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Auszüge
aus der Nobelvorlesung
7. Dezember 2005
© DIE NOBELSTIFTUNG 2005
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Ich verdanke den Hinweis auf den Text der Rede des Literatur-Nobelpreisträgers
Harold Pinter dem Zweimonats-Magazin des klein-klein-verlages, LEBEN MIT
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(...) Politische Sprache, so wie Politiker sie gebrauchen,
wagt sich auf keines dieser Gebiete, weil die Mehrheit der Politiker,
nach den uns vorliegenden Beweisen, an der Wahrheit kein Interesse hat,
sondern nur an der Macht und am Erhalt dieser Macht. Damit diese Macht
erhalten bleibt, ist es unabdingbar, daß die Menschen unwissend
bleiben, daß sie in Unkenntnis der Wahrheit leben, sogar der Wahrheit
ihres eigenen Lebens. Es umgibt uns deshalb ein weitverzweigtes Lügengespinst,
von dem wir uns nähren.
Wie jeder der hier Anwesenden weiß, lautete die Rechtfertigung für
die Invasion des Irak, Saddam Hussein verfüge über ein hoch
gefährliches Arsenal an Massenvernichtungswaffen, von denen einige
binnen 45 Minuten abgefeuert werden könnten, mit verheerender Wirkung.
Man versicherte uns, dies sei wahr. Es war nicht die Wahrheit. Man erzählte
uns, der Irak unterhalte Beziehungen zu al-Qaida und trage Mitverantwortung
für die Gräuel in New York am 11. September 2001. Man versicherte
uns, dies sei wahr. Es war nicht die Wahrheit. Man erzählte uns,
der Irak bedrohe die Sicherheit der Welt. Man versicherte uns, es sei
wahr. Es war nicht die Wahrheit.
Die Wahrheit sieht völlig anders aus. Die Wahrheit hat damit zu tun,
wie die Vereinigten Staaten ihre Rolle in der Welt auffassen und wie sie
sie verkörpern wollen.
Doch bevor ich auf die Gegenwart zurückkomme, möchte ich einen
Blick auf die jüngste Vergangenheit werfen; damit meine ich die Außenpolitik
der Vereinigten Staaten seit dem Ende des 2. Weltkriegs. Ich glaube, wir
sind dazu verpflichtet, diesen Zeitraum zumindest einer gewissen, wenn
auch begrenzten Prüfung zu unterziehen, mehr erlaubt hier die Zeit
nicht.
Jeder weiß, was in der Sowjetunion und in ganz Osteuropa während
der Nachkriegszeit passierte: die systematische Brutalität, die weit
verbreiteten Gräueltaten, die rücksichtslose Unterdrückung
eigenständigen Denkens. All dies ist ausführlich dokumentiert
und belegt worden.
Aber ich behaupte hier, daß die Verbrechen der USA im selben Zeitraum
nur oberflächlich protokolliert, geschweige denn dokumentiert, geschweige
denn eingestanden, geschweige denn überhaupt als Verbrechen wahrgenommen
worden sind. Ich glaube, daß dies benannt werden muß, und
daß die Wahrheit beträchtlichen Einfluß darauf hat, wo
die Welt jetzt steht. Trotz gewisser Beschränkungen durch die Existenz
der Sowjetunion, machte die weltweite Vorgehensweise der Vereinigten Staaten
ihre Überzeugung deutlich , für ihr Handeln völlig freie
Hand zu besitzen.
Die direkte Invasion eines souveränen Staates war eigentlich nie
die bevorzugte Methode der Vereinigten Staaten. Vorwiegend haben sie den
von ihnen sogenannten „Intensity Conflict“ favorisiert. „Intensity
Conflict“ bedeutet, daß Tausende von Menschen sterben aber
langsamer als würde man sie auf einen Schlag mit einer Bombe auslöschen.
Es bedeutet, daß man das Herz des Landes infiziert, daß man
eine bösartige Wucherung in Gang setzt und zuschaut wie der Faulbrand
erblüht. Ist die Bevölkerung unterjocht worden oder totgeprügelt
es läuft auf dasselbe hinaus und sitzen die eigenen Freunde, das
Militär und die großen Kapitalgesellschaften, bequem am Schalthebel,
tritt man vor die Kamera und sagt, die Demokratie habe sich behauptet.
