Dieter Kersten - März / April 2011

   
 

Friedensethik in der Schule
- Entschließung -

"Beutelsbacher Konsens"

Pol&is

 
     
 

Konvent der Friedensbeauftragten und Beistände für KDV (Kriegsdienstverweigerung) der Evangelischen Landeskirchen in Württemberg und Baden.

Entschließung zur Friedensethik in der Schule anläßlich der Kooperationsvereinbarung vom 4.12.2009.

Der Konvent der Friedensbeauftragten und Beistandspfarrer für KDV in den Evangelischen Landeskirchen in Württemberg und Baden hat sich auf seinem Studientag im November 2010 in Stuttgart mit der Frage der Friedensethik an Schulen befaßt.

Anlaß ist die Kooperationsvereinbarung von Kultusministerium in Baden-Württemberg und Wehrbereichskommando Süd vom 4. Dezember 2009.

Seit 1958 haben Jugendoffiziere der Bundeswehr Zugang zu Schulen. In der neuen Kooperationsvereinbarung vom 4.12.2009 wird dieser Zugang ausgeweitet u.a. auf die Referendarsausbildung. Hier sind Bereiche der Friedensethik berührt, die auch Glaubens- und Gewissensfragen einschließen.

Das Verständnis der Bundeswehr von Frieden und Sicherheit unterscheidet sich vom ökumenischen Verständnis von menschlicher Sicherheit und gerechtem Frieden. Christen und Kirchen sind geleitet durch Verheißung und Gebot des Evangeliums „Selig sind die Friedensstifter“, Matthäus 5,9, und „Liebet eure Feinde“, Matthäus 5,44. Sie orientieren sich an der biblischen Vision: „Da werden sie ihre Schwerter zu Pflugscharen und ihre Spieße zu Sicheln machen“ Jesaja 2,4.

Die christlichen Kirchen haben auf weltweiter wie regionaler Ebene erklärt, darauf hinzuarbeiten, den Krieg als Institution zu überwinden (u.a. Europäische ökumenische Versammlung Basel 1989, Weltkonvokation für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung, Seoul 1990).

Bei allen Konflikten treten Christen und Kirchen für die vorrangige Option der Gewaltfreiheit ein. Krisenprävention und zivile gewaltfreie und konstruktive Konfliktbearbeitung müssen gegenüber militärischen Einsätzen Priorität erhalten („prima ratio“). Das hat auch für gesellschaftlich zur Verfügung gestellte Ressourcen Konsequenzen.

Die Kooperationsvereinbarung ermöglicht den Jugendoffizieren der Bundeswehr gegenüber Schülern und Schülerinnen wie angehenden Lehrern und Lehrerinnen regierungsoffizielle, jedoch von den Grundüberzeugungen vieler Christen aus nicht mittragbare und in der Bevölkerung umstrittene sicherheitspolitische Konzepte zu vermitteln, die der Bundeswehr wesentliche Aufgaben in der Außenpolitik zubilligen. Im Beispiel zeichnet das Simulationsspiel „POL&IS“ ein Bild der politischen, wirtschaftlichen und ökologischen Wirklichkeit, das den spielenden Schülern und Lehrern Militäreinsätze zur Konfliktbearbeitung als „normal“ und nützlich erscheinen läßt.

Der Einsatz der Jugendoffiziere entspricht in seinem Vollzug nicht bildungspolitischen Erfordernissen.

Der 1976 für die politische Bildung an Schulen vereinbarte „Beutelsbacher Konsens“ mit seinem Überwältigungsverbot, wonach Schüler nicht im Sinne erwünschter Meinungen überrumpelt oder an der Bildung eines selbständigen Urteils gehindert werden dürfen, sowie das Ausgewogenheitsgebot, wonach auch im Unterricht kontrovers sein muß, was in Wissenschaft und Politik kontrovers ist, wird durch die Kooperationsvereinbarung unterlaufen.

