Vor
75 Jahren starb der bekannte deutsch-argentinische Kaufmann und Sozialreformer
Silvio Gesell (1862 - 1930) in der Nähe von Berlin. Aus diesem Anlaß
finden zur Zeit in Deutschland einige Tagungen statt, um an seine Bedeutung
zu erinnern und sein Zukunftsmodell einer "Marktwirtschaft ohne Kapitalismus"
zu aktualisieren.
Als ein Weltbürger lebte Silvio Gesell abwechselnd
in Deutschland, in Argentinien und in der Schweiz. Von 1887 bis 1899 betrieb
er in Buenos Aires ein Importgeschäft für zahnärztliche
Artikel. Die damalige Wirtschaftskrise brachte ihn zum Nachdenken über
die Ursachen von Inflation, Deflation und Arbeitslosigkeit. Gesell erkannte
sie in der Hortbarkeit des Geldes; sie gibt dem Geld die strukturelle
Macht, seinen Dienst als allgemeines Tausch- und Kreditmittel entweder
von der Zahlung eines Zinses abhängig zu machen oder ihn vorübergehend
zu verweigern. Beides hat negative Auswirkungen auf die Wirtschaft: während
Zins und Zinseszins zu einer ungerechten Verteilung der Geld- und Produktivvermögen
führen, löst die zeitweise Geldhortung Absatzstörungen
und Arbeitslosigkeit aus; außerdem macht sie eine stabilitätsgerechte
Steuerung der Geldmenge unmöglich, was Schwankungen der Kaufkraft
des Geldes zur Folge hat.
Um diesen Mißständen abzuhelfen und eine von
spekulativen Störungen freie Zirkulation des Geldes zu gewährleisten,
schlug Gesell die Einführung von nicht hortbaren "rostenden
Banknoten" vor. Sie sollten das Angebot und die Nachfrage auf den
Arbeits-, Güter- und Kapitalmärkten in ein Gleichgewicht bringen,
in dem das Zinsniveau allmählich gegen Null absinkt. Als Folge davon
erwartete Gesell Vollbeschäftigung, Geldwertstabilität und eine
gerechtere Einkommens- und Vermögensverteilung.
Seine Theorie der Geldreform legte Gesell in mehreren
Büchern dar, die während der 1890er Jahre in Buenos Aires in
deutscher und spanischer Sprache erschienen. Um die Jahrhundertwende begann
er sich auch mit der Bodenreformkonzeption des nordamerikanischen Sozialreformers
Henry George zu beschäftigen. Den Gedanken einer Gleichberechtigung
aller Menschen gegenüber der Erde als unverkäuflichem Gemeinschaftsgut
verband Gesell mit seinen eigenen Gedanken zu einer umfassenden Theorie
der Geld- und Bodenreform. Nach seiner Übersiedelung in die Schweiz
veröffentlichte er darüber weitere Bücher und Aufsätze.
Von 1906 bis 1911 lebte Silvio Gesell erneut in Buenos
Aires und entwickelte hier seine Gedanken über eine gerechte internationale
Währungsordnung als Fundament für einen sowohl von Monopolen
als auch von Zöllen freien Welthandel. Sie wurden erstmals in spanischer
Sprache veröffentlicht und waren eine Pionierleistung auf dem Gebiet
der internationalen Währungszusammenarbeit. Außerdem beschäftigte
sich Gesell mit dem den Weltfrieden fördernden Gedanken, daß
die Bodenschätze der Erde nicht länger von Firmen und Staaten
angeeignet werden dürften. Stattdessen sollten sie als ein gemeinschaftliches
Menschheitseigentum von einer internationalen Institution verwaltet werden.
Die für ihre private Nutzung erhobene Gebühr sollte der internationalen
Institution zufließen und für Wiederaufforstung und andere
umwelterhaltende Maßnahmen verwendet werden. Und die öffentlichen
Einnahmen aus der privaten Nutzung von Grundstücken sollten für
den Unterhalt von Müttern und Kindern verwendet werden.
Mit seinen Gedanken war Silvio Gesell seiner Zeit um
Jahrzehnte voraus, was große Ökonomen wie Irving Fisher und
John Maynard Keynes im Gegensatz zur übrigen Fachwelt anerkannten.
In Anlehnung an Gesells "Internationale Valuta- Assoziation"
entwickelte Keynes einen "Bancor-Plan" zum fairen Ausgleich
der weltweiten Handelsbeziehungen. Nicht nur Schuldnerländer, sondern
auch Gläubigerländer sollten ihren jeweiligen Bilanzungleichgewichten
entsprechend eine ,Strafgebühr' an eine "Internationale Clearing
Union" zahlen, um im Gegensatz zur heutigen Politik von IWF und Weltbank
beide Seiten unter einen gleichmäßigen Anpassungsdruck zu setzen.
So sollte sich die wirtschaftliche Entwicklung in allen Ländern der
Erde angleichen. Leider wurde Keynes' "Bancor-Plan" auf der
berühmten Währungskonferenz 1944 in Bretton Woods nicht angenommen.
Mit ihm hätte sich der Nord-Süd-Gegensatz möglicherweise
überwinden lassen. Nach dem 2. Weltkrieg gerieten sowohl Gesells
Geld- und Bodenreform als auch Keynes' "Bancor-Plan" längere
Zeit in Vergessenheit, obwohl ihre Bedeutung einzelnen Ökonomen wie
zum Beispiel dem nordameri-kanischen Nobelpreisträger Lawrence Klein
bewußt blieb. In Argentinien war es vor allem Professor Oreste Popescu,
der die Erinnerung an Silvio Gesell noch lange wach hielt, als die ökonomische
Fachwelt nach dem Scheitern der staatsinterventionistischen Nachfragepolitik
weitgehend auf die monetaristische Angebotspolitik einschwenkte. Mittlerweile
ist auch das Scheitern des Monetarismus offenkundig, so daß gegenwärtig
wieder eine Suche nach Auswegen aus den wirtschaftlichen Problemen beginnt.
Ob jetzt erkannt wird, daß Gesells Grundgedanken zukunftsweisend
und ausbaufähig sind?
Von 1988 bis 2000 ist Silvio Gesells Gesamtwerk in Deutschland
von einer "Stiftung für Reform der Geld- und Bodenordnung"
neu herausgegeben worden. Es umfaßt fast 6000 Seiten in 18 Bänden
und einen Registerband. Mehrere Organisationen arbeiten an der Aktualisierung,
Weiterentwicklung und Verbreitung der Geld- und Bodenreformkonzeption.
Informationen darüber gibt es - zum Teil auch in spanischer und portugiesischer
Sprache - auf den Internetseiten www.sozialoekonomie.info und www.geldreform.de.
Die Werke Silvio Gesells sowie neuere Veröffentlichungen über
die Geld- und Bodenreform sind auch in der argentinischen Nationalbibliothek
und im Museum des von Gesells Sohn Carlos gegründeten Badeortes Villa
Gesell vorhanden.
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