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(D.K.)
Der vorliegende Text ist ein Auszug aus der Erstveröffentlichung
unter dem Titel The Psychological Aspects of the Guarenteed Income in:
R. Theobald (Hrsg.), The Guaranteed Income. Next Step in Economic Evolution?,
New York 1966, S. 175-184 (Doubleday & Co.); erste deutsche Übersetzung
erschien in: Erich Fromm Gesamtausgabe in zwölf Bänden, München
(Deutsche Verlags-Anstalt und Deutscher Taschenbuch Verlag) 1999, Band
V, S. 309-316. Die Übersetzung aus dem Amerikanischen besorgten Liselotte
und Ernst Mickel. Die Taschenbuch-Gesamtausgabe biete ich in der beiliegenden
Buchliste an.
Dieser Beitrag befaßt sich ausschließlich mit den psychologischen
Aspekten eines garantierten Einkommens, mit dessen Wert, seinen Risiken
und mit den menschlichen Problemen, die dabei entstehen können. Für
ein garantiertes Einkommen für alle spricht in erster Linie, daß
die Freiheit des Einzelnen auf diese Weise entschieden erweitert werden
könnte. (Vgl. hierzu auch meine Ausführungen zu einem garantierten
Existenzminimum in The Same Society, 1955a, GA IV, S. 234-236.) Bisher
war der Mensch während seiner gesamten Geschichte durch zwei Faktoren
in seiner Handlungsfreiheit eingeschränkt: durch die Anwendung von
Gewalt von Seiten der Herrschenden (besonders dadurch, daß diese
in der Lage waren, Abweichler umzubringen) und - was noch wesentlicher
war - dadurch, daß alle vom Hungertod bedroht waren, die nicht bereit
waren, die ihnen auferlegten Bedingungen in Bezug auf ihre Arbeit und
ihre soziale Existenz zu akzeptieren.
Jeder, der nicht bereit war, diese Bedingungen anzunehmen, sah sich der
Gefahr, verhungern zu müssen, ausgesetzt, und zwar sogar dann, wenn
keine anderen Gewaltmaßnahmen gegen ihn angewandt wurden. Das während
des größten Teils der vergangenen und der gegenwärtigen
Menschheitsgeschichte vorherrschende Prinzip lautet (im Kapitalismus genau
wie in der Sowjetunion): „Wer nicht arbeiten will, soll auch nicht
essen". Diese Drohung zwang den Menschen, nicht nur so zu handeln,
wie von ihm verlangt wurde, sondern auch so zu denken und zu fühlen,
daß er nicht einmal in Versuchung geriet, sich anders zu verhalten.
Daß die Geschichte auf dem Prinzip der Angst beruht, verhungern
zu müssen, hat seine Ursache letzten Endes darin, daß der Mensch
- von bestimmten primitiven Gesellschaften abgesehen - auf einem wirtschaftlich
wie psychologisch niedrigen Existenzniveau lebte. Es waren niemals ausreichend
materielle Güter vorhanden, mit denen man die Bedürfnisse aller
hätte befriedigen können. Gewöhnlich war es so, daß
eine kleine Führungsschicht alles an sich nahm, was ihr Herz begehrte,
und daß man den vielen, die sich nicht an einen gedeckten Tisch
setzen konnten, sagte, es sei Gottes Wille oder das Gesetz der Natur.
Hierzu ist allerdings zu bemerken, daß das Ausschlaggebende dabei
nicht die Habgier der „Regierenden", sondern das niedrige Niveau
der materiellen Produktivität war.
Ein garantiertes Einkommen, das im Zeitalter des wirtschaftlichen Überflusses
möglich wird, könnte zum ersten Mal den Menschen von der Drohung
des Hungertods befreien und ihn auf diese Weise von wirtschaftlicher Bedrohung
wahrhaft frei und unabhängig machen. Niemand müßte sich
mehr nur deshalb auf bestimmte Arbeitsbedingungen einlassen, weil er sonst
befürchten müßte, er würde verhungern. Begabte oder
ehrgeizige Männer und Frauen könnten die Ausbildung wechseln,
um sich damit auf einen anderen Beruf vorzubereiten; eine Frau könnte
ihren Ehemann, ein Jugendlicher seine Familie verlassen. Die Menschen
hätten keine Angst mehr, wenn sie den Hunger nicht mehr zu befürchten
brauchten. (Dies trifft natürlich nur dann zu, wenn keine politischen
Drohungen den Menschen am freien Denken, Reden und Handeln hindern.)