Für ein demokratisches Bildungsverständnis ist es unerläßlich, daß im Unterricht die Bandbreite der unterschiedlichen Positionen im Originalton zu Wort kommt. Schülerinnen und Schüler sollen die Möglichkeit erhalten, eine reflektierte, eigenständige Position zu entwickeln.

Notwendig sind eine plurale Meinungsbildung in Verantwortung der Schule durch unabhängige Lehrerinnen und Lehrer, die Schärfung der Gewissen der Jugendlichen und die Orientierung am Friedensgebot des Grundgesetzes.

Die Schulen müssen deshalb personell und von den Sachmitteln her in die Lage versetzt werden, eine umfassende Information und Meinungsbildung zu friedens- und sicherheitspolitischen Themen zu gewährleisten.

Wir halten es für erforderlich, daß die institutionell verankerte Kooperationsvereinbarung mit der Bundeswehr aufgekündigt wird.

Schulen soll es selbst anheimgestellt werden, Referenten der Bundeswehr und der Kirchen oder Friedensorganisationen bzw. Organisationen der Entwicklungszusammenarbeit auf freiwilliger Basis und ausgewogene Weise in den Unterricht einzuladen.

Stuttgart, 20.11.2010

Kontakt:
Konvent der Friedensbeauftragten und Beistände für KDV und ZDL, per Adresse: Pfarramt für Friedensarbeit, KDV und ZDL, Gymnasiumstr. 36, 70174 Stuttgart; Arbeitsstelle Frieden, Blumenstr. 1-7, 76133 Karlsruhe.

 

Beutelsbacher Konsens

Zusammenfassung

Der Beutelsbacher Konsens ist das Ergebnis einer Tagung der Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg zusammen mit Politikdidaktikern unterschiedlicher parteipolitisch oder konfessionell bedingter Lager im Herbst 1976 in Beutelsbach. Der Konsens legt die gemeinsamen Grundsätze für politische Bildung fest. Dabei wurden drei Grundprinzipien des Politikunterrichts festgelegt.

I. Überwältigungsverbot 
Es ist nicht erlaubt, den Schüler - mit welchen Mitteln auch immer - im Sinne erwünschter Meinungen zu überrumpeln und damit an der "Gewinnung eines selbständigen Urteils" zu hindern . Hier genau verläuft nämlich die Grenze zwischen Politischer Bildung und Indoktrination. Indoktrination aber ist unvereinbar mit der Rolle des Lehrers in einer demokratischen Gesellschaft und der - rundum akzeptierten - Zielvorstellung von der Mündigkeit des Schülers.

2. Was in Wissenschaft und Politik kontrovers ist, muß auch im Unterricht kontrovers erscheinen
Diese Forderung ist mit der vorgenannten aufs engste verknüpft, denn wenn unterschiedliche Standpunkte unter den Tisch fallen, Optionen unterschlagen werden, Alternativen unerörtert bleiben, ist der Weg zur Indoktrination beschritten. Zu fragen ist, ob der Lehrer nicht sogar eine Korrekturfunktion haben sollte, d. h. ob er nicht solche Standpunkte und Alternativen besonders herausarbeiten muß, die den Schülern (und anderen Teilnehmern politischer Bildungsveranstaltungen) von ihrer jeweiligen politischen und sozialen Herkunft her fremd sind.

Bei der Konstatierung dieses zweiten Grundprinzips wird deutlich, warum der persönliche Standpunkt des Lehrers, seine wissenschaftstheoretische Herkunft und seine politische Meinung verhältnismäßig uninteressant werden. Um ein bereits genanntes Beispiel erneut aufzugreifen: Sein Demokratieverständnis stellt kein Problem dar, denn auch dem entgegenstehende andere Ansichten kommen ja zum Zuge.