Das war in den Jahren, auf die ich mich hier beziehe, gang und gäbe
in der Außenpolitik der USA.
(...) Ich erwähnte vorhin das „Lügengespinst“, das
uns umgibt. Präsident Reagan beschrieb Nicaragua meist als „totalitären
Kerker“. Die Medien generell und ganz bestimmt die britische Regierung
werteten dies als zutreffenden und begründeten Kommentar. Aber tatsächlich
gab es keine Berichte über Todesschwadronen unter der sandinistischen
Regierung. Es gab keine Berichte über Folterungen. Es gab keine Berichte
über systematische oder offiziell autorisierte militärische
Brutalität. In Nicaragua wurde nie ein Priester ermordet. Es waren
vielmehr drei Priester an der Regierung beteiligt, zwei Jesuiten und ein
Missionar des Maryknoll-Ordens. Die totalitären Kerker befanden sich
eigentlich nebenan in El Salvador und Guatemala. Die Vereinigten Staaten
hatten 1954 die demokratisch gewählte Regierung von Guatemala gestürzt,
und Schätzungen zufolge sollen den anschließenden Militärdiktaturen
mehr als 200.000 Menschen zum Opfer gefallen sein.
Sechs der weltweit namhaftesten Jesuiten wurden 1989 in der Central American
University in San Salvador von einem Batallion des in Fort Benning, Georgia,
USA, ausgebildeten Alcatl-Regiments getötet. Der außergewöhnlich
mutige Erzbischof Romero wurde ermordet, als er die Messe las. Schätzungsweise
kamen 75.000 Menschen ums Leben. Weshalb wurden sie getötet? Sie
wurden getötet, weil sie ein besseres Leben nicht nur für möglich
hielten sondern auch verwirklichen wollten. Dieser Glaube stempelte sie
sofort zu Kommunisten. Sie starben, weil sie es wagten, den Status quo
infrage zu stellen, das endlose Plateau von Armut, Krankheit, Erniedrigung
und Unterdrückung, das ihr Geburtsrecht gewesen war.
(...) Doch diese „Politik“ blieb keineswegs auf Mittelamerika
beschränkt. Sie wurde in aller Welt betrieben. Sie war endlos. Und
es ist, als hätte es sie nie gegeben.
Nach dem Ende des 2. Weltkriegs unterstützten die Vereinigten Staaten
jede rechtsgerichtete Militärdiktatur auf der Welt, und in vielen
Fällen brachten sie sie erst hervor. Ich verweise auf Indonesien,
Griechenland, Uruguay, Brasilien, Paraguay, Haiti, die Türkei, die
Philippinen, Guatemala, El Salvador und natürlich Chile. Die Schrecken,
die Amerika Chile 1973 zufügte, können nie gesühnt und
nie verziehen werden.
In diesen Ländern hat es Hunderttausende von Toten gegeben. Hat es
sie wirklich gegeben? Und sind sie wirklich alle der US-Außenpolitik
zuzuschreiben? Die Antwort lautet ja, es hat sie gegeben, und sie sind
der amerikanischen Außenpolitik zuzuschreiben. Aber davon weiß
man natürlich nichts.
Es ist nie passiert. Nichts ist jemals passiert. Sogar als es passierte,
passierte es nicht. Es spielte keine Rolle. Es interessierte niemand.
Die Verbrechen der Vereinigten Staaten waren systematisch, konstant, infam,
unbarmherzig, aber nur sehr wenige Menschen haben wirklich darüber
gesprochen. Das muß man Amerika lassen. Es hat weltweit eine ziemlich
kühl operierende Machtmanipulation betrieben, und sich dabei als
Streiter für das universelle Gute gebärdet. Ein glänzender,
sogar geistreicher, äußerst erfolgreicher Hypnoseakt.
