Gottfried Hilscher - Mai 2008

   
 

Wirtschaft in parallelen Welten Realwirtschaft im Griff einer virtuellen Wirtschaft

 
     
 

Was eigentlich ist "die Wirtschaft", deren Wohl und Wehe täglich pauschal beschworen wird? ,,Die Wirtschaft ist gesund", trällert die Wirtschaftsförderung und Technologietransfer Schleswig-Holstein GmbH zu Beginn dieses Jahres. Ich weiß, es gibt die Volkswirtschaftslehre als Wissenschaft. Mit der ‘Konjunktur-Steuerungslehre’ eines Maynard Keynes zum Beispiel, die vor etwa 70 Jahren als eine Art kardinale Handlungsanleitung für die Wirtschaftspolitik Schule machte. Die Steuerungshebel in deren Magischem Viereck, so habe ich’s aus der Schule in Erinnerung, könnten nur dann wirksam sein, wenn Wirtschaftswachstum herrsche.

Vielleicht liegt es daran, daß die Wissenschaft noch keinen praktikablen Ersatz für diese Theorie hervorgebracht hat. Eine zeitgemäße Alternative, die ohne den Wachstumsbegriff auskommt, wenn sich die Wirtschaft „gesund" entwickeln soll. Die Forderung nach Wirtschaftswachstum ist verbal bekanntlich die Zielgröße Nummer eins jedes politischen Programms geblieben. Nur steckt dahinter ein Wachstumszwang, den die etablierte Geldwirtschaft jedem „berechenbaren" Handeln auferlegt. Gleich, ob im nationalen oder globalen Rahmen. Leistungen humanitärer und caritativer Art, die vornehmlich nach ihren Kosten zu bewerten schlicht inhuman ist, passen nicht ins Kalkül von Börsianern und allen möglichen anderen "Finanzkreisen". „Humanwirtschaftler“ registrieren das wie ein Seismograph das Erdbeben.

In der  „realen"  Wirtschaft mit  ihren produzierenden und Dienstleistungen anbietenden Branchen ist Wachstum durchaus ein bedeutsamer Indikator für ihre Verfassung. Aber die Ursache-Wirkungsbeziehungen werden differenziert betrachtet. Zu den Kriterien, die den Zustand eines Unternehmens beschreiben, gehören Begriffe wie Konkurrenzfähigkeit, Produktivität, Qualität und Originalität der Erzeugnisse, die fachliche Qualifikation und Zufriedenheit der Mitarbeiter, der Auftragsbestand und die Auslastung der Kapazitäten, und schlußendlich auch die Verläßlichkeit den Kunden gegenüber. Die Renditen, die unterm Strich bleiben, sind selbstverständlich ebenfalls Ausweis für die „reale" Leistungs- und Wirtschaftskraft des Unternehmens.

Aus einem Querschnitt von Unternehmensdaten den „Gesundheitszustand der Wirtschaft", etwa der eines Bundeslandes oder der ganzen Republik, mit einem Satz zutreffend zu kennzeichnen, scheint mir dennoch das gewagte Ergebnis einer hohen Rechenkunst zu sein. Erst recht, wenn in kurzen Zeitabständen aus Befragungen Prognosen für die generelle Geschäftsentwicklung abgeleitet werden. Die Wirtschaftsweisen der Bundesregierung und ihnen vorauseilend etwa das IFO-Institut, dürften mit ihrer Weissagekraft das Orakel von Delphi noch übertreffen. Gut, daß bei jeder neuen Prophezeiung die vorangegangenen schon in Vergessenheit geraten sind. Vorausschauende Marktanalysen von sachkundigen Branchenkennern nehmen sich dem gegenüber wie solide Handwerksarbeit aus.