Das garantierte Einkommen würde nicht nur aus dem Schlagwort „Freiheit"
eine Realität machen, es würde auch ein tief in der religiösen
und humanistischen Tradition des Westens verwurzeltes Prinzip bestätigen,
daß der Mensch unter allen Umständen das Recht hat zu leben.
Dieses Recht auf Leben, Nahrung und Unterkunft, auf medizinische Versorgung,
Bildung usw. ist ein dem Menschen angeborenes Recht, das unter keinen
Umständen eingeschränkt werden darf, nicht einmal im Hinblick
darauf, ob der Betreffende für die Gesellschaft „von Nutzen
ist".
Der Übergang von einer Psychologie des Mangels zu einer des Überflusses
bedeutet einen der wichtigsten Schritte in der menschlichen Entwicklung.
Eine Psychologie des Mangels erzeugt Angst, Neid und Egoismus (was man
auf der ganzen Welt am intensivsten in Bauernkulturen beobachten kann).
Eine Psychologie des Überflusses erzeugt Initiative, Glauben an das
Leben und Solidarität. Tatsache ist jedoch, daß die meisten
Menschen psychologisch immer noch in den ökonomischen Bedingungen
des Mangels befangen sind, während die industrialisierte Welt im
Begriff ist, in ein neues Zeitalter des ökonomischen Überflusses
einzutreten. Aber wegen dieser psychologischen „Phasenverschiebung"
sind viele Menschen nicht einmal imstande, neue Ideen wie die eines garantierten
Einkommens zu begreifen, denn traditionelle Ideen werden gewöhnlich
von Gefühlen bestimmt, die ihren Ursprung in früheren Gesellschaftsformen
haben.
Eine weitere Auswirkung des garantierten Einkommens in Verbindung mit
einer wesentlich verkürzten Arbeitszeit für alle wäre sicher,
daß die geistigen und religiösen Probleme des menschlichen
Daseins real und bestimmend würden. Bisher war der Mensch mit seiner
Arbeit zu sehr beschäftigt (oder er war nach der Arbeit zu müde),
um sich ernsthaft mit den Problemen abzugeben: „Was ist der Sinn
des Lebens?", „Woran glaube ich?", „Welche Werte
vertrete ich?", „Wer bin ich?" usw. Wenn er nicht mehr
ausschließlich von seiner Arbeit in Anspruch genommen ist, wird
es ihm entweder freistehen, sich ernsthaft mit diesen Problemen auseinanderzusetzen,
oder er wird aus unmittelbarer oder kompensierter Langeweile halb verrückt
werden. Prinzipiell kann der wirtschaftliche Überfluß die Befreiung
von der Angst vor dem Hungertod, den Übergang von einer vormenschlichen
zu einer wahrhaft menschlichen Gesellschaft kennzeichnen.
Um ein ausgeglichenes Bild zu bieten, sollte man aber auch einige Einwände
gegen diese Vorstellung von einem garantierten Einkommen für alle
und kritische Fragen nicht außer acht lassen. Die nächstliegende
Frage lautet, ob ein garantiertes Einkommen nicht die Arbeitsmotivation
beeinträchtigen würde.
Ganz abgesehen davon, daß bereits heute für einen ständig
wachsenden Teil unserer Bevölkerung überhaupt keine Arbeit vorhanden
ist und daß daher die Frage der Arbeitsmotivation für diese
Menschen nicht relevant ist, sollte man diesen Einwand trotzdem ernst
nehmen. Meines Erachtens kann man zeigen, daß der materielle Anreiz
keineswegs das einzige Motiv ist, um zu arbeiten und sich anzustrengen.
Erstens gibt es auch noch andere Motive - wie z. B. Stolz, soziale Anerkennung,
Freude an der Arbeit selbst usw. An Beispielen hierfür fehlt es nicht.
