Dipl. Ökonom Werner Onken - Juni 2005    
"Marktwirtschaft ohne Kapitalismus"  
     
 

Vor 75 Jahren starb der bekannte deutsch-argentinische Kaufmann und Sozialreformer Silvio Gesell (1862 - 1930) in der Nähe von Berlin. Aus diesem Anlaß finden zur Zeit in Deutschland einige Tagungen statt, um an seine Bedeutung zu erinnern und sein Zukunftsmodell einer "Marktwirtschaft ohne Kapitalismus" zu aktualisieren.

Als ein Weltbürger lebte Silvio Gesell abwechselnd in Deutschland, in Argentinien und in der Schweiz. Von 1887 bis 1899 betrieb er in Buenos Aires ein Importgeschäft für zahnärztliche Artikel. Die damalige Wirtschaftskrise brachte ihn zum Nachdenken über die Ursachen von Inflation, Deflation und Arbeitslosigkeit. Gesell erkannte sie in der Hortbarkeit des Geldes; sie gibt dem Geld die strukturelle Macht, seinen Dienst als allgemeines Tausch- und Kreditmittel entweder von der Zahlung eines Zinses abhängig zu machen oder ihn vorübergehend zu verweigern. Beides hat negative Auswirkungen auf die Wirtschaft: während Zins und Zinseszins zu einer ungerechten Verteilung der Geld- und Produktivvermögen führen, löst die zeitweise Geldhortung Absatzstörungen und Arbeitslosigkeit aus; außerdem macht sie eine stabilitätsgerechte Steuerung der Geldmenge unmöglich, was Schwankungen der Kaufkraft des Geldes zur Folge hat.

Um diesen Mißständen abzuhelfen und eine von spekulativen Störungen freie Zirkulation des Geldes zu gewährleisten, schlug Gesell die Einführung von nicht hortbaren "rostenden Banknoten" vor. Sie sollten das Angebot und die Nachfrage auf den Arbeits-, Güter- und Kapitalmärkten in ein Gleichgewicht bringen, in dem das Zinsniveau allmählich gegen Null absinkt. Als Folge davon erwartete Gesell Vollbeschäftigung, Geldwertstabilität und eine gerechtere Einkommens- und Vermögensverteilung.

Seine Theorie der Geldreform legte Gesell in mehreren Büchern dar, die während der 1890er Jahre in Buenos Aires in deutscher und spanischer Sprache erschienen. Um die Jahrhundertwende begann er sich auch mit der Bodenreformkonzeption des nordamerikanischen Sozialreformers Henry George zu beschäftigen. Den Gedanken einer Gleichberechtigung aller Menschen gegenüber der Erde als unverkäuflichem Gemeinschaftsgut verband Gesell mit seinen eigenen Gedanken zu einer umfassenden Theorie der Geld- und Bodenreform. Nach seiner Übersiedelung in die Schweiz veröffentlichte er darüber weitere Bücher und Aufsätze.

Von 1906 bis 1911 lebte Silvio Gesell erneut in Buenos Aires und entwickelte hier seine Gedanken über eine gerechte internationale Währungsordnung als Fundament für einen sowohl von Monopolen als auch von Zöllen freien Welthandel. Sie wurden erstmals in spanischer Sprache veröffentlicht und waren eine Pionierleistung auf dem Gebiet der internationalen Währungszusammenarbeit. Außerdem beschäftigte sich Gesell mit dem den Weltfrieden fördernden Gedanken, daß die Bodenschätze der Erde nicht länger von Firmen und Staaten angeeignet werden dürften. Stattdessen sollten sie als ein gemeinschaftliches Menschheitseigentum von einer internationalen Institution verwaltet werden. Die für ihre private Nutzung erhobene Gebühr sollte der internationalen Institution zufließen und für Wiederaufforstung und andere umwelterhaltende Maßnahmen verwendet werden. Und die öffentlichen Einnahmen aus der privaten Nutzung von Grundstücken sollten für den Unterhalt von Müttern und Kindern verwendet werden.

Mit seinen Gedanken war Silvio Gesell seiner Zeit um Jahrzehnte voraus, was große Ökonomen wie Irving Fisher und John Maynard Keynes im Gegensatz zur übrigen Fachwelt anerkannten. In Anlehnung an Gesells "Internationale Valuta- Assoziation" entwickelte Keynes einen "Bancor-Plan" zum fairen Ausgleich der weltweiten Handelsbeziehungen. Nicht nur Schuldnerländer, sondern auch Gläubigerländer sollten ihren jeweiligen Bilanzungleichgewichten entsprechend eine ,Strafgebühr' an eine "Internationale Clearing Union" zahlen, um im Gegensatz zur heutigen Politik von IWF und Weltbank beide Seiten unter einen gleichmäßigen Anpassungsdruck zu setzen. So sollte sich die wirtschaftliche Entwicklung in allen Ländern der Erde angleichen. Leider wurde Keynes' "Bancor-Plan" auf der berühmten Währungskonferenz 1944 in Bretton Woods nicht angenommen. Mit ihm hätte sich der Nord-Süd-Gegensatz möglicherweise überwinden lassen. Nach dem 2. Weltkrieg gerieten sowohl Gesells Geld- und Bodenreform als auch Keynes' "Bancor-Plan" längere Zeit in Vergessenheit, obwohl ihre Bedeutung einzelnen Ökonomen wie zum Beispiel dem nordameri-kanischen Nobelpreisträger Lawrence Klein bewußt blieb. In Argentinien war es vor allem Professor Oreste Popescu, der die Erinnerung an Silvio Gesell noch lange wach hielt, als die ökonomische Fachwelt nach dem Scheitern der staatsinterventionistischen Nachfragepolitik weitgehend auf die monetaristische Angebotspolitik einschwenkte. Mittlerweile ist auch das Scheitern des Monetarismus offenkundig, so daß gegenwärtig wieder eine Suche nach Auswegen aus den wirtschaftlichen Problemen beginnt. Ob jetzt erkannt wird, daß Gesells Grundgedanken zukunftsweisend und ausbaufähig sind?

Von 1988 bis 2000 ist Silvio Gesells Gesamtwerk in Deutschland von einer "Stiftung für Reform der Geld- und Bodenordnung" neu herausgegeben worden. Es umfaßt fast 6000 Seiten in 18 Bänden und einen Registerband. Mehrere Organisationen arbeiten an der Aktualisierung, Weiterentwicklung und Verbreitung der Geld- und Bodenreformkonzeption. Informationen darüber gibt es - zum Teil auch in spanischer und portugiesischer Sprache - auf den Internetseiten www.sozialoekonomie.info und www.geldreform.de. Die Werke Silvio Gesells sowie neuere Veröffentlichungen über die Geld- und Bodenreform sind auch in der argentinischen Nationalbibliothek und im Museum des von Gesells Sohn Carlos gegründeten Badeortes Villa Gesell vorhanden.

 
     
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