Wilfried Heidt - Internationales Kulturzentrum
Achberg 27. September 2005
   
 
Der Ausweg aus dem Dilemma der Wahl vom 18. September:
Die Schwächen der parlamentarischen Demokratie durch Formen der direkten beseitigen
 
     
 

(D.K.) Wilfried Heidt ist zuletzt in den 80er Jahren des vorigen Jahrhunderts Autor in der damaligen Monatszeitschrift NEUE POLITIK gewesen. Er schreibt dazu in seiner Email, mit der er mir mit folgenden Worten den nachstehenden Text zuschickte: > Aktuell füge ich Dir einen Text bei, den ich gerade zu zwei Kommentaren in der FAZ vom 26. 9. geschrieben habe, um aus gegebenem Anlaß an Bestrebungen anzuknüpfen, für die ich seit 1983/84 viel getan, ja von hier aus eigentlich jene Bewegung ins Leben gerufen habe, die als die Bewegung für direkte Demokratie durch "dreistufige Volksgesetzgebung" zwar noch nicht ans Ziel, doch schon recht weit gekommen und heute dringender denn je ist. Die NEUE POLITIK hat ja 1984 schon einen meiner ersten Texte zu diesem Komplex publiziert .... Vollständig findet man den Essay auch im Netz unter
http://www.willensbekundung.net/Projekte/Volksentscheid
/index/VolksEntscheidTexte/volksentscheidtexte.html.

Für die europäische Ebene:
http://www.willensbekundung.net/Projekte/ EuropaEU21/index/index.html <.

I. Wie in anderen Medien, versuchten auch verschiedene Kommentatoren der FAZ seit dem Abend des 18. September zu ergründen, wie denn das alle Prognosen Lügen strafende Wahlergebnis zustande gekommen sein könnte. Zum Beispiel findet man in der Ausgabe vom 26. September zwei Antworten, die aber beide - so sehe ich es - nicht des Pudels Kern treffen. Auf Seite 1 meinte V.Z. unter der Überschrift "Drei Ergebnisse", die Ursache für die Niederlage der Union sei "offenkundig: Kirchhof". Im Feuilleton, auf S. 17, machte sich Jürgen Kaube Gedanken über den Einfluß der Demoskopie. Er meint, es scheine so, "als habe die Demoskopie den Demokratiebegriff tief mit ihrem Durchschnitts- und Stichprobendenken eingefärbt." Die Effekte solcher "Meinungsforschung" seien zwar - anders als der Philosoph Sloterdijk jüngst behauptete - keine "diktatorischen", weil ihre Veröffentlichung ja niemanden zu dieser oder jener Wahlentscheidung "zwinge", jedoch "alles verwirre", weil aus ihren Zahlen alles gemacht werden könne und alles gemacht werde, "und das ganz unabhängig davon, ob sie zutreffen oder nicht." usw.

Diese beiden Annahmen sollten wir uns genauer ansehen, um dem Problem vielleicht auf den Grund zu kommen. Es wird hier also festgestellt, es habe ausgerechnet derjenige der CDU den prognostizierten Wahlsieg vermasselt, den sie eigentlich als eine Trumpfkarte für "Kompetenz" in Sachen Reform des Steuerrechts gezogen hatte. Warum kam es so? Wer den Vorgang aufmerksam verfolgte, konnte feststellen, daß "der Professor aus Heidelberg" (Schröder) in den Medien - pauschal genommen - nicht die geringste Chance hatte, der Öffentlichkeit seine Gedanken zur Sache und in ihrem Verhältnis zum Programm der CDU authentisch zu vermitteln. Wie darüber diskutiert und berichtet wurde, das führte - die bereits wirksam gewordenen Folgen des demoskopischen Flächenbombardements verstärkend - zu einer zusätzlichen Verwirrung in weiten Teilen der Wählerschaft.

Wenn solche Phänomene nun aber zu den hervorstechenden Begleitumständen von Parlamentswahlen, also zum mittlerweile geradezu dominierenden Element geworden sind, das natürlich nicht durch Gesetze reglementiert oder gar verboten werden kann, dann stellt sich die Frage, ob wir den durch solche Erscheinungen "eingefärbten" "Demokratiebegriff" überhaupt noch retten können, bevor er vollends seinen Charakter, seinen Sinn und Wert zu verlieren und zum bloßen Instrument der Machtspiele der Parteipolitik und der durch sie agierenden Interessen zu verkommen droht.