Ich behaupte, die Vereinigten Staaten ziehen die größte Show
der Welt ab, ganz ohne Zweifel. Brutal, gleichgültig, verächtlich
und skrupellos, aber auch ausgesprochen clever. Als Handlungsreisende
stehen sie ziemlich konkurrenzlos da, und ihr Verkaufsschlager heißt
Eigenliebe. Ein echter Renner. Man muß nur all die amerikanischen
Präsidenten im Fernsehen die Worte sagen hören: „ amerikanisches
Volk“, wie zum Beispiel in dem Satz: „ sage dem amerikanischen
Volk, es ist an der Zeit, zu beten und die Rechte des amerikanischen Volkes
zu verteidigen, und ich bitte das amerikanische Volk, den Schritten ihres
Präsidenten zu vertrauen, die er im Auftrag des amerikanischen Volkes
unternehmen wird.“
Ein brillanter Trick. Mit Hilfe der Sprache hält man das Denken in
Schach. Mit den Worten „amerikanisches Volk“ wird ein wirklich
luxuriöses Kissen zur Beruhigung gebildet. Denken ist überflüssig.
Man muß sich nur ins Kissen fallen lassen. Möglicherweise erstickt
das Kissen die eigene Intelligenz und das eigene Urteilsvermögen,
aber es ist sehr bequem. Das gilt natürlich weder für die 40
Millionen Menschen, die unter der Armutsgrenze leben, noch für die
2 Millionen Männer und Frauen, die in dem riesigen Gulag von Gefängnissen
eingesperrt sind, der sich über die Vereinigten Staaten erstreckt.
Den Vereinigten Staaten liegt nichts mehr am low intensity conflict. Sie
sehen keine weitere Notwendigkeit, sich Zurückhaltung aufzuerlegen
oder gar auf Umwegen ans Ziel zu kommen. Sie legen ihre Karten ganz ungeniert
auf den Tisch. Sie scheren sich einen Dreck um die Vereinten Nationen,
das Völkerrecht oder kritischen Dissens, den sie als machtlos und
irrelevant betrachten. Sie haben sogar ein kleines, blökendes Lämmchen,
das ihnen an einer Leine hinterher trottelt, das erbärmliche und
abgeschlaffte Großbritannien.
Was ist aus unserem sittlichen Empfinden geworden? Hatten wir je eines?
Was bedeuten diese Worte? Stehen sie für einen heutzutage äußerst
selten gebrauchten Begriff – Gewissen? Ein Gewissen nicht nur hinsichtlich
unseres eigenen Tuns sondern auch hinsichtlich unserer gemeinsamen Verantwortung
für das Tun anderer? Ist all das tot? Nehmen wir Guantanamo Bay.
Hunderte von Menschen, seit über drei Jahren ohne Anklage in Haft,
ohne gesetzliche Vertretung oder ordentlichen Prozess, im Prinzip für
immer inhaftiert. Diese absolut rechtswidrige Situation existiert trotz
der Genfer Konvention weiter. Die sogenannte „Gemeinschaft“
toleriert sie nicht nur, sondern verschwendet auch so gut wie keinen Gedanken
daran. Diese kriminelle Ungeheuerlichkeit begeht ein Land, das sich selbst
zum „Führer der freien Welt“ erklärt. Denken wir
an die Menschen in Guantanamo Bay? Was berichten die Medien über
sie? Sie tauchen gelegentlich auf – eine kleine Notiz auf Seite
sechs. Sie wurden in ein Niemandsland geschickt, aus dem sie womöglich
nie mehr zurückkehren. Gegenwärtig sind viele im Hungerstreik,
werden zwangsernährt, darunter auch britische Bürger. Zwangsernährung
ist kein schöner Vorgang. Weder Beruhigungsmittel noch Betäubung.
Man bekommt durch die Nase einen Schlauch in den Hals gesteckt. Man spuckt
Blut. Das ist Folter. Was hat der britische Außenminister dazu gesagt?
Nichts. Was hat der britische Premierminister dazu gesagt? Nichts. Warum
nicht? Weil die Vereinigten Staaten gesagt haben: Kritik an unserem Vorgehen
in Guantanamo Bay stellt einen feindseligen Akt dar. Ihr seid entweder
für uns oder gegen uns. Also hält Blair den Mund.
Die Invasion des Irak war ein Banditenakt, ein Akt von unverhohlenem Staatsterrorismus,
der die absolute Verachtung des Prinzips von internationalem Recht demonstrierte.
Die Invasion war ein willkürlicher Militäreinsatz, ausgelöst
durch einen ganzen Berg von Lügen und die üble Manipulation
der Medien und somit der Öffentlichkeit; ein Akt zur Konsolidierung
der militärischen und ökonomischen Kontrolle Amerikas im mittleren
Osten unter der Maske der Befreiung, letztes Mittel, nachdem alle anderen
Rechtfertigungen sich nicht hatten rechtfertigen lassen. Eine beeindruckende
Demonstration einer Militärmacht, die für den Tod und die Verstümmelung
abertausender Unschuldiger verantwortlich ist.
Wir haben dem irakischen Volk Folter, Splitterbomben, abgereichertes Uran,
zahllose, willkürliche Mordtaten, Elend, Erniedrigung und Tod gebracht
und nennen es „dem mittleren Osten Freiheit und Demokratie bringen“.
Wie viele Menschen muß man töten, bis man sich die Bezeichnung
verdient hat, ein Massenmörder und Kriegsverbrecher zu sein? Einhunderttausend?
Mehr als genug, würde ich meinen. Deshalb ist es nur gerecht, daß
Bush und Blair vor den Internationalen Strafgerichtshof kommen. Aber Bush
war clever. Er hat den Internationalen Strafgerichtshof gar nicht erst
anerkannt. Für den Fall, daß sich ein amerikanischer Soldat
oder auch ein Politiker auf der Anklagebank wiederfindet, hat Bush damit
gedroht, die Marines in den Einsatz zu schicken. Aber Tony Blair hat den
Gerichtshof anerkannt und steht für ein Gerichtsverfahren zur Verfügung.
Wir können dem Gerichtshof seine Adresse geben, falls er Interesse
daran hat. Sie lautet Number 10, Downing Street, London.
Der Tod spielt in diesem Zusammenhang keine Rolle. Für Bush und Blair
ist der Tod eine Lappalie. Mindestens 100.000 Iraker kamen durch amerikanische
Bomben und Raketen um, bevor der irakische Aufstand begann. Diese Menschen
sind bedeutungslos. Ihr Tod existiert nicht. Sie sind eine Leerstelle.
Sie werden nicht einmal als tot gemeldet. „zählen wir nicht“,
sagte der amerikanische General Tommy Franks.
(...) Die Vereinigten Staaten verfügen über 8000 aktive und
operative Atomsprengköpfe. Zweitausend davon sind sofort gefechtsbereit
und können binnen 15 Minuten abgefeuert werden. Es werden jetzt neue
Nuklearwaffensysteme entwickelt, bekannt als Bunker-Busters. Die stets
kooperativen Briten planen, ihre eigene Atomrakete Trident zu ersetzen.
Wen, frage ich mich, haben sie im Visier? Osama Bin Laden? Sie? Mich?
Joe Dokes? China? Paris? Wer weiß das schon? Eines wissen wir allerdings,
nämlich daß dieser infantile Irrsinn – der Besitz und
angedrohte Einsatz von Nuklearwaffen – den Kern der gegenwärtigen
politischen Philosophie Amerikas bildet. Wir müssen uns in Erinnerung
rufen, daß sich die Vereinigten Staaten dauerhaft im Kriegszustand
befinden und mit nichts zu erkennen geben, daß sie diese Haltung
aufgeben.
(...) Ich glaube, daß den existierenden, kolossalen Widrigkeiten
zum Trotz die unerschrockene, unbeirrbare, heftige intellektuelle Entschlossenheit,
als Bürger die wirkliche Wahrheit unseres Lebens und unserer Gesellschaften
zu bestimmen, eine ausschlaggebende Verpflichtung darstellt, die uns allen
zufällt. Sie ist in der Tat zwingend notwendig.
Wenn sich diese Entschlossenheit nicht in unserer politischen Vision verkörpert,
bleiben wir bar jeder Hoffnung, das wiederherzustellen, was wir schon
fast verloren haben – die Würde des Menschen.
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