratische Instrument nicht vorschnell verwerfen. Im übrigen sei
die Wahrheit zumutbar, meint Süssmuth, man müsse die Menschen
nur darauf vorbereiten. Dazu bedarf es einer angemessenen Zeit, versteht
sich. Aber: Die Lösung grundlegender Probleme und das Streben der
Parteien nach Machterhalt vertragen sich nicht, erlauben diese Zeit der
Vorbereitung nicht. Sonst hätte man sich bereits vor vielen Jahren
den Reformen widmen müssen, die derzeit schnell vom Tisch sollen.
Müssen, sagt die Regierung. Süssmuth, die die handelnden Personen
offenbar genau beobachtet, glaubt feststellen zu können, daß
die Parteien und ihre Fraktionen selbst wenig Vertrauen in ihre Abgeordneten
haben. Von einer Entwicklung hin zu demokratischer Streit- und Diskussionskultur
könne keine Rede sein.
Kompetenzverlagerung auf die Regierung
Von höchster Warte sozusagen, aber keineswegs abgehoben, verglich
Hans Jürgen Papier, Präsident des Bundesverfassungsgerichtes,
den Verfassungsanspruch mit der Verfassungswirklichkeit in Bezug auf die
Parlamente. Die Bundesrepublik sei eine parlamentarische Demokratie, unterstrich
er, aber es vollziehe sich eine "partielle Kompetenzverlagerung"
vom Parlament auf die Regierung. Wahlen entschieden manchmal gar nichts.
Sowohl die Parlaments- als auch die Regierungsarbeit würde durch
die "Kooperation" mit gesellschaftlichen Gruppen gefährdet.
"Räte" umkreisen die Regierung wie Satelliten, die "Kommissionitis"
sei zu einem Phänomen der Entparlamentarisierung geworden.
Wenn es zur Inszenierung der Regierungspolitik gehört, daß
das Parlament die Gesetzesvorlagen eins zu eins umsetzen müsse oder
solle, muß man sich mit Papier zu Recht fragen, wo denn da das Parlament
bleibe. Die Verfassung werde durch diesen "Kooperationsliberalismus"
zwar nicht gebrochen, aber, so Papier, die Inhalte (der Gesetze) werden
Not leiden. Allgemeine Interessen dürften nicht Gruppeninteressen
überlassen werden, lautet eine generelle Forderung des obersten Verfassungsrichters.
Sowohl Regierung als auch Parlament müssen externen Sachverstand
zu Rate ziehen. Aber wie steht es um den Verstand der Parlamentarier,
fragt sich Papier vor den Konferenzteilnehmern - ohne freilich darauf
zu antworten. Welche sachbezogene Vorarbeit denn die Bundestagsausschüsse
für die Abgeordneten leisten, wollte der Autor wissen. Die indirekte
Antwort darauf hatte Papier bereits in seinem Vortrag gegeben: Die Ausschüsse
sind der parlamentarischen Kontrolle entzogen. Dem ließe sich auch
vom Nicht-Eingeweihten hinzu fügen, dass sie - wie alles - vom machtpolitischen
Kalkül der Parteien bestimmt werden.
Eine Parteien-Oligarchie, schreibt Hildegard Hamm-Brücher, die sich
seit mehr als einem halben Jahrhundert für eine gesittete Demokratie
einsetzt, beherrsche Staat und Gesellschaft. Kanzler Schröder bestätigt
das für seine SPD an der Spitze der Regierung durch Machtworte, die
Erklärung wichtiger Angelegenheiten regeln Expertenkommissionen.
Für den deutschen Parlamentarismus wäre der Notstand auszurufen.
Schnell, damit sich die Langsamkeit der Demokratie wieder bewähren
kann.
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