Dieter Kersten / März 2004    
„Vom Sieger entfernen“ und „Ihr seid einfach zu teuer“  
     
 
Im Editorial der Januar-Ausgabe habe ich Oberstleutnant Dipl.-Päd. Jürgen Rose zitiert, der am 19. Dezember 2003 in der Wochenzeitschrift FREITAG unter der Überschrift > Den Bruch riskieren < für ein Ausscheiden Deutschlands und Europas aus dem militärischen Bündnis mit den USA eintrat. Rose schrieb, daß die militärische Globalisierung nicht unsere Politik sein darf. In der FREITAG - Ausgabe vom 16. Januar 2004 setzt Rose seine Betrachtungen fort. Die Überschrift lautet jetzt > Vom Sieger entfernen < und die Unterüberschrift > Den Bruch riskieren (II): Wie die EU die imperialen Ambitionen der USA im Irak und anderswo durchkreuzen könnte - Überlegungen zu einer strategischen Alternative. < Lassen Sie mich einige Passagen zitieren: > Wenn Amerika geo-ökonomische Konkurrenz bevorzugt mit militärischen Mitteln austrägt, sollte Europa mit adäquaten Wirtschafts - und Handelsstrategien reagieren, indem es beispielsweise versucht, das nach dem Nahostkrieg von 1973 etablierte Petrodollar-Kartell der USA aufzusprengen. Gelänge es, mit Iran und Irak exklusive Beziehungen aufzubauen und beide Länder zu bewegen, ihr Öl nur noch in Euro zu fakturieren, wäre dafür eine entscheidende Ausgangsbasis geschaffen, die durch eine Einbeziehung Libyens noch befestigt werden könnte. Mit diesem von den USA jahrzehntelang als >> Schurkenstaat << diffamiertem Land unterhalten etliche Staaten Europas ohnehin bereits konstruktive Beziehungen. Unentbehrlich für eine solche Strategie wäre Rußland, das über seine spezifischen Interessen gewonnen werden könnte. West- und Mitteleuropa brauchen aus Rußland zuvörderst Rohstoffe, Öl und Erdgas. Die Russische Föderation benötigt im Gegenzug Kapital und Technologie für die Modernisierung des Landes und dürfte daher einem Assoziierungsvertrag mit der EU durchaus aufgeschlossen gegenüber stehen - vielleicht der Beginn einer >> wunderbaren Freundschaft <<. Auch sollten die Westeuropäer mit Blick auf das dramatisch vernachlässigte Instrumentarium friedlicher Konfliktbewältigung das russische Interesse an der OSZE wieder stärker schätzen lernen. Verglichen mit den USA, deren Interesse an der OSZE gegen Null tendiert, scheint Rußland ein in dieser Hinsicht erheblich verläßlicherer Partner zu sein. Würde also die EU privilegierte Beziehungen zu den Öllieferstaaten Iran, Irak und Libyen aufbauen sowie eine strategische Partnerschaft mit Rußland eingehen, könnte dies den Anfang vom Ende des Imperium Americanum einläuten. Die Tage für den exklusiven Status des US-Dollars als Weltleitwährung wären gezählt, der Euro käme als funktionales Äquivalent in dessen Position, so daß ein jähes Abschwellen des Kapitalstroms in Richtung USA - derzeit liegt er bei anderthalb Milliarden Dollar pro Tag - unvermeidlich wäre. Damit gerieten die USA als weltgrößter Schuldner in eine prekäre ökonomische Abhängigkeit von ihren Gläubigern in Europa und Asien. Nach fast 60 Jahren globaler ökonomischer Dominanz der USA seit dem Ende des II. Weltkrieges böte sich Europa erstmals die reale Aussicht, den Spieß um zudrehen und nunmehr seinerseits die Außen-und Wirtschaftspolitik der USA zu beeinflussen. Nicht mehr die Federal Reserve mit Alan Greenspan, sondern die EZB mit Jean-Claude Trichet fungierte als Taktgeber der internationalen Finanz - und Währungspolitik. <

Das ist genau das Szenario einer aktiven Neutralität unseres Landes und Europas, welches mir vorschwebt, ergänzt durch eine totale Abrüstung bis hin zu einem Verbot der Produktion von Waffen jedweder Art. Dafür sollten wir unsere guten Dienste überall auf dieser Erde für die Katastrophenbewältigung im weitesten Sinn anbieten.

