Dieter Kersten - Juni 2005    
Europa  
     
 

Frankreich sei Dank! Wenn auch die Motive der französischen Stimmberechtigten, gegen die vorgelegte EU-Verfassung zu votieren, sehr unterschiedlich gewesen sein mögen - die Franzosen haben am 29. Mai das geschafft, wozu wir Deutschen bisher nicht fähig waren. Die Franzosen durften über ein aus ca. 800 Seiten bestehendes Dokument abstimmen, in dem der Textteil, der den eigentlichen Verfassungstext ausmacht, streng genommen nur aus 71 Seiten besteht.

Ebenfalls: Den Niederlanden sei Dank! Die Volksabstimmung vom 1. Juni hat ein noch eindrucksvolleres Ergebnis - NEIN zur europäischen Verfassung - gebracht. Ich folge den Kommentatoren in Presse, Rundfunk und Fernsehen, die diesen beiden europäischen Völkern bescheinigen, nicht europamüde oder gar europafeindlich zu sein, sondern, und das sind nun meine Worte, sie sich gegen die Arroganz und soziale Ignoranz der herrschenden Klasse gewandt zu haben. Die politische Klasse dort wie hier, hat es versäumt, die Verfassung Europas von unten nach oben wachsen zu lassen. Sie wurde uns, den Völkern, auferlegt. In Deutschland ging die politische Klasse sogar soweit, uns Deutschen die Volksabstimmung zu verweigern.

Die Politiker jeder Couleur haben in ganz Europa einhellig, und ich behaupte, wider besseren Wissens, verbreitet, daß die Europäische Einheit und die Globalisierung uns, den Völkern, soziale Sicherheit und wirtschaftlichen Erfolg bringen wird. Besonders intensiv war diese verlogene Propaganda in der Euro-Zone. Die Menschen in Frankreich und den Niederlanden spüren jetzt am eigenen Leib, so wie wir Deutschen auch, daß Arbeitslosigkeit, Lohnminderungen, Sozialabbau und Einschränkungen kommunaler Angebote, wie Schwimmbäder und Kultureinrichtungen, ein Ergebnis verfehlter nationaler und europäischer Politik sind. Wenn ich persönlich auch der Meinung bin, daß die bundesdeutsche Sozialsicherung auf Kosten der Allgemeinheit in weiten Teilen überzogen war, stelle ich fest, daß diese Veränderungen ohne Teilnahme des Bürgers berechtigterweise auf Widerstand stoßen muß.

Der Absatz 3 des Artikels 1-3 der Europäischen Verfassung lautet folgendermaßen: Die Union strebt ein Europa der nachhaltigen Entwicklung auf der Grundlage eines ausgewogenen Wirtschaftswachstums an, eine in hohem Maße wettbewerbsfähige soziale Marktwirtschaft, die auf Vollbeschäftigung und sozialen Fortschritt abzielt, sowie ein hohes Maß an Umweltschutz und Verbesserung der Umweltqualität. Sie fördert den wissenschaftlichen und technischen Fortschritt.

Was bedeutet dieses Wortgeklingel, wenn wir den Absatz 3 des Artikels 1-40 lesen: Die Mitgliedstaaten stellen der Union für die Umsetzung der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik zivile und militärische Fähigkeiten als Beitrag zur Verwirklichung der vom Ministerrat festgelegten Ziele zur Verfügung. Die Mitgliedsstaaten, die untereinander multinationale Streitkräfte bilden, können diese auch für die Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik zur Verfügung stellen... Die Mitgliedstaaten verpflichten sich, ihre militärischen Fähigkeiten schrittweise zu verbessern. Es wird ein Europäisches Amt für Rüstung, Forschung und militärische Fähigkeiten eingerichtet, dessen Aufgabe es ist, den operativen Bedarf zu ermitteln und Maßnahmen zur Bedarfsdeckung zu fördern, zur Ermittlung von Maßnahmen zur Stärkung der industriellen und technologischen Grundlage des Verteidigungssektors beizutragen und diese Maßnahmen gegebenenfalls durchzuführen, sich an der Festlegung einer europäischen Politik im Bereich Fähigkeiten und Rüstung zu beteiligen sowie den Ministerrat bei der Beurteilung der Verbesserung der militärischen Fähigkeiten zu unterstützen.

Die Aufrüstung findet präzise Worte, die wirtschaftliche und soziale Sicherung ein Wortgeklingel. Und noch ein Hinweis: Es gibt in der ganzen Verfassung keinen Abrüstungsparagraphen!