II. Die erste Aufgabe in diesem Bemühen wäre, den Demokratiebegriff seinem Wesen gemäß zu bilden. Dazu gehört die Erkenntnis, daß eine politische Ordnung, welche die Demokratie auf den Parlamentarismus, d. h. vom Volkssouverän her gesehen, aufs Wählen von Parteiprogrammen und -leuten beschränkt, prinzipiell außer Stande ist, sich gegen die durch die Massenmedien nolens volens erzeugte Bewußtseinsverwirrung zu schützen.

Wenn wir uns unter einer Demokratie auf der Höhe der Zeit eine solche vorstellen, die es dem Volkssouverän, d. h. den Stimmberechtigten ermöglicht, aufgeklärt über die angebotenen Alternativen zu den legislativen Antworten auf die gesellschaftlichen Entwicklungsprobleme zu entscheiden, dann kann es keinen Zweifel geben, daß es strukturell unmöglich ist, diese Qualität zu entwickeln, wenn wir die Demokratie aufs Wählen reduzieren - wie oft auch immer gewählt werden mag. Man kann durch die Wahl, die immer nur eine pauschale Entscheidung über den für die Einzelnen unüberschaubaren Komplex von unterschiedlichsten politischen Inhalten und massenpsychologisch agierenden Personen zulässt, prinzipiell kein aufgeklärtes, rationales, also auch kein differenzierendes, verantwortbares Votum abgeben.

Selbst wenn es die beklagten Phänomene nicht oder nicht in dem epidemischen Ausmaß gäbe, wie sie bei der letzten Bundestagswahl aufgetreten sind, ist es ausgeschlossen, diese Bedingung einer respektablen politischen Kultur in einer auf den Parlamentarismus verkürzten Demokratie zu erreichen.

Das gilt für beides: Für den sog. Wahlkampf - also für die Zeit der konzentrierten politischen Urteilsbildung der Wähler/innen vor der Wahl - wie auch für die Interpretation der Wahlergebnisse. Man deutet diese Ergebnisse in der Regel ja so, daß man darüber rätselt, was die Wählerschaft damit habe "sagen" wollen. Das ist ein prinzipiell unlösbares Rätsel. Denn im Falle einer Wahl, also einer, wie gesagt, nicht zu differenzierenden Pauschalentscheidung, besteht diese Wählerschaft ja nur in quantitativer Hinsicht aus einem eindeutig zu fassenden Subjekt, das sich lediglich prozentual, jedoch nicht mit einer eindeutigen Willensbekundung den Parteien zuordnen läßt. Alles, was darüber hinaus behauptet wird, ist Kaffeesatzleserei. Das Wahlergebnis ist insofern immer eine "Katze im Sack", brauchbar nur für die taktischen Machtspiele der Parteien bei der Installation der Exekutive.

Stellt sich also die Frage, ob wir uns bei einem solchen Befund ehrlicherweise nicht von der Illusion verabschieden sollten, als gäbe es überhaupt einen rationalen Demokratiebegriff, rational sowohl im Hinblick auf den Urteilsbildungsprozeß der Wähler vor der Wahl, als auch im Hinblick auf das Wahlergebnis?

III. Das wäre, konsequent gedacht, tatsächlich unvermeidlich, wenn uns der Demokratiebegriff, wie er sich in Europa seit der Französischen Revolution in über 200 Jahren herausgebildet hat - zwar widersprüchlich genug aber dennoch hinreichend, um potentiell mehr zu sein, als Churchill unkte ["Demokratie sei die schlechteste Staatsform, ausgenommen alle anderen"] -, nicht längst die Lösung des Problems anböte. Es liegt einzig am Volkssouverän selbst, daß er - potentiell aufgeklärt - nicht schon längst die entsprechende Konsequenz gezogen und das gesetzgeberisch Notwendige durchgesetzt hat. Was ist das Notwendige?
Notwendig ist, die Ordnungen der parlamentarischen Demokratie, für welche, zumal im Zeitalter der Massenmedien, die gekennzeichneten Schwächen systembedingt unvermeidbar sind, verfassungsrechtlich durch die Ordnungen der direkten Demokratie zu ergänzen.