Die Europäische Zentralbank, und auch das ist für den Frieden wichtig, brauchen wir nur nach außen, solange es eine die Weltherrschaft beanspruchende Währung wie den Dollar gibt. Sonst sind regionale, umlaufgesicherte Währungen wichtiger als ein Euro, der die Herrschaft des Dollars durch seine Herrschaft ersetzen soll. Wir brauchen keine Währung, die die Erde beherrscht. Wir brauchen ein internationales Geld-und Wirtschaftssystem, das Frieden schafft und erhält.

Was sich zur Zeit "im Namen der Globalisierung" friedlos und sozial unverträglich auf dieser Erde abspielt, hat womöglich die gleiche Sprengkraft von tausend Atombomben, mit allen Nach-und Nebenwirkungen. Die ökonomischen Wissenschaften sind gefragt, Lösungen zu erarbeiten. Ebenfalls am 16. Januar, auch in FREITAG, berichtete Wolfgang Müller über das Weltsozialforum 2004 in Indien unter der Überschrift > Ihr seid einfach zu teuer < und unter der Unterüberschrift > Eine neue Welt der Globalisierung: Konzerne verlagern qualifizierte Jobs in Niedriglohn-Länder wie Indien <. Auch aus diesem Beitrag zitiere ich einige Absätze: > In den vergangenen Jahrzehnten haben Unternehmen vor allem einfache Tätigkeiten und lohnintensive Fertigungen verlagert. Textilindustrie, Schuhproduktion, einfache Montagetätigkeiten oder die Fertigung von Kabelbäumen für die Autoelektrik - das sind die bekanntesten Beispiele. Mittlerweile rollt die nächste Welle der Globalisierung der Arbeitsmärkte. Zunehmend werden auch Bürotätigkeiten und qualifizierte Dienstleistungen in Niedriglohnländer verlagert. So checken etwa Radiologen im indischen Mumbei (früher Bombay) die Ergebnisse der Computertomographie von Patienten aus dem Massachusetts General Hospital in Boston/ USA. Die CT-Bilder gehen digital nach Mumbai, und von dort werden die Arztberichte wieder nach Boston übermittelt. Die New Yorker Strafmandate für Falschparker werden in Ghana sortiert. Die Daten von arbeitslosen Wohlfahrtsempfängern im US-Bundesstaat New Jersey wurden in Indien erfaßt, bis ein öffentlicher Aufschrei in den USA den Unsinn stoppte. Der Dienstleistungssektor in den USA wird nach einer Studie von Forrester Research bis zum Jahre 2015 etwa 3.3 Millionen Arbeitsplätze verlieren. Betroffen sind nicht nur einfache Tätigkeiten in Call Centern, sondern auch anspruchsvolle Aufgaben im Einkauf, bei der Aktienanalyse, der Bearbeitung von Versicherungs-Schadensmeldungen oder in der Buchhal tung. Bis 2005 rechnet die Beratungsfirma Gartner für die USA mit einem Verlust von zehn Prozent der Arbeitsplätze bei den Produzenten von Informationstechnik (IT) und fünf Prozent bei den IT-Anwendern. Jeder vierte der 500 größeren US-Konzerne verlagert gegenwärtig Jobs nach Übersee. Auf den Philippinen werden Reservierungen der Fluglinie Delta und Versicherungsfälle des US-Konzerns AIG betreut. PC-Weltmarktführer Dell unterhält ein Kundendienstzentrum für den US-Markt in Indien. Auch europäische Unternehmen wollen von diesen neuen Formen der Kostensenkung profitieren. Für die Finanzdienstleister des Kontinents erwartet Deloitte Consulting in den kommenden Jahren die Verlagerung von 700 000 IT-Arbeitsplätzen. Die Deutsche Bank will nach eigenen Angaben über 10 000 solcher Jobs "exportieren". Halbleiterhersteller Infineon verlagert gerade Teile der Buchhaltung nach Portugal und läßt Zentren für das Chip-Design in Indien und China aufbauen beziehungsweise aufstocken. Software-Monopolist SAP will die Entwicklung in Bangalore/ Indien demnächst auf 2000 Mitarbeiter erweitern. Im Sommer vergangenen Jahres ist eine Entscheidung des Siemens-Zentralvorstandes bekannt geworden, daß die mit 30 000 MitarbeiterInnen bislang auf Deutschland konzentrierte Softwar-Entwicklung des Konzerns nicht mehr an "teuren Standorten" betrieben werden soll. Konzernweit werden zwei Siemens-Töchter die Verlagerung an "günstigere Standorte" steuern - die SISL mit Hauptsitz in Wien und Dependancen unter anderem in Bratislava und China. Schon jetzt entwickeln 500 Ingenieure in Temesvar/Rumänien für die Siemens-Tochter VDO Autoelektronik - zu zehn Prozent der Personalkosten ihrer deutschen Kollegen. <