3. Der Schüler muß in die Lage versetzt werden, eine politische Situation und seine eigene Interessenlage zu analysieren,
sowie nach Mitteln und Wegen zu suchen, die vorgefundene politische Lage im Sinne seiner Interessen zu beeinflußen. Eine solche Zielsetzung schließt in sehr starkem Maße die Betonung operationaler Fähigkeiten ein, was eine logische Konsequenz aus den beiden vorgenannten Prinzipien ist. Der in diesem Zusammenhang gelegentlich - etwa gegen Herman Giesecke und Rolf Schmiederer - erhobene Vorwurf einer "Rückkehr zur Formalität", um die eigenen Inhalte nicht korrigieren zu müssen, trifft insofern nicht, als es hier nicht um die Suche nach einem Maximal-, sondern nach einem Minimalkonsens geht.

POL&IS
Spielerisch in den Krieg
von Markus Pflüger
Der Autor ist Referent für Friedensarbeit der Arbeitsgemeinschaft Frieden in Trier.

Das Simulationsspiel »Politik und Internationale Sicherheit« (POL&IS), das Jugendoffiziere der Bundeswehr vor allem mit Schülern spielen, wird von Friedensgruppen stark kritisiert. Im Oktober 2010 stellte sich die Bundeswehr erstmalig ihren Kritikern -. 31 Friedensaktivisten hatten in der Bundeswehr-Seminarstätte im sauerländischen Winterberg die Möglichkeit mit Jugendoffizieren POL&IS zu spielen. Für drei Tage wurden sie Regierungschefs, Wirtschaftsminister, UN-Generalsekretärin, die Weltpresse oder Nichtregierungsorganisationen. »Polis heißt: Realitätsnah ein paar Tage Weltpolitik zu spielen«, erklärte ein Jugendoffizier. Schon bei der Rollenverteilung offenbarten sich Zweifel an dieser Aussage: Die Opposition wurde nicht besetzt. Dafür seien größere Gruppen notwendig, erklärte der Jugendoffizier. Laut Spielvorgabe ist die Opposition in Europa sowieso entweder »konservativ« oder »liberal«.

Hungersnöte, Streiks oder Aufstände drohen
Die Jugendoffiziere sind die einflußreichen Spielleiter. Sie können Streiks, Aufstände und Guerillas ins Spiel bringen und bewerten die Programme der einzelnen Akteure nach Gutdünken, sprich: aus Militärsicht. Damit beeinflussen sie den Lerneffekt entscheidend - nach ihren Interessen und ihrer Ethik. Zu Beginn wurden unsere wirtschaftlichen und militärischen Grundlagen berechnet. Wir mußten »politische Programme« für unsere jeweiligen Länder erstellen und Reden vor der UN-Versammlung vortragen. Die Wirtschaftsminister handelten parallel mit Gütern, um den jeweiligen Bedarf sicherzustellen. Das ging nicht für alle Länder gut aus. Der Jugendoffizier meinte dazu: »Generell haben wir in der Polis-Welt keine Versorgungsprobleme, sondern ein Verteilungsproblem, wie in der wirklichen Welt auch.« Die strukturelle Ungerechtigkeit ist zwar teilweise erkennbar, aber sie kann in diesem System nicht überwunden werden. »Wir können nur an der Oberfläche kratzen, mehr geht leider nicht«, hieß es. Teilweise drohten auch Hungersnöte und damit Aufstände oder Streiks, die von den Spielleitern initiiert wurden. »Soziale Bewegungen«, die es direkt nicht gibt, erscheinen wie ein schädliches Ereignis, nicht wie eine Chance auf Umverteilung oder demokratische Teilhabe von unten. Erstes Zwischenfazit: Polis versucht die Realität abzubilden, und dazu gehört, daß sie nicht grundsätzlich geändert werden kann. Einige Ländervertreter rüsteten auf - quantitative Abrüstung bei qualitativer Aufrüstung inklusive mehr Entwicklungshilfe galt als gutes Sicherheitskonzept. Wer in dem Spiel abrüstete, mußte mit wirtschaftlichen Nachteilen klarkommen. Viele schlössen Handels- und Friedensverträge, manche versuchten auch Druck auf andere Länder auszuüben, um ihre Ziele zu erreichen. Zweites Zwischenfazit: Versuche, andere als bisher bekannte Wege zur Lösung politischer Krisen oder zur Gestaltung der Welt zu gehen, sind unrealistisch. Wer darauf setzt, hat Nachteile.

