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Zugegeben,
an manchen Tagen in dieser schönsten Jahreszeit - so sagen viele
- war uns gar nicht sommerlich zumute. Zu nass, zu kalt. Aber es gab sie
dann doch hin und wieder, diese warm-heißen Tage und die lauen späten
Abende. Vielleicht muß man, in der Erinnerung, dieses Jahr etwas
genauer hinschauen, und sich etwas mehr konzentrieren, dann findet man
den Sommer auch in 2005.
Da denke ich zum Beispiel an meine Joggingstrecke, wie
sie so nur in Berlin möglich ist. Ich trete aus unserm Haus an der
Wilhelmstraße, wende mich gleich nach links und trabe am neueröffneten
"Mahnmal für die ermordeten Juden Europas" vorbei, bin
inmitten des ewig dahingleitenden Touristenstromes. Auf den von der Sonne
erwärmten dunklen Betonblöcken räkeln sich schwatzende
Jugendliche und ein paar Gänge weiter, gleich an den flachen Quadern
an der Ebertstraße, erblicke ich einen mittelalten Damenkegelclub.
Die Frauen sitzen dort, verzehren ihre mitgebrachten Brote und trinken
Tee aus Thermoskannen. Rechts biege ich ab, die Arbeiter an der gerade
neu zu errichtenden amerikanischen Botschaft schwitzen in der Baugrube.
Zwischen Brandenburger Tor und Reichstagsgebäude ist es übervoll.
Mir fallen die Mengen von jungen braungebrannten amerikanischen und australischen
tourist guides auf, die so ganz anders als deutsche Oberlehrer-Führer
ihre Kundschaft begeistern. In einer lebhaften Kleinkunstshow stellen
sie ihrem Publikum die Geschichte des Ortes dar; ein Film läuft ab,
fast wie im Kino. Ich hüpfe die Treppen hinterm Reichstag zur Spree
hinunter. Diese neue plaza direkt am Ufer ist den Architekten wirklich
gelungen und wird von den Menschen aus aller Welt begeistert angenommen.
Junge, Alte, Paare und Einzelne sitzen dort, schauen auf den Fluß
und die vorbeiziehenden Schiffe. Viele haben ein Fläschchen Wein
und Becher dabei, prosten sich zu. Und weiter im Trab. Jetzt kommt der
neue Spreeuferweg. Breit , gepflegt und heller Kies. Wie lange wird das
in Berlin so bleiben? Aber an diesem hellen, frühen Abend ist er
noch schön. Unter den Brücken der Bundesbauten vorbei geht es,
am Fluss entlang.
Und dann beginnt die Liegewiese, die sich zwischen Weg
und Fluss erstreckt. Viele Leute sind noch da, um den lauen Abend zu genießen.
Noch mehr müssen es am Nachmittag gewesen sein. Die Papierkörbe
am Wegesrand sind viel zu klein. Aber hier stellen die Menschen den Abfall
daneben und lassen ihn nicht einfach liegen - durchaus eine Seltenheit
in Berlin. Vor mir sehe ich die gewaltige Baustelle des neuen "Hauptbahnhof
- Lehrter Strasse". Zwischen den Türmen der Baukräne färbt
sich der Sonnenball langsam rötlich. Die Menschen genießen
den Zauber des Anblicks. Ab und zu kommen eine S-Bahn oder ein ICE vorbei.
Doch hier müssen auch diese rasenden Pfeile der erdgebundenen Mobilität
langsam entlang rollen, und sie fügen sich ein in die Atmosphäre
der Ruhe und städtischen Behaglichkeit. Dann, genau gegenüber
vom Bahnhof, springe ich auf meiner Uferseite ein paar neuerbaute Treppenstufen
empor. Und ich befinde mich (fast) in einer anderen Stadt.
Unter der tiefblauen Himmelskuppel stehe ich in der Weite
des neugeschaffenen Alsen-Parks, genau im Spreebogen. Ja, viel kritisiert
worden ist er von traditionsbewußten Berlinern. Kaum Bäume,
eigentlich nur eine große gepflegte englische Golfrasenfläche
durchzogen und eingerahmt von ein paar hellen Fuß- und Radwegen.