In dem Beitrag von Martin Rust Kanada und die Globalisierung berichtet der Autor über einen Vortrag, in dem über den Ausstieg von fast ganz Südamerika und Malaysia aus der Globalisierung berichtet wurde.

Ein wichtiges Kriterium für ein Urteil über die europäische Integration sind die ständigen Erweiterungen der EU durch wirtschaftlich unterentwickelte Staaten und durch ein wirtschaftliches Schwellenland, wie die Türkei. Die politische Klasse Westeuropas hat uns in eine prekäre Lage manövriert. Alle Länder des früheren Ostblocks müssen wirtschaftlich und sozial saniert werden. Müssen nicht auch die betroffenen Völker eine Anstrengung unternehmen, technischen, sozialen und wirtschaftlichen Fortschritt zu erreichen? Oder sind wir Alt-EUler verpflichtet, über eine Brüsseler Bürokratie, die mit Sicherheit auch ein "Hort" der Korruption ist, Osteuropa zu alimentieren? Ist das Dienstleistungsentsendegesetz, welches unsere nationalen Gesetze über Qualität, Leistung und kostengerechter Bezahlung aushebelt, nur ein "handwerklicher" Fehler einer unzureichenden Bürokratie zuzurechnen oder gibt es andere Ziele moralischer, kultureller, sozialer und wirtschaftlicher Austrockung der zweifellos etwas reicheren Länder Europas?

Hinzu kommt noch der Beitrittswunsch der Türkei. Wo beginnt Europa und wo hört Europa auf? Ist es das alte geografische Europa, welches wir Europäer selbst bestimmen, oder ist es ein Europa, welches von einem Präsidenten in Washington D.C. bestimmt wird? Es ist bekannt, daß die US-Amerikaner großen Druck auf die westeuropäischen Staaten ausüben, was den Beitritt der Türkei betrifft. Die Türkei ist immer noch einer der wichtigsten Verbündeten der USA im Nahen Osten. Ich habe mehr denn je den Eindruck, daß das auf alle osteuropäischen Länder zutrifft. Es geht um Rohstoffe, insbesondere um das Erdöl, zum Wohl der USA, selbstverständlich. Je mehr wir uns den USA ausliefern, desto mehr "Europa" wird im Weißen Haus entschieden.

Ein wichtiges Thema ist die Finanzierung Europas. Ich warne davor, daß wir Deutsche Europa durch noch höhere Zahlungen als bisher "heilen" oder "retten" wollen. Es ist schon ärgerlich genug, daß die "europäische Idee" zu einem wirtschaftlichen Monster verkommen ist. Noch ärgerlicher ist, wenn wir Deutschen feststellen müssen, daß wir ständig diejenigen sind, die die Kasse füllen, indem andere, wie die Briten, sich lachend zurücklehnen und Europa nicht das geben was Europa zusteht.

Daß nun der Euro mit in das Gerede kommt, ist verständlich, Er wird offensichtlich nicht nur im deutschen Volksmund als Teuro bezeichnet. Was Deutschland betrifft, da bin ich anderer Meinung: Die DM trug auch die Narben einer über fünfzigjährigen Inflation. Nur haben wir das deshalb nicht so bemerkt, weil für fast alle Berufe, auch für die Sozialhilfeempfänger, die Bezüge laufend stiegen und Wohlstand zum Anspruch wurde und nicht mehr Ziel fleißiger Arbeit war und ist.

Ich war gegen die Einführung des Euros, aber ich bin auch gegen die Abschaffung des Euro. Ich bin für die Einführung von Regionalwährungen, die durch ein Währungsgesetz umlaufgesichert sein müssen. Lesen sie dazu auf Seite Sechs den Beitrag über Silvio Gesell. Regionalwährungen sollten nach Möglichkeit die nationalen Grenzen überschreiten und in ihrem Gültigkeitsbereich die wirtschaftlichen Aktivitäten anregen, Arbeitslosigkeit eindämmen und zur sozialen Sicherung beitragen. Diese umlaufgesicherten Währungen sollten mit dem Euro konvertibel sein.

Zum Abschluß noch ein Bekenntnis: Ich bin für ein militärisch neutrales Europa, möglichst völlig militärfrei und möglichst ohne eine Rüstungsgüter-Industrie. Ich bin für ein parteiisches Europa, welches überall auf dieser Erde Partei für die Menschenrechte ergreift.

 
     
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