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Ganz
Deutschland feiert heute (am 30. Oktober) die Einweihung der Dresdner
Frauenkirche. Ganz Deutschland? Freut sich ganz Deutschland oder "nur"
- in allen Ehren - die Kunst- und Kulturbeflissenen aus vielen Staaten
der Welt? Oder ist es vielleicht hier nur der Teil der "Berliner
Republik", der über das notwendige Maß von "Anstand
und Moral" (Noch-Wirtschafts- und Arbeitsminister Clement) verfügt,
das gebraucht werde, um den Staat zu reformieren und zusammenzuhalten?
Wer wäre denn dann damit nicht gemeint? Wohl nicht die "Ackermänner",
aber doch wohl auch nicht jener Innenminister und Landesvorsitzender seiner
Partei in einem ostdeutschen Bundesland, der gegen starke innerparteiliche
Widerstände eine nach ihrem biographischen Werdegang fachlich völlig
ahnungslose Dame als Justizministerin durch-(und dem Volke vor-)setzte
und gegen die jahrelang erfahrene und geachtete Vorgängerin austauschte.
Allerdings hatte jene Dame ihm jahrelang innerparteilich den Rücken
frei gehalten und mußte wohl folglich mit einem Versorgungsposten
belohnt werden. Das mag für starkes (partei-)soldatisches Pflichtgefühl
und christliche Fürsorge ihres Mentors sprechen; nur - für "Anstand
und Moral" bei der Pfründenvergabe als Vorbild z. B. für
die Bevölkerung spricht es nicht. Und die Dame sitzt nun still in
ihrem neuen Büro und ward seither praktisch gar nicht mehr von der
Öffentlichkeit gesehen und bemerkt - aber kassiert gut. Darin mindestens
unterscheidet sie sich von einem Hartz IV-"Parasiten" (so das
Clement-Ministerium auf seiner Website), dessen (Nicht-) Aktivitäten
demnächst noch mehr als bisher im Auftrag der Öffentlichkeit
ausgeforscht werden sollen und der immer weniger kassieren soll.
Richtig ist: es gibt tatsächlich "Aussaugeffekte"
auf allen Ebenen in der Gesellschaft. Aber wie kann all so etwas angehen?
"Was ist faul im Staate Dänemark?" (Shakespeare) Wo stehen
wir also in diesen erst jetzt wirklich anbrechenden Tagen der "Berliner
Republik"? Denn das "neue Deutschland", welches in den
nächsten Jahren entstehen soll, wird mit der alten Bundesrepublik
endgütig nur noch den formalen Namen und die äußere Form
gemein haben. Einige Stränge zukünftiger Entwicklungen sind
eindeutig benennbar:
- Das Wahlergebnis vom 18. September hat eine grundsätzlich neue
Situation geschaffen, die von den handelnden Hauptakteuren möglichst
herunter gespielt wird. Zunächst erstens: die so genannten "großen
Volksparteien" gibt es derzeit nicht mehr. Bezogen auf alle Wahlberechtigten
ist Stimmenanteil der SPD 26,2 %, der CDU 26,9 %, der FDP 7,5 %, der Linkspartei
6,7 % und von Bündnis90/Die Grünen 6,2 %. Hinzu kommen noch
"Sonstige" und ungültige Stimmen. Nicht gewählt haben
22,3 %.. Zählt man die Wahlergebnisse der beiden Groß-Koalitionäre
zusammen, so ergibt sich nur eine knappe Mehrheit von etwa 53,1 % der
Gesamtwahlberechtigten, die insgesamt den Politikbogen der "Reformen"
tragen. Zum zweiten ist - darin ist der Linkspartei/PDS und vielen ausländischen
Betrachtern zuzustimmen - mit dem Hinzutreten dieser Partei in Fraktionsstärke
tatsächlich nur eine europäische Normalität auch für
Deutschland vollzogen worden, die vor zehn, fünfzehn Jahren auf Dauer
noch nicht vorstellbar war. Diese politische Richtung wird wahrscheinlich
nicht mehr verschwinden. Erstaunlich ist nur die Reaktionsbreite der altbundesrepublikanischen
Parteien und eines Großteils der Medien: sie reichte von "Es-hat-sich-ja-gar-nichts-geändert-Coolness"
bis zu aufgeschreckter und unterschwelliger Hysterie. Dagegen CNN und
BBC World noch am Wahlabend: hier erkannten die analytischen Kommentatoren
sofort, daß mit diesem Wahlergebnis eine Mehrzahl der Deutschen
einschließlich der Agenda-2010-Ablehner innerhalb der traditionellen
SPD-Wählerschaft jede neoliberale Richtungsänderung verworfen
hatten. Lediglich die "Süddeutsche Zeitung" fragte in ihrer
Wahlberichterstattung in einem Halbsatz einmal nach, warum denn eigentlich
ein fünfzigjähriger langzeitarbeitsloser Ingenieur den so genannten
"Reformkurs" und damit seine fortschreitende Verarmung wählen
solle, wenn doch auch bei günstigster gläubiger Prognose die
positiven Wirkungen erst in zehn bis fünfzehn Jahren einsetzen könnten
und somit für ihn zu spät. Wenn diese ökonomische Betrachtung
von Wahlentscheidungen millionenfach jetzt und in Zukunft gelten sollte,
werden die Stimmanteile für SPD und CDU weiter abnehmen und die der
Linkspartei zunehmen, von den Nichtwählern und anderen gar nicht
zu reden.