Also keine sichtverstellenden Bäume und Büsche, kein eng definiertes
und begrenztes Territorium für Menschen und ihre Hunde, was viele
Bewohner dieser Stadt in Wirklichkeit doch so lieben, allen anderslautenden
Gerüchten zum Trotz. Der Alsen-Park bietet einfach nur Weite. Weite,
sich zu recken und strecken, auf der Wiese zu liegen. Selbst bei in den
Nacken zurückgelegtem Kopf stößt der Rand der Himmelskuppel
erst in der Ferne an den Horizont der klein wirkenden Hochhäuser
des Potsdamers Platzes. Wie zufällig verstreut dazwischen das flach
erscheinende aus Glas und Weiß zusammengesetzte Paul-Löbe-Haus
der Abgeordneten und der kubistisch-futuristische Würfel des Kanzleramtes.
Hier mache ich eine Laufpause und genieße die unerhörten innerstädtischen
Privilegien, die der Alsen-Park bei Sonnenuntergang (und auch bei nächtlichem
Sternenhimmel) bietet: luxuriöse Distanz und Ruhe, ein Ort für
Gedanken, Träume und leichtes Philosophieren. Er ist das gefühlte
Pendant für die abendlichen Wiesen am Ufer der Außenalster
in Hamburg, wo die Großstadt ebenfalls nah ist und doch von Ferne
nur blinkt. Ich tauche ein in den sinkenden roten Sonnenball und wünsche
mir, saß dieses Kleinod noch lange unentdeckt bleiben möge.
Und weiter geht's. Ich erhebe mich, meine Sohlen werden
gefedert durch das weiche Grün, mein Gesicht benetzt die leichte
Gischt der Rasensprenger. Während ich dem Landschaftsarchitekten
noch danke, gelange ich auf die Fläche zwischen Paul-Löbe-Haus
und Kanzleramt. Zu beiden Seiten erheben sich grün erleuchtete kleine
Wasserfontänen aus dem Boden, jetzt, wo die dunkle Dämmerung
den passenden Hintergrund dafür bietet. Welch ein Sommerabend mitten
in dieser Stadt. Auf der Reichstagswiese wieder locker entspannte Menschenhäufchen,
da und dort, glucksend, lachend. Ein paar Federbälle sirren durch
die Abendluft. Der Pariser Platz ist stets belebt. Ich trabe durch den
Neubau der Akademie der Künste, die Passage und das Café sind
noch geöffnet. Niemand nimmt von dem Jogger Notiz. Könnte ich
so auch die "Académie francaise" durchqueren? Ich trete
heraus, noch schnell die Behrensstrasse am Mahnmal überqueren, und
durch den Hintereingang unseres Hauses bin ich nach drei Minuten wieder
daheim in den vertrauten Räumen. Ich öffne einen Fensterflügel
des Wohnzimmers und sehe von der Couch aus zu, wie der letzte Schimmer
der Dämmerung der warmen Dunkelheit der Nacht für heute endgültig
weicht.
War da noch was in diesem Sommer? Oh ja, die vielen Stadtstrände,
die sich jedes Jahr zu vermehren scheinen. Einen kleinen Neuen gab es,
gleich in der Nähe von Ostbahnhof hinter einem Stück Mauer von
der East Side Gallery, auch am Spreeufer, mit extra angelegtem Brunnenbecken,
türkischen Wasserpfeifen, weichen Diwans und natürlich Liegestühlen,
dazu ein bißchen Musik zum Entspannen.
Jetzt haben wir einen deutschen Herbst, und der Schreiber
dieser Zeilen hofft dennoch auf einen langen Indian Summer mit Blättern
in allen Farben. Aber Grün wird wohl nicht mehr dabei sein, egal
ob mit "ihm" oder "ihr" oder ein anderer"Kai
aus der Kiste", wie viele in Berlin so sagen. |
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