Soweit einige Anmerkungen zur rhetorischen und auch mathematischen Bewältigung der Geschehnisse in der Wirtschaft. Zu „der Wirtschaft" gehört neben der „realen" Wirtschaft noch ein anderer Teil, der viele Prophezeiungen und berechtigte Erwartungen in Makulatur zu verwandeln vermag. Jeder Blick in Zeitungen, die nach dem von der amerikanischen Immobilienkrise ausgelösten 'Börsencrash' erschienen sind und täglich neu auf den Tisch flattern, zeigen an, daß es noch eine zweite, eine parallele Wirtschaftswelt gibt. Eine von der „realen" Wirtschaft weitgehend losgelöste „virtuellen" Charakters. Die scheint viel einflußreicher auf das globale und nationale Wirtschaftsgeschehen zu sein als die reale Wirtschaftsentwicklung. Deren Zukunftsfähigkeit ist zumindest vorausahnbar. Und das vielleicht mit weniger Fragezeichen behaftet als die mit fester Stimme vorgetragenen Prognosen der sattsam bekannten „forschenden" Wirtschaftspropheten. So es ihnen nicht total die Sprache verschlägt, legen sie zwischen Virtualität und Realität ein Dolmetschertalent an den Tag.

Ihre Neusprache und die Wortwahl aller, die sich zu einem möglichen globalen „Wirtschaftsfiasko" äußern, könnten einem psychologischen Wörterbuch für Emotionen entstammen. Die ‘rationale’ Sprache der Wirtschaftswissenschaften weicht einer gefühlsbetonten Alltagssprache. Da ist von Optimismus und Pessimismus die Rede im Blick auf einen befürchteten mehr oder weniger großen Crash. Aktien befänden sich im freien Fall, die 'Schönwetterbörse’ sei am Ende. Die Börsen spielen verrückt, titeln die Zeitungen. Vor Ort wetten ach so seriöse Börsenbroker wie am Wirtshaustisch, ob sich ein Kurs oder ein Aktienindex nach oben oder nach unten bewegen wird. „Panik" ist eine der gebräuchlichsten Vokabeln zur Lagebeschreibung.

Großbanken, die durch Spekulationen auf dem amerikanischen Immobilienmarkt mit Milliardenverlusten in eine „Finanzkrise" geraten sind, aus der sie die öffentliche Hand befreit, sehen eine „Glaubwürdigkeitskrise“ auf sich zukommen. Wenn ein Aktienhändler der französischen Großbank Société Genérale diese um knapp fünf Milliarden Euro erleichtern kann - das ist bislang nur von der Höhe der verspielten Summe ein Einzelfall -, dann ist der Laden schlichtweg außer Kontrolle. Gilt das auch für die globale Finanzwirtschaft und deren Verbindung zur „realen Wirtschaft", die nationale wie die globale? Ist die Finanzwirtschaft mit ihren Manipulationen, Börsenverlusten, korrupten Managern in Banken und Konzernen integraler Bestandteil „der Wirtschaft"? Sind die Prognosen für die Realwirtschaft und deren Branchen mit denen für das Börsenbarometer in Verbindung zu bringen, ja kompatibel?

Geschulte Kritiker der Wirtschaftsdialektik werden, das vermute ich, solche Ereignisse als systemimmanent einstufen können. Zukunftsprognosen, die davon ausgehen, könnten eigentlich nur einen Super-Gau von globalem Ausmaß an die Wand malen. Alan Greenspan, der Ober-Guru der Wirtschaftsweisen, war 20 Jahre lang Chef der amerikanischen Notenbank und Erfinder der so genannten kreativen Finanzinstrumente. Sylvester 2007 hat sich der prominente Mitkonstrukteur des einsturzgefährdeten Weltfinanzgebäudes nach einem Pressebericht im US-Sender National Public Radio (NPR) wie folgt geäußert:

„Was ich prognostizieren muß, ist, daß etwas passieren wird, das uns alle umhauen wird. Was ich sage, ist, daß wir uns in einer Umkehrphase befinden, und daß die außergewöhnlichen Verbesserungen, die in den letzten 15 Jahren stattgefunden haben, nur vorübergehend waren und jetzt umschlagen. Ich glaube, der ganze Prozeß wird sich  umkehren. - Wir und die anderen Zentralbanken haben die Kontrolle über die Kräfte, die die Immobilienpreise ansteigen ließen, verloren.“

Man könnte hinzufügen, daß die „virtuelle“ Wirtschaft die Entwicklung der „realen“ Wirtschaft durchaus dominieren kann. Schlimm ist obendrein, daß sich die Vorgänge in beiden 'Wirtschaftsteilen’ nur schwer voneinander trennen lassen. Vielleicht wird deshalb als Sammelbegriff „die Stimmung" in der Wirtschaft so oft apostrophiert. Wie sagte Kurt Tucholsky? „Es fällt schwer, keine Satire zu schreiben."

 
     
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