- Der "Ökonomismus", der allenthalben
um sich greift, ist auf die deutsche Gesellschaft bezogen für sich
betrachtet eine rationale Konsequenz einerseits der neoliberalen Strömungen
(in den Ober- und Mittelschichten) und andererseits von Hartz IV (in den
Mittel- und Unterschichten). Warum sollte ein (proletarischer) Hartz IV-Empfänger
denn eine andere Einstellung zu "Moral und Anstand" an den Tag
legen als Manager, Politiker und reiche deutsche Steueremigranten? Erstaunlich
ist auch hier nur wiederum, daß manche Politiker darüber erstaunt
sind (falls sie es ehrlich meinen). Erstaunlich war aber auch schon, daß
die politische Klasse sich wunderte, daß nach der de-facto 1/3-Geldentwertung
durch die Einführung des Euro und dem Verlust des Urvertrauens in
die Deutsche Mark die Menschen ökonomisch reagierten und nicht wie
erhofft ihre Sparkonten plünderten, um den gewohnten Konsum zu erhalten.
"Enrichissez vous!" ("Bereichert euch!") war schon
das Motto der bürgerlich-industriellen Julirevolution in Frankreich
ab 1830, und so macht es eben auch jetzt ein jeder, wie er kann. Man betrachte
sich doch auch nur einmal, welches gemeinsame Menschenbild sowohl der
erfolgsorientierten neoliberalen Denke als auch der Hartz-Gesetzgebung
zu Grunde liegt: bevorzugt ist in beiden Fällen der bindungslose
flexible gesunde Single, der auf niemanden Rücksicht zu nehmen braucht
und es auch nicht tut. Und warum sollte ein solcher Single (und nicht
nur der) in Zeiten des wirtschaftlichen Erfolges überflüssige
Rücklagen schaffen, die ihm, falls er scheitert, von Hartz IV wieder
abgeschmolzen werden?
- "Deutschlands Chancen nutzen" / "Deutschland
braucht den Wechsel" (CDU) bzw. "Vertrauen in Deutschland"
(SPD) - das waren die Hauptslogans der (noch) größten Parteien
im Wahlkampf. Was sagt das aus für unseren langzeitarbeitslosen Ingenieur
von 50 Jahren? Kann er sich angesprochen fühlen? Was sagt das den
Mitgliedern einer Gesellschaft, die in den letzten dreißig Jahren
im Schulunterricht zu Recht gelernt haben, daß jede Gesellschaft
aus Interessengruppen besteht, die zwar in den humanistischen Grundwerten
einem demokratischen Konsens verpflichtet sind, deren ökonomisches
Handeln aber durchaus gegensätzlich sein kann und sein soll. "Für
Gott, Kaiser und Vaterland" und "Deutschland siegt an allen
Fronten" - solche Sätze haben dieser Gesellschaft eine immunisierende
Impfung verpaßt, die nur über massive ideologische Behämmerung
über einen längeren Zeitraum theoretisch vielleicht wieder herunter
gefahren werden könnte. Das will aber niemand - zu Recht -, und so
wird die ökonomistische und soziale Zersplitterung mit den entsprechenden
Folgen in der "Berliner Republik" weiter zunehmen. Naiv war
es besonders von Frau Merkel und der CDU zu glauben, hinter dem Label
"Deutschland" den Blankoscheck für's neoliberale "Durchregieren"
zusammen mit der Westerwelle-Truppe verstecken zu können.