Am deutlichsten sieht man es an der Arbeit des Wissenschaftlers, des Künstlers
usw., deren hervorragende Leistungen nicht vom finanziellen Gewinn, sondern
von verschiedenen Faktoren motiviert sind: vor allem vom Interesse an
seiner Arbeit, vom Stolz auf die eigene Leistung und dem Streben nach
Anerkennung. Aber so augenfällig diese Beispiele auch sein mögen,
so sind sie doch nicht völlig überzeugend, weil man sagen könnte,
diese Ausnahmemenschen seien zu solchen außergewöhnlichen Anstrengungen
eben deshalb fähig, weil sie so außergewöhnlich begabt
seien, und sie seien deshalb keine typischen Beispiele für die Reaktion
des Durchschnittsmenschen. Mir scheint dieser Einwand jedoch nicht stichhaltig,
wenn wir uns die Antriebe zur Aktivität bei Menschen näher ansehen,
welche diese Eigenschaften des außergewöhnlichen, kreativen
Menschen nicht besitzen. Welche Anstrengungen werden im Bereich des Sports
und vieler Hobbys aufgeboten, wo keinerlei materielle Anreize gegeben
sind. In welchem Ausmaß das Interesse am Arbeitsprozeß selbst
ein Antrieb zur Arbeit sein kann, hat zuerst Professor Mayo in seiner
klassischen Untersuchung in den Chicagoer Hawthorne-Werken der „Western
Electric Company" nachgewiesen (E. Mayo, 1933). Allein die Tatsache,
daß man ungelernte Arbeiterinnen bei dem Experiment, das ihre Arbeitsproduktivität
betraf, selbst heranzog und sie durch ihre Beteiligung zu interessierten,
aktiven Teilnehmern wurden, führte zu einer höheren Produktivität,
ja sogar zu einem besseren Gesundheitszustand.
Das Problem wird noch deutlicher, wenn wir uns ältere Gesellschaftsformen
einmal genauer ansehen. Die Tüchtigkeit und Unbestechlichkeit der
traditionellen preußischen Beamten war berühmt, obwohl sie
sehr schlecht bezahlt wurden; in diesem Fall waren Begriffe wie Ehre,
Treue und Pflichterfüllung die entscheidenden Antriebe zu guten Arbeitsleistungen.
Betrachten wir vorindustrielle Gesellschaften (wie zum Beispiel die mittelalterliche
europäische Gesellschaft oder die halbfeudalen Gesellschaften zu
Anfang unseres Jahrhunderts in Lateinamerika), so taucht noch ein anderer
Faktor auf. In diesen Gesellschaften wollte beispielsweise ein Zimmermann
nur so viel verdienen, daß er sich das leisten konnte, was zu seinem
traditionellen Lebensstandard gehörte. Er hätte sich geweigert,
mehr zu arbeiten und zu verdienen, als er brauchte.
Ein zweites Argument dafür, daß der Mensch nicht nur aus materiellem
Anreiz arbeiten und sich anstrengen will, ergibt sich aus der Tatsache,
daß der Mensch unter den Folgen von Untätigkeit leidet und
eben gerade nicht von Natur aus träge ist. Sicher würden viele
Leute gerne für ein oder zwei Monate nicht arbeiten. Die allermeisten
würden aber dringend darum bitten, arbeiten zu dürfen, selbst
wenn sie nichts dafür bezahlt bekämen. Erkenntnisse über
die kindliche Entwicklung und über Geisteskrankheiten liefern eine
Fülle Daten hierfür. Es sollte unbedingt eine systematische
Untersuchung gemacht werden, bei der alle verfügbaren Daten unter
dem Aspekt „Trägheit als Krankheit" analysiert würden.
Wenn nun Geld nicht der Hauptanreiz ist, müßte doch die Arbeit
in ihren technischen oder gesellschaftlichen Aspekten so attraktiv und
interessant sein, daß man sie eher in Kauf nehmen würde als
Untätigkeit. Der moderne, entfremdete Mensch ist (meist unbewußt)
apathisch und sehnt sich daher mehr nach Nichtstun als nach Betätigung.
Diese Sehnsucht ist jedoch ein Symptom unserer „Pathologie der Normalität".
Vermutlich würde der Mißbrauch des garantierten Einkommens
nach kurzer Zeit wieder verschwinden, genauso wie auch die Leute, wenn
sie für Süßigkeiten nichts zu bezahlen brauchten, sich
nach ein paar Wochen nicht mehr daran überfressen würden.
Ein weiterer Einwand lautet: Wird es den Menschen wirklich freier machen,
wenn er keine Angst vor dem Verhungern mehr zu haben braucht, wenn man
bedenkt, daß Menschen mit einem guten Einkommen vermutlich genauso
viel Angst haben, ihre Stelle zu verlieren, die ihnen im Jahr 15 000 Dollar
einbringt, wie die, welche hungern müßten, wenn sie ihren Job
verlieren würden. Wenn dieser Eindruck richtig ist, würde das
garantierte Einkommen die Freiheit der Mehrheit, jedoch nicht die Freiheit
der oberen Schichten vergrößern.