Ist Frieden mit einer solchen Wirtschaftspolitik zu wahren oder ist der Frieden durch eine solche Wirtschaftspolitik gefährdet? Industriewaren müssen verkauft werden. Was passiert, wenn der Arbeiter in Rumänien oder China so wenig verdient, daß er sich nachwievor nichts leisten kann und der Arbeiter in Deutschland immer weniger verdient, daß er schlußendlich auch nichts mehr kaufen kann? Die Gewinn-Maximierung der geldgierigen Konzerne bricht irgendwann zusammen, wenn die Kunden fehlen.

Daß die Gewinnmaximierung auch die Dienstleistungssparten erreicht hat, das wundert nicht. Herr Bundeskanzler, Ihre Dienstleistungsgesellschaft Deutschland findet nicht statt; sie wandert aus. Die elektronischen Techniken erlauben ein neues Wirtschaften, und dieses neue Wirtschaften benötigt ein neues, soziales, Denken. Aber nirgendwo sehe ich Ansätze dazu. Ich habe keine "Patent"-Lösungen für eine "neue (Welt-) Wirtschaft". Was makroökonomisch da und dort anders gestaltet werden kann, das ist relativ leicht zu schildern, was aber weltwirtwchaftlichmenschlich geschehen muß, um allen Menschen auf dieser Erde gerecht zu werden, das müssen wir mit unserem Verstand noch erkunden.

Die ökonomischen Wissenschaften geben keine Antwort, ja, ich habe den Eindruck, daß sie sich noch nicht einmal Mühe geben. Dasselbe gilt für Gewerkschaften und Kirchen.

Und die "Unternehmer"? Bei den Konzernen gibt es nur Unternehmer-Funktionäre, die eigentlich "Unterlasser" sind. Sie kassieren in schlechten wie in guten Tagen und sind für nichts verantwortlich. Es sind meistens sehr stimmgewaltige Personen, aufgeblasen, und wenn man in sie hinein piekt, kommt noch nicht einmal heiße Luft. Die Stimme des Mittelstandes ist deshalb immer so piepsig dünn, weil hier am meisten noch persönlich haftende und verantwortliche Unternehmer tätig sind. Sie sind traditionell überlastet und müssen die Gegenwart mit all ihren Schwierigkeiten und Widersprüchen im täglichen Geschäft bewältigen.

Ich hoffe auf die klugen Menschen, irgendwo dazwischen, die Samiskat-Menschen (Samiskat=Außenseiter, Untergrund), die außergewöhnliches denken können, außerhalb des Mainsteams, des Üblichen.

Auch im Kommentar-und Informationsbrief sollte über dieses Thema diskutiert werden.
 
     
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