- Die Probleme von Schule und Demographie d.h. PISA und
Altersstruktur weisen den weiteren Weg der "Berliner Republik".
Selbst wenn am nächsten Montag ein fundamental anderes, besseres
Schulwesen seine Arbeit begönne, würde es fünfzehn bis
zwanzig Jahre dauern, bis positive Ergebnisse hervorträten. Und immer
mehr Menschen werden immer älter, dem globalisierten Wirtschaftshandeln
und den stetig zunehmenden Kürzungen zum Opfer fallen und verarmen.
Nach Ansichten und Plänen aus der CDU-Führungsebene bräuchte
eine schwarz-gelbe Koalition etwa drei bis vier Legislaturperioden, um
in Deutschland wirklich arbeitsschaffendes Wachstum zu produzieren, aber
eine Erfolgsgarantie nach erfolgten Kürzungen kann selbstverständlich
nicht gegeben werden. Nach Einschätzung von Meinhard Miegel, einem
führenden Sozialforscher über den Zusammenhang zwischen Demographie
und Wohlstand ("der Prophet der nackten Tatsachen", wie ihn
DAS PARLAMENT kürzlich nannte), wird die deutsche Gesellschaft in
zwanzig Jahren auf dem gleichen Wohlstandsniveau sein wie in den 1980er
Jahren, freilich wesentlich ungleicher verteilt. Und nach Ansicht von
Norbert Walter, Chefökonom der Deutschen Bank, steht uns ein Niedergang
von etwa vierzig Jahren bevor, bis sich das ökonomische System auf
einem neuen - niedrigeren - Niveau stabilisiert haben wird.
Die wirkliche "Berliner Republik" beginnt nach
einer in historischen Zeitmassstäben sehr kurzen Übergangszeit
mit dieser neuen Bundesregierung. Die Person Angela Merkels wäre
vielleicht nicht mehr als ein Symbol dafür. Und es spielt dabei vor
dem Hintergrund der Globalisierung auch keine Rolle, ob die neue Regierung
mit ihren Vorhaben erfolgreich ist oder scheitert. Die langfristigen Veränderungen
durch das Wahlergebnis, die unterschwelligen Strömungen, die Ökonomisierung
aller Lebensbereiche mit ihren Konsequenzen, mangelnde Bildung und die
Entwicklung des Altersaufbaus - sie alle zusammenbetrachtet(!) in ihren
gegenseitigen Wechselwirkungen(!!) und extrapoliert (= auf die Zukunft
hochgerechnet) werden das Gesellschaftsbild der "Berliner Republik"
in den nächsten zwanzig Jahren bestimmen. Das ist auch der Zeitraum,
mit dem sich die seriöse Zukunftsforschung beschäftigt. Alles
darüber hinaus gehende fällt dann in den Bereich der Utopie.
Aber die nächsten zwanzig bis maximal fünfundzwanzig Jahre sind
im Ganzen immer recht gut überschaubar und lassen Szenarien zu. Die
Daten sind erhoben, die Kinder sind geboren (oder auch nicht) und gesetzliche
Neuerungen enthalten i.d.R. Übergangsfristen und Bestandsschutzzeiträume.
Natürlich kann es binnen zwei, drei Dekaden Weltereignisse geben
- 1989 war ein solches, eine begrenzte nukleare Auseinandersetzung etwa
im vorderasiatisch-indischen Raum oder die Implosion der KP Chinas wären
andere - die alle Zukunftsszenarien über Bord werfen würden,
aber ansonsten... Der "mündige Bürger" könnte
informiert sein, und so laßt uns denn gleich morgen ein Apfelbäumchen
pflanzen, alle miteinander. Und falls nicht - vielleicht wird die wiedererstandene
Frauenkirche ja stattdessen auch akzeptiert. |
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