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Wenn
wir nicht den Mut haben, wieder ein echtes Gefühl für menschliche
Distanzen aufzurichten und darum persönlich zu kämpfen, dann
kommen wir in einer Anarchie menschlicher Werte um. Die Frechheit, die
ihr Wesen in der Mißachtung aller menschlichen Distanzen hat, ist
eben so sehr das Charakteristikum des Pöbels, wie die innere Unsicherheit,
das Feilschen und Buhlen um die Gunst des Frechen, das Sichgemeinmachen
mit dem Pöbel der Weg zur eigenen Verpöbelung ist. Wenn man
nicht mehr weiß, was man sich und anderen schuldig ist, wo das Gefühl
für menschliche Qualität und die Kraft, Distanz zu halten, erlischt,
dort ist das Chaos vor der Tür. Wo man um materieller Bequemlichkeiten
willen duldet, daß die Frechheit einem zu nahe tritt, dort hat man
sich bereits selbst aufgegeben, dort hat man die Flut des Chaos an der
Stelle des Dammes, an die man gestellt war, durchbrechen lassen und sich
schuldig gemacht am Ganzen. In anderen Zeiten mag es die Sache des Christentums
gewesen sein, von der Gleichheit des Menschen Zeugnis zu geben; heute
wird gerade das Christentum für die Achtung menschlicher Distanzen
und menschlicher Qualität leidenschaftlich einzutreten haben. Die
Mißdeutung, als handele man in eigener Sache, die billige Verdächtigung
unsozialer Gesinnung, muß entschlossen in Kauf genommen werden.
Sie sind die bleibenden Vorwürfe des Pöbels gegen die Ordnung.
Wer hier weich und unsicher wird, begreift nicht, worum es geht, ja vermutlich
treffen ihn die Vorwürfe sogar mit Recht. Wir stehen mitten in dem
Prozeß der Verpöbelung in allen Gesellschaftsschichten und
zugleich, in der Geburtsstunde einer neuen adligen Haltung, die einen
Kreis von Menschen aus allen bisherigen Gesellschaftsschichten verbindet.
Adel entsteht und besteht durch Opfer, durch Mut und durch ein klares
Wissen um das, was man sich selbst und was man anderen schuldig ist, durch
die selbstverständliche Forderung der Achtung, die einem zukommt,
wie durch ein ebenso selbstverständliches Wahren der Achtung nach
oben wie nach unten. Es geht auf der ganzen Linie um das Wiederfinden
verschütteter Qualitätserlebnisse, um eine Ordnung auf Grund
von Qualität. Qualität ist der stärkste Feind jeder Art
von Vermassung. Gesellschaftlich bedeutet das den Verzicht auf die Jagd
nach Positionen, den Bruch mit allem Starkult, den freien Blick nach oben
und nach unten, besonders was die Wahl des engeren Freundeskreises angeht,
die Freude am verborgenen Leben, wie den Mut zum öffentlichen Leben.
Kulturell bedeutet das Qualitätserlebnis die Rückkehr von Zeitung
und Radio zum Buch, von der Hast zur Muße und Stille, von der Zerstreuung
zur Sammlung, von der Sensation zur Besinnung, vom Virtuosenideal zur
Kunst, vom Snobismus zur Bescheidenheit, von der Maßlosigkeit zum
Maß. Quantitäten machen einander den Raum streitig. Qualitäten
ergänzen einander.
Dieser Text wurde im Jahr 1944 von Dietrich Bonhoeffer,
evangelischer Theologe, geb. am 4. Februar 1906 in Breslau und von den
Nazis umgebracht (hingerichtet) am 9. März 1945 im KZ Flossenburg,
in der GestapoHaft verfaßt. Ich verdanke die Kenntnis von diesem
Text Mitstreiter Johannes Scholler.
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