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Seit
der Festnahme von Michail Chodorkowski und dem Massaker von Beslan kritisieren
westliche Politiker und Kommentatoren Wladimir Putin wegen seiner vermeintlich
autoritären Politik. US-Außenminister Colin Powell beschuldigte
ihn, die Demokratie in Rußland zurückzudrängen, und legte
ihm nahe, eine politische Lösung mit Tschetschenien zu suchen, für
deren Sache gerade mehrere hundert Schulkinder gestorben waren. Unlängst
warfen über 100 westliche Politiker und Intellektuelle Putin "eine
Rückkehr zur Rhetorik des Militarismus und des Imperialismus"
vor. Weder Powell noch die Autoren des offenen Briefes scheint es zu stören,
wenn die USA die angebliche terroristische Bedrohung dazu nutzen, die
amerikanischen Machtmittel zu stärken oder andere Staaten anzugreifen.
Aber Doppelmoral hat solche Menschen noch nie groß gestört
und ebenso die Wahrheit. Denn jene, die Rußlands Präsident
vorwerfen, er wolle ein neues russisches Reich errichten, übersehen,
daß Putin seit seinem Amtsantritt einen geopolitischen Zusammenbruch
seines Landes hingenommen hat, der vielleicht schlimmer ist als das, was
sein Vorgänger zu akzeptieren gezwungen war. Der so genannte Tyrann
im Kreml hat praktisch nichts unternommen, um den unerbittlichen Expansionsdrang
der USA zu stoppen oder zu verlangsamen. Seit dem Jahr 2000 sind drei
frühere Sowjetrepubliken, die baltischen Staaten, Mitglieder der
NATO. Dadurch steht das westliche Militärarsenal gerade einmal 60
Kilometer von St. Petersburg entfernt, denn die baltischen Staaten haben
nie den Vertrag über konventionelle Streitkräfte in Europa (KSZE-Vertrag)
unterzeichnet, der die Bewegung nichtnuklearer Truppenverbände beschränkte,
Es bedeutet weiterhin, daß der russische Marinestützpunkt Kaliningrad
(Königsberg) geographisch von NATO- und EU-Staaten umringt ist. Darüber
hinaus wurden Hunderte von US-Soldaten in der ehemaligen Sowjetrepublik
Georgien stationiert, obwohl der Kaukasus traditionell zur russischen
Einflußsphäre gehört. Schon bald wird eine von den USA
kontrollierte Pipeline Öl vom Kaspischen Meer durch Aserbaidschan
und Georgien transportieren. Beide Länder sind bereits auf dem Weg
zur NATO -: Mitgliedschaft. Außerdem wurden in zwei wichtigen früheren
Sowjetrepubliken, Usbekistan und Kirgisien, US-Militärstützpunkte
errichtet, die Teil eines neuen Archipels amerikanischer Basen in Zentralasien
sind. Washington hat Moskau mitgeteilt, daß es den ABM-Vertrag,
der die Entwicklung einer ballistischen Raketenabwehr verbietet, einseitig
aufkündigen werde. Dieser Schritt macht die russische Nuklearabschreckung
wirkungslos. Vergangenen April unterzeichnete die NATO ein Übereinkommen
mit Kiew, der historischen Geburtsstätte der russischen Nation, welches
einer kurzfristigen Entsendung von NATO-Truppen in die Ukraine den Weg
ebnet, sobald dies die Allianz für notwendig erachtet. Und kürzlich
unterstrich US-Vizeverteidigungsminister Paul Wolfowitz, die Ukraine müsse
Teil der NATO werden. All das geht mit einer Stärkung der westlichen
Macht und einer Schwächung des russischen Einflusses einher. Überall
auf dem Gebiet der früheren Sowjetunion und sogar Rußlands
selbst finanziert der Westen eine Vielzahl von Nichtregierungsorganisationen,
Medienzentren und "unabhängigen" Politikern, um die gewählten
Regierungen in Bedrängnis zu bringen. Der Westen hat den Schaden
noch vergrößert, indem er postsowjetische Staaten dazu animierte,
ihre einheimischen russischen Minderheiten zu erniedrigen: Im September
begann Lettland, ein EU- und NATO-Mitgliedsland, den Unterricht von Minderheitensprachen
an den staatlichen Schulen zurückzufahren - eine Politik, die aus
Sicht zahlreicher lettischer Russen darauf hinauslaufen soll, sie aus
dem Land zu treiben. Statt dem Westen hierbei Knüppel zwischen die
Beine zu werfen, haben ihn Putins Minister gelegentlich aktiv unterstützt.
So half Iwan Iwanow, der frühere russische Außenminister, den
Amerikanern beim Sturz des georgischen Präsidenten Edward Schewardnadse
im November 2003. Rußland unterstützte die Amerikaner auch
beim Kampf gegen die Taliban vor drei Jahren. Und das einzige Land, dem
Rußland jemals die Gasversorgung abgeschnitten hat, ist Weißrußland,
die prorussischste aller früheren Sowjetrepubliken. Der Grund für
die plötzliche Aggressivität gegenüber Putin ist das Öl.
Die Aufstände im Irak bedeuten, daß der Plan der Amerikaner,
den Preis des Rohstoffs durch eine Steigerung der irakischen Produktion
nach unten zu treiben, in Trümmern liegt. Nun muß die Strategie
Amerikas folglich darin bestehen, Kontrolle über die russische Ölförderung
zu erlangen. Selbst in dieser Hinsicht hat sich Putin als nachgiebig erwiesen,
indem er dem US-Konzern CONOCO PHILLIPS erlaubte, einen Anteil an dem
russischen Unternehmen LUKOIL zu erwerben. Putins Problem besteht nicht
darin, daß er dem Westen getrotzt hätte, sondern daß
der Appetit der US-Amerikaner auf Unterwürfigkeit desto größer
wird, je mehr man sie damit füttert.
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