Ingo Schmidt- Tychsen - November / Dezember 2006

   
 

“Für die Olympiade habe ich kürzlich abgesagt”

 
     
 

(D.K.) Den nachfolgenden Text habe ich mit freundlicher Genehmigung dem ARGENTINISCHEN TAGEBLATT entnommen. Enrique Heymann ist nicht nur Leser dieser deutschsprachigen Traditionszeitung aus Argentinien, sondern auch Leser des Kommentar- und Informationsbriefes NEUE POLITIK. Vermutlich ist er der älteste Leser, den ich habe. Ich habe Enrique Heymann über  das ARGENTINISCHE TAGEBLATT kennen gelernt, welches ich als Austausch für die NEUE POLITIK erhalte.

Enrique Heymann feierte am 2. Oktober seinen 100sten Geburtstag. Im “Argentinischen Tageblatt” verrät er das Geheimnis seiner lang währenden Jugend,

von  Ingo Schmidt- Tychsen

Buenos Aires - Enrique Heymann sitzt in einem schwarzen Sessel, das Telefon klingelt. Er nimmt ab: “Hable!” Ein Freund des Berliners ruft an, Heymann lacht. Zehn Minuten später, das Telefon klingelt wieder. Eine Tochter Heymanns ist am Apparat. “Todo tranquilo” sagt er. Er legt auf und geht langsam in Richtung Treppe. “Ich habe vergangene Woche für die Olympiade absagen müssen, bin einfach nicht mehr schnell genug.” Ein Scherz. Heymann schaut seinem Gesprächspartner in die Augen und grinst, die Augen kneift er dabei zusammen. Seine Mundwinkel sind so weit gehoben, daß sie fließend in die groben Lachfalten an seinen Wangen übergehen. Heymann hat schon viel gelacht in seinem Leben. “Das ist mein Rezept” sagt er. Gestern, am 2. Oktober, ist er 100 Jahre alt geworden. In seinem Haus in Belgrano wurde das selbstverständlich gefeiert.

Bei dieser Gelegenheit ließ es sich Heymann nicht entgehen die eine oder weitere Anekdote aus seinem Leben zum Besten zu geben, bildhaft erzählt, wie immer. Teile dieser Geschichten, Gedichte und in verschiedenen Zeitungen (vorrangig dem “Argentinischen Tageblatt”) veröffentlichte Kommentare hat Heymann in einem Buch zusammen gefaßt, das in Kürze im Verlag “Dunken” erscheinen wird. “Ein- und Ausfälle eines 100-Jährigen” heißt das Werk, es ist bei jedem ambitionierten Buchhändler zu kaufen.

Enrique Heymann ist in Berlin-Steglitz geboren und dort aufgewachsen. Am Brandenburger Tor hat er den Kaiser und seine Söhne hoch zu Ross gesehen. “Ich war damals sechs, aber ich kann mich gut erinnern – es war eindrucksvoll” sagt er. Auch vom ersten Weltkrieg weiß er zu berichten – “schulfrei und Hunger” fällt ihm ein. Aber: “Ich  habe das als Kind ja noch nicht begriffen.”

Heymann arbeitete in Berlin als Bankangestellter und später beim Rundfunk, wo er 1933 entlassen wurde, weil er Jude ist. “Mein Vater meinte noch: Ach, der Hokus-Pokus ist bald wieder vorbei” erzählt Heymann. Heymann wanderte dennoch nach Litauen und später Palästina aus– eine gute Entscheidung.  Wie sich später herausstellte, dauerte der schreckliche “Hokus-Pokus” 12 Jahre.

Heymann gefiel Palästina nach drei Jahren, in denen er als Maurer gearbeitet hatte, nicht mehr, “weil ich kein Zionist bin”. Er reiste auf Einladung eines Freundes nach Bolivien, seine Mutter holte er wenig später hinterher. Heymanns Vater war in Berlin eines natürlichen Todes gestorben.

In Bolivien lernte Heymann neben spanisch auch englisch – in der Zinnmine arbeitete er gemeinsam mit Amerikanern. Und die wollten ausschließlich englisch sprechen – das führte gelegentlich zu Komplikationen.

Heymann berichtet davon, milde lächelnd: “Ich plauderte mit einem amerikanischen Aufseher, als ein Bolivianer erschien und auf spanisch fragte, ob er zwei Wochen Urlaub haben könne. Der Amerikaner nickte nur gleichgültig, woraufhin der Bolivianer uns grinsend verließ. ´Du hast ihm gerade zwei Wochen Urlaub gegeben´, habe ich zu dem Amerikaner gesagt. Er traute seinen Ohren nicht. ´Was habe ich?´ Aber der Bolivianer war schon entschwunden.” Heymann erzählt diese Geschichte auch, weil sie gegen seine Überzeugung steht. Für Offenheit, gegen Anpassung. Heymann steht für Toleranz und Lebensfreude. Deshalb ist er in Südamerika. sesshaft geworden. “Der Latino-Amerikaner versteht es besser, das Leben zu genießen, als der Deutsche. Der Deutsche ist arbeitsam, nicht frivol.”

Heymann kam 1948 nach Argentinien, weil er eine Familie in einem zivilisierteren Land als Bolivien gründen wollte. Heute hat er eine große Familie, Enkel und Urenkel. Alle sprechen deutsch, obwohl sie in Argentinien leben. “Anfangs  haben sich meine Kinder gewehrt, weil sie Deutsch für eine Nazi-Sprache gehalten haben. Aber das stimmt nicht, deutsch ist eine schöne Sprache.” Sie sei lediglich von den Nazis mißbraucht worden.

Im vergangenen Jahr hat Heymann US-Amerika besucht, seine Reise hat ihn durch ganz Kalifornien geführt. Damals war Heymann 98. Er zuckt mit den Achseln und grinst: “Ich wäre nicht gern noch einmal 98.”

 
     
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