Natürlich müssen dabei die der Natur der Sache gemäßen Kriterien beachtet werden. Entscheidend ist,

  • daß die direktdemokratische Willensbildung in Form einer konkreten Gesetzesinitiative aus der Mitte der Gesellschaft ergriffen wird und sich - nach Erreichen eines angemessenen Quorums - in einer ersten Stufe an den parlamentarischen Gesetzgeber richtet.
  • Lehnt dieser das Anliegen ab, kann die Initiative - in einer zweiten Stufe mit höherem Quorum - ein Volksbegehren einleiten.
  • Ist sie damit erfolgreich, kommt es innert einer bestimmten Frist in der dritten Stufe zum Volksentscheid.

Nähme man für diesen Prozeß der dreistufigen Volksgesetzgebung eine Regelung hinzu, die - im Unterschied zu Sloterdijks zwar verständlichem aber grundrechtswidrigem Vorschlag - den Medien nichts verböte, ihnen aber konstitutionell die demokratische Verpflichtung auferlegte, über das Für und Wider der jeweiligen Sachentscheidung gleichberechtigt zu berichten, wäre ein Verfahren garantiert, welches die bestmöglichen Bedingungen für eine rationale und transparente Entscheidung der Stimmberechtigten bereitstellte.

IV. Anders als in dem sachpolitisch immer intransparenten, unübersichtlichen und mit Personalfragen verquickten Vorgang der Wahl, hätten bei der dreistufigen Volksgesetzgebung weder die Demoskopie noch schierer Populismus eine Chance, einen relevanten bewußtseinsverwirrenden Einfluß auszuüben. Jede direktdemokratische Entscheidung wäre in ihrer Entstehung rational einsichtig und in ihrem Ergebnis für keine widersprüchlichen Deutungen offen.

Natürlich kann nicht die gesamte legislative Arbeit direktdemokratisch abgewickelt werden. Das versteht sich ja von selbst. Die Volksgesetzgebung übt die "Staatsgewalt" komplementär zum parlamentarischen Gesetzgeber aus, repräsentiert aber gegenüber diesem die übergeordnete Souveränität.

Allein die Tatsache, daß die Stimmberechtigten jederzeit initiativ werden könnten, um - was in der Wissenschaft ja längst diskutiert, aber ohne den Weg der direkten Demokratie keine Chance haben wird, je über die Massenmedien eine öffentliche Debatte anzustoßen - beispielsweise ein solches Steuerrecht vorzuschlagen und es gegebenenfalls über ein Volksbegehren zum Volksentscheid zu bringen, das nicht nur als sozial gerecht, sondern auch als eine überzeugende Antwort auf die Herausforderungen der Globalisierung erkannt werden könnte, - allein dies kann das Land davor bewahren, stets von neuem unter jenen Phänomenen leiden zu müssen, wie sie im Zusammenhang mit der letzten Wahl zurecht beklagt werden.

Insofern sollte man diese Wahl zum Anlaß nehmen und den neuen Bundestag jetzt entschiedener denn je auffordern, in der gekennzeichneten Richtung gesetzgeberisch tätig zu werden. Trotz aller sonstigen Unklarheiten des Wahlergebnisses, könnte das Parlament mit mindestens Zweidritteln seiner Mitglieder den noch immer seiner Vollendung harrenden Artikel 20 Absatz 2 des Grundgesetzes mit der Möglichkeit zur dreistufigen Volksgesetzgebung ausgestalten und damit dem Souverän das Recht einräumen, alles, was sich nicht eindeutig als Wählerauftrag an den parlamentarischen Gesetzgeber darstellen läßt, auf dem Weg der direkten Demokratie zu entscheiden. Damit könnte Deutschland im 15. Jahr seiner nationalen Rekonstitution auch für die europäische Ebene ein vorbildliches Signal setzen, wie das Demokratiedefizit in der EU zu überwinden wäre. [Näheres siehe unter den "Projekten" auf der website www.willensbekundung.net/]

 
     
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