Um diesen Einwand ganz zu begreifen, müssen wir bedenken, von welchem
Geist unsere heutige Industriegesellschaft erfüllt ist. Der Mensch
hat sich in einen homo consumens verwandelt. Er ist unersättlich
und passiv und versucht seine innere Leere mit einem ständigen, stets
wachsenden Konsum zu kompensieren. Es gibt viele klinische Beispiele für
diesen Mechanismus, bei dem übermäßiges Essen, Kaufen
und Trinken eine Reaktion auf Depression und Angst ist. Konsumiert werden
Zigaretten, Schnaps, Sex, Filme, Reisen, Bildungsgüter wie Bücher,
Vorlesungen, Kunst. Der Mensch macht den Eindruck, als sei er aktiv und
höchst angeregt, in seinem tiefsten Innern ist er jedoch erfüllt
von Angst, ist er einsam, deprimiert und gelangweilt. (Langeweile kann
als jene Art chronischer Depression begriffen werden, die man erfolgreich
mit Konsum kompensieren kann.) Die Industriegesellschaft des zwanzigsten
Jahrhunderts hat diesen neuen psychologischen Typ, den homo consumens,
in erster Linie aus wirtschaftlichen Gründen geschaffen, d. h. um
des notwendigen Massenkonsums willen, der durch die Werbung stimuliert
und manipuliert wird. Aber der einmal geschaffene Charaktertyp beeinflußt
seinerseits wieder die Wirtschaft und läßt das Prinzip der
ständig zunehmenden Befriedigung vernünftig und realistisch
erscheinen. Das Problem wird dadurch noch komplizierter, daß mindestens
zwanzig Prozent der amerikanischen Bevölkerung in unzureichenden
Verhältnissen leben, daß einige Länder Europas, vor allem
die sozialistischen, noch keinen befriedigenden Lebensstandard erreicht
haben und daß der größte Teil der Menschheit in Lateinamerika,
Afrika und Asien kaum über dem Hungerniveau existiert. Jedes Argument,
das sich für einen geringeren Konsum einsetzt, wird mit dem Gegenargument
beantwortet, daß in den meisten Teilen der Welt der Konsum noch
gesteigert werden müsse. Dies ist richtig; doch besteht die Gefahr,
daß selbst in den heute noch armen Ländern das Ideal des maximalen
Konsums richtungweisend für alle Anstrengungen wird, daß es
den Geist der Menschen formen und daher auch weiterhin wirksam sein wird,
wenn das optimale Konsumniveau bereits erreicht ist. [...]
Mit den ökonomisch orientierten Forschungsarbeiten auf dem Gebiet
des garantierten Einkommens für alle müssen auch noch andere
Forschungen betrieben werden: psychologische, philosophische, religiöse
und erziehungswissenschaftliche. Der große Schritt zu einem garantierten
Einkommen wird meiner Meinung nach nur Erfolg haben, wenn Veränderungen
in anderen Bereichen mit ihm Hand in Hand gehen. Wir dürfen nicht
vergessen, daß das garantierte Einkommen nur zustande kommen kann,
wenn wir aufhören, zehn Prozent unseres Gesamteinkommens für
die wirtschaftlich nutzlose und gefährliche Rüstung auszugeben,
wenn wir der Ausbreitung sinnloser Gewalttätigkeiten dadurch Einhalt
gebieten, daß wir die unterentwickelten Länder systematisch
unterstützen, und wenn wir Mittel und Wege finden, der Bevölkerungsexplosion
Einhalt zu gebieten. Ohne diese Wandlungen wird kein Plan für die
Zukunft gelingen, weil es keine Zukunft geben wird. "Ich
schätze Fromm ganz besonders als den seit langem tätigen und
erfolgreichen Brückenschlager zwischen Psychoanalyse und Soziologie
und als einen Humanisten."
So beschrieb Ernst Bloch seinen zeitweiligen Weggefährten Erich Fromm,
der am 23. März 2000 seinen 100. Geburtstag feiern würde. Zu
diesem Anlaß legt der dtv eine zwölfbändige, um die bedeutendsten
Schriften aus dem Nachlaß erweiterte Ausgabe des Frommschen Werkes
vor. Erich Fromm verband die Psychologie und die Soziologie, das Individuelle
und die Gesellschaft in einer eigenständigen analytischen Sozialpsychologie.
Doch neben seinen kritischen Analysen des Gesellschafts-Charakters hat
er immer auch humanistische Visionen entwickelt, denn der Mensch war und
blieb das Ziel seiner Suche und Fromms eigentliches Thema.
Der Herausgeber, Dr. Rainer Funk, ist Psychoanalytiker in eigener Praxis
in Tübingen. Er hat über Erich Fromms Sozialpsychologie und
Ethik promoviert, war Fromms letzter Assistent und ist sein literarischer
Rechte- und Nachlaßverwalter.Die homepage der Internationalen Erich
Fromm Gesellschaft(dt. Version):http://www.erichfromm.de
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