Der Schwerpunkt des Bundeswehr-Spiels liegt auf Wirtschaftsfragen, nicht auf Militäreinsätzen. Es zeigt ausführlich wirtschaftliche Zusammenhänge und Abhängigkeiten auf - allerdings in einem festen Weltgefüge mit einem eher herrschaftsorientierten Menschenbild. Die Bevölkerung kommt nicht vor, nur Politiker. Auch das Parlament spielt in demokratischen Staaten der Polis-Welt keine Rolle - da gebe es nur Repräsentanten, so die Antwort auf unsere verwunderte Nachfrage. So kann Europa inklusive Deutschland in der Polis-Welt ohne Parlament Kriegseinsätze starten.

Die drei beteiligten Jugendoffiziere halfen den Spielern geduldig bei ihren Berechnungen und Maßnahmen. Sie sind »Freund und Helfer« im simulierten Weltgeschehen. Eine dankbare Rolle. Allein ihre Präsenz als Spielleiter sorgt bereits dafür, daß Militär selbstverständlich und unentbehrlich ist. »Militär ist ein politisches Mittel, das leider hier und da in der Welt eingesetzt werden muß«, so die klare Ansage an die friedensbewegte Polis-Versammlung.

Viele Waffen im Polis-Werkzeugkasten
Überraschend war, daß das Spiel nicht hauptsächlich und direkt Militärinterventionen zeigt oder propagiert, sondern diese als selbstverständlichen und manchmal notwendigen Bestandteil der Polis-Welt darstellt. Der Polis-Werkzeugkasten bietet verschiedene Waffen nebeneinander an: Diplomaten, Entwicklungshelfer, Handelsverträge, Streitkräfte sowie atomare oder chemische Waffen. Das Spiel ist hochkomplex und in seiner Weltsicht trotzdem verkürzt. Polis ist nicht grundsätzlich anders als andere Strategiespiele, der Werbeeffekt für die Notwendigkeit von Waffen läuft eher subtil und indirekt. Für Schüler schwer zu durchschauen. Ein entscheidender Effekt hat mit der »positiven« Rolle der Jugendoffiziere in diesem Spiel zu tun. Zudem müssen sich die Jugendlichen in diesem Spiel in die Weltenlenker hineinversetzen, haben damit das Gefühl, die Richtung selbst zu gestalten und zu entscheiden. Sie lernen Zwänge der Herrschenden und Folgen kennen, mit denen »unsere Staatenlenker« alltäglich zu tun haben. Tatsächliche politische Machtverhältnisse und Lobbygruppen - beispielsweise Korruption oder von Konzernen und Eigeninteressen gesteuerte Politik - werden in Polis weder thematisiert noch in Frage gestellt. Der Einfluß der Konzerne auf Politik, Waffenhandel, Landnahme oder Meinungsbildung wird einfach ausgeblendet. Die Funktion des Militärs wird so nebenbei als selbstverständlich dargestellt - der militärische Einsatz für wirtschaftliche Interessen damit normalisiert. Eine geschickte Militarisierung des Zivilen.

Das alles ist Informationen Nr. 135  von Ohne Rüstung Leben, Arndtstraße 31, 70197 Stuttgart entnommen.

Michael Schulze von Glaßer, »An der Heimatfront - Öffentlichkeitsarbeit und Nachwuchswerbung der Bundeswehr«, Papy-Rossa Verlag, 2010. Ich biete das Buch im Buchshop an.